Drucksache 17 / 10 647 Kleine Anfrage 17. Wahlperiode Kleine Anfrage der Abgeordneten Anja Kofbinger (GRÜNE) vom 20. Juni 2012 (Eingang beim Abgeordnetenhaus am 25. Juni 2012) und Antwort Sexualisierte Gewalt II Die Drucksachen des Abgeordnetenhauses sind bei der Kulturbuch-Verlag GmbH zu beziehen. Hausanschrift: Sprosserweg 3, 12351 Berlin-Buckow · Postanschrift: Postfach 47 04 49, 12313 Berlin, Telefon: 6 61 84 84; Telefax: 6 61 78 28. Im Namen des Senats von Berlin beantworte ich Ihre Kleine Anfrage wie folgt: 1. Wie ist der gerichtliche Opferschutz für Opfer von sexualisierter Gewalt organisiert? Zu 1.: Der Senat hat sich schon früh für eine kompetente Betreuung für Zeuginnen und Zeugen in Gerichtsverfahren eingesetzt. So wird der gerichtliche Opferschutz durch die Zeugenbetreuungsstelle „Opferhilfe Berlin e. V.“ im Kriminalgericht Moabit gewährleistet . Hier werden Opfer von sexualisierter Gewalt wie auch andere Opfer im Amtsgericht Tiergarten und Landgericht Berlin betreut und begleitet. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der „Opferhilfe Berlin e. V.“ a) führen persönliche Gespräche mit den zu betreuenden oder beratenden Personen, und zwar vor der Verhandlung, am Verhandlungstag und bei Bedarf nach der Verhandlung b) geben ihnen Informationen über den Ablauf eines Gerichtsverfahrens, die Funktionen der Prozessbeteiligten und klären über die Rechte und Pflichten von Zeuginnen und Zeugen auf c) bereiten Art und Umfang der Zeugenbetreuung in Kooperation mit Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälten und/oder Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern von psychosozialen Einrichtungen vor d) bieten den Betroffenen vorausgehende Besichtigungen des Verhandlungssaales an e) begleiten zum Gerichtssaal und nach Möglichkeit während der Verhandlung f) bieten einen geschützten Ort zur Überbrückung von Wartezeiten, insbesondere wenn die Begegnung mit der Täterin oder dem Täter, mit Angehörigen oder anderen Zeuginnen und Zeugen vor der Verhandlung vermieden werden soll g) vermitteln an die Wachtmeisterei der Gerichte zur Begleitung in oder aus dem Verhandlungssaal und aus dem Gerichtsgebäude und h) informieren über weitergehende Beratungs- und Unterstützungsangebote außerhalb der Justiz. Gegenwärtig ist die Zeugenbetreuungsstelle mit zwei festen Stellen à 31 Wochenstunden ausgestattet. Dort sind ein Sozialarbeiter und eine Erziehungswissenschaftlerin mit dem Abschluss Diplom-Pädagogin und sozialpädagogische Prozessbegleiterin tätig. Darüber hinaus erfolgt eine Unterstützung durch Honorarkräfte im Vertretungsfall . Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter verfügen über Berufserfahrung in für die Zeuginnen- bzw. Zeugenbetreuung relevanten Arbeitsfeldern und über längerfristige Weiterbildungen bzw. Zusatzqualifikationen in den Bereichen Opferhilfe, Traumatologie, Beratung und Prozessbegleitung. Sie sind unter anderem Mitglieder in der Berliner Fachrunde gegen sexuellen Missbrauch an Mädchen und Jungen. Darüber hinaus bieten „Wildwasser e.V.“ und „Kind im Zentrum (KiZ)“ spezielle Zeugen- und Zeuginnenbegleitprogramme für kindliche und jugendliche Opfer an, die das Angebot der Zeugenbetreuung sinnvoll ergänzen. 2. Wie ist er finanziell ausgestattet? Zu 2.: Der Senat kofinanziert über Zuwendungen an die „Opferhilfe Berlin e. V.“ deren Zeugenbetreuungsstelle im Kriminalgericht Moabit. Die Höhe der Zuwendung für die Zeugenbetreuungsstelle beträgt derzeit 79.430 Euro. Im Übrigen wird die „Opferhilfe Berlin e. V.“ im Sinne einer Erwirtschaftung von Eigenmitteln finanziert. Dies sind Geldbußen und Auflagen gemäß § 153a der Strafprozessordnung (StPO) sowie in geringem Maße Spenden. Im Jahr 2011 wurden auf diese Weise insgesamt 16.820 Euro erwirtschaftet. 3. Wenn Sprachmittlerinnen oder Sprachmittler be- nötigt werden (bei Gerichtsverfahren, Anzeigen, etc.), sind diese geschult, um mit Opfern sexualisierter Gewalt angemessen umzugehen? Zu 3.: Spezielle Schulungen sind bislang nicht durch- geführt worden. Die auf Seiten der Opfer Beteiligten sind jedoch darauf bedacht, auf eine Auswahl von Dolmetscherinnen und Dolmetschern hinzuwirken, die über besondere Erfahrung im Zusammenhang mit Ermittlungs- und Strafverfahren wegen sexualisierter Abgeordnetenhaus Berlin – 17. Wahlperiode Drucksache 17 / 10 647 2 Gewalt verfügen. In relevanten Fällen erfolgt daher eine entsprechende Anforderung von geeigneten Fachkräften über den Gemeindedolmetschdienst. Bei der Berliner Polizei beispielsweise liegen keine Erfahrungen bezüglich etwaiger Fachkenntnisse von Dolmetscherinnen und Dolmetschern im Umgang mit Opfern sexualisierter Gewalt vor. Sollte aufgrund von sprachlichen Verständigungsproblemen eine Dolmetscherin oder ein Dolmetscher erforderlich sein, so wird selbstverständlich versucht, einen zum Opfer gleichgeschlechtlichen Dolmetscher heranzuziehen. Die Auswahl einer Dolmetscherin bzw. eines Dolmetschers erfolgt über die - vom Stab des Landeskriminalamtes (LKA) ständig aktualisierte - Liste der allgemein beeidigten sowie zuverlässigkeitsüberprüften Dolmetscherinnen und Dolmetscher der Polizei Berlin. 4. Gibt es eine Struktur, die gewährleistet, dass Opfer sexualisierter Gewalt schnell und unbürokratisch an Organisationen der Opferhilfe zu jeder Tageszeit weitergeleitet werden können? 5. Ist der Senat der Auffassung, dass die Opferhilfen über ausreichende Finanzmittel verfügen, um alle Betroffenen von sexualisierter Gewalt angemessen betreuen zu können? Zu 4. und 5.: Die Prävention und Bekämpfung von sexualisierter Gewalt in Berlin ist bereits seit Langem ein zentraler Arbeitsschwerpunkt des Senats. Wie alle Opfer von Straftaten, so erhalten insbesondere auch Opfer von sexueller Gewalt bereits im Vorfeld des Strafverfahrens Hilfestellungen und Informationen über Unterstützungsmöglichkeiten . Die Polizei kommt im Rahmen der opferorientierten Arbeit ihrer Verpflichtung gemäß § 406 h Absatz 1 StPO zur Information von Verletzten über Unterstützung und Hilfe durch Opferhilfeeinrichtungen regelmäßig bereits bei der Entgegennahme von Strafanzeigen und im weiteren Ermittlungsverfahren unter anderem durch Aushändigung des Polizeivordrucks 917 „Mitteilung zum Geschäftszeichen/Merkblatt Opferschutzgesetz “ (Opferschutzmerkblatt mit ersten Informationen über Rechte im Strafverfahren und über Einrichtungen zur Gewährung professioneller Hilfe) nach. Die Polizeidienstkräfte händigen ihnen vorhandenes Informationsmaterial der jeweiligen Einrichtungen aus und gewährleisten eine schnelle Vermittlung. Informationen werden ebenfalls durch die in den Polizeidirektionen zuständigen Opferschutzbeauftragten erteilt, die im Einzelfall die gezielte Unterstützung, Stabilisierung und schnelle Vermittlung an professionelle Einrichtungen und Behörden gewährleisten. Darüber hinaus wird eine Ansprechpartnerin bzw. ein Ansprechpartner für Opferschutzfragen bei der Polizei Berlin benannt . Im Übrigen wird auf die Antwort zu Frage 7 verwiesen . Zur Unterstützung und Beratung von Frauen, die von sexueller Gewalt betroffen sind, werden aus Mitteln der Senatsverwaltung für Arbeit, Integration und Frauen insgesamt drei Projekte gefördert: a) Für das Krisen- und Beratungszentrum für vergewaltigte und sexuelle belästigte Frauen „LARA“ stehen Mittel in Höhe von 277.263 Euro zur Verfügung. Ab Januar 2013 wird die Arbeit bei „LARA“ mit einer zusätzlichen Personalstelle verstärkt. b) Bei dem Träger „Wildwasser e. V.“ werden für die Selbsthilfe und Beratung für Frauen, die sexuelle Gewalt als Mädchen erfahren haben, jährlich Mittel in Höhe von 144.500 Euro bereitgestellt. c) Das Frauenkrisentelefon, das insbesondere auch Opfer sexualisierter Gewalt berät, wird jährlich mit 82.200 Euro finanziert Zudem fördert der Senat aus Mitteln des Integrierten Gesundheitsprogramms (IGP) den Verein „Tauwetter e. V.“ mit seiner Selbsthilfearbeit im Umfang von jährlich ca. 6.800 Euro. „Tauwetter e. V.“ bietet Einzelgespräche und angeleitete Selbsthilfegruppen für Männer an, die als Jungen Opfer sexualisierter Gewalt geworden sind. Ab 2013 ist vorgesehen, die Informations- und Beratungsstelle von „Tauwetter e. V.“, die derzeit rein ehrenamtlich betrieben wird, mit jährlich ca. 133.000 Euro zu fördern. Darüber hinaus ist der Themenkomplex der sexualisierten Gewalt bei einigen Projekten im jeweiligen Kontext konzeptionell verankert, z. B. im Bereich Frauengesundheit, Essstörungen, psychische Beeinträchtigungen - auch im Zusammenhang mit Gewalterfahrungen , sexualpädagogische Beratung oder Familienplanung . Darüber hinaus fördert der Senat mit der Koordinierungs- und Interventionsstelle des Vereins S. I. G. N. A. L. e. V. ein Projekt, dass sich explizit für die Sensibilisierung zum Thema gesundheitliche Folgen häuslicher und sexueller Gewalt sowie Implementierung des Interventionsprogramms des Vereins in der Berliner Gesundheitsversorgung, der Rechtsmedizin und dem sozialen Hilfesystem und damit für die Schaffung nachhaltiger Strukturen einsetzt. Eine Anlaufstelle für Betroffene ist die Koordinierungs- und Interventionsstelle allerdings nicht. Der Aspekt der Gewalterfahrung hat auch eine Relevanz bei den Projekten des Verbundsystems Drogen und Sucht, jedoch liegt der Fokus auf der jeweiligen Suchtproblematik. Ein finanzieller Anteil ist insoweit nicht zu ermitteln. Im Rahmen des auf der 70. Sitzung der Landes- kommission Berlin gegen Gewalt am 18. Juni 2012 beschlossenen ressort- und institutionsübergreifenden „Berliner Netzwerk gegen sexuelle Gewalt“ soll unter anderem dafür Sorge getragen werden, dass die vorhandenen und noch zu identifizierenden Hilfs- und Unterstützungsangebote niedrigschwellig und barrierefrei erreicht werden können. Das Netzwerk hat bereits im Juli 2012 seine Arbeit aufgenommen. Es wird angestrebt, zeitnah einen integrierten Maßnahmeplan zum Themenbereich sexueller Gewalt zu entwickeln, der dem Senat zur Entscheidung vorgelegt werden soll. Damit stellt der Senat ein professionelles und gutes Unterstützungsangebot für die Betroffenen von sexualisierter Gewalt bereit. Gleichwohl wäre nach Auffassung des Senats ein höherer Personalschlüssel in der Zeugenbetreuung grundsätzlich zu begrüßen, um gewährleisten zu können, dass Opfer nicht nur die geschützten Abgeordnetenhaus Berlin – 17. Wahlperiode Drucksache 17 / 10 647 3 Räumlichkeiten der Zeugenbetreuung nutzen, beraten und zum Gerichtssaal begleitet werden können, sondern dass Opfer überdies auch verbindlich in die Verhandlung hinein begleitet werden können. 6. Ist durch die Berliner Hilfestruktur sichergestellt, dass Opfer sexualisierter Gewalt von der Anzeige bis zur eventuellen Verhandlung und darüber hinaus angemessen betreut werden? Zu 6.: Das Krisen- und Beratungszentrum „LARA“ bietet seit 1994 Hilfen für Frauen nach einer Vergewaltigung , nach sexuellen An- oder Übergriffen und sexueller Belästigung, unabhängig davon, wie lange die Gewalttat zurückliegt. Das Angebot umfasst die Erstberatung und Krisenintervention an Werktagen in der Zeit von 9 bis 18 Uhr. Danach wird das Telefon auf den Berliner Krisendienst umgestellt, so dass auch nach 18 Uhr eine Erstberatung und Weitervermittlung gewährleistet ist. Neben den betroffene Frauen werden auch Angehörige , Bezugspersonen und professionell Helfende beraten. „LARA“ kooperiert mit niedergelassenen Rechtsanwältinnen, vermittelt bei Bedarf an andere Einrichtungen und bietet neben einer Kurztherapie auch Unterstützung bei der Suche nach einem geeigneten Therapieplatz. Für Migrantinnen steht eine Sprachmittlung zur Verfügung. Das Angebot kann anonym genutzt werden. Einen besonderen Arbeitsschwerpunkt bildet die Information und Begleitung der Opfer bei einer polizeilichen Anzeige und einem evtl. folgenden Gerichtsverfahren . „LARA“ ist mit diesem Angebot für Berlin eine niedrigschwellige und zentrale Anlaufstelle für Frauen, die von sexueller Gewalt betroffen sind. Die Opferhilfe Berlin begleitet Opfer sexualisierter Gewalt in unterschiedlichen Settings; wenn möglich bereits kurz nach Tat und zeitlich unbefristet, bei Bedarf auch Jahre später. Aufgrund des derzeitigen Personalschlüssels sind allerdings verschiedenste Hilfestellungen, wie etwa Hausbesuche, Begleitung zu Ämtern und andere Hilfestellungen nur eingeschränkt leistbar. 7. Gibt es in den Krankenhäusern zu jeder Tageszeit Personal, das geschult ist, Opfer von sexualisierter Gewalt zu erkennen und angemessen zu reagieren, auch wenn keine entsprechende Anzeige vorliegt? Zu 7.: Ja, in den Rettungsstellen der Charité - Uni- versitätsmedizin Berlin gibt es durchgehend Personal, das entsprechend geschult ist. 8. Welche finanziellen Mittel stehen den Krankenhäusern in Berlin für diesen Aufgabenbereich zur Verfügung ? Zu 8.: Sofern vom Opfer Anzeige erstattet wird, erfolgt eine pauschale gesonderte Vergütung des Kriseninterventionsteams für die Beweissicherung durch das Landeskriminalamt. Wird keine Anzeige erstattet, wird die nichtsdestotrotz erfolgende Beweissicherung nicht gesondert vergütet. Eine Erstattung der hohen Personal- bindung durch die betreuenden Teams erfolgt jeweils leider nicht. 9. Wie kooperieren Polizei und Krankenhäuser beim Thema „sexualisierte Gewalt“ derzeit? Zu 9.: Die seitens der Charité als sehr gut ein- geschätzte Kooperation erfolgt in der Regel, indem die Polizei die Opfer in der Rettungsstelle vorstellt, in denen die fachliche Versorgung und Betreuung erfolgt. Neben der Akutversorgung erfolgt unter Beteiligung von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Rettungsstellen und des Instituts für Rechtsmedizin der regelmäßige Austausch zur Verbesserung der Versorgung von Opfern, beispielsweise durch Optimierung rechtssicherer Dokumentation der Befunde. Weitere Informationen zu Interventionsprogrammen der Rettungsstellen der Charité sind unter http://www.charite.de/klinikum/erste_hilfe/signal/ abrufbar. 10. Wann werden die im Koalitionsvertrag ver- sprochenen Opferambulanzen eingerichtet und ab wann werden sie voraussichtlich ihre Arbeit aufnehmen? Zu 10.: Am 1. Januar 2012 haben im Rahmen eines zweijährigen Modellprojekts zwei psychiatrische TraumaAmbulanzen für Gewaltopfer und deren Angehörige im Rahmen der Durchführung des Opferentschädigungsgesetzes , in denen auch Opfer sexualisierter Gewalt Hilfe finden können, ihre Arbeit aufgenommen. Es handelt sich hierbei zum einen um die Trauma-Ambulanz für Erwachsene als Gewaltopfer an der Psychiatrischen Universitätsklinik im St. Hedwig-Krankenhaus und zum anderen um die Trauma-Ambulanz für Kinder und Jugendliche als Gewaltopfer im Sozialpädiatrischen Zentrum der Charité. Berlin, den 18. Juli 2012 In Vertretung Emine D e m i r b ü k e n - W e g n e r _____________________________ Senatsverwaltung für Gesundheit und Soziales (Eingang beim Abgeordnetenhaus am 24. Juli 2012)