Drucksache 17 / 10 670 Kleine Anfrage 17. Wahlperiode Kleine Anfrage des Abgeordneten Martin Delius (PIRATEN) vom 21. Juni 2012 (Eingang beim Abgeordnetenhaus am 27. Juni 2012) und Antwort Befreiung vom Unterricht und von der Schulpflicht – Zahlen, Maßnahmen und Vereinbarungen Die Drucksachen des Abgeordnetenhauses sind bei der Kulturbuch-Verlag GmbH zu beziehen. Hausanschrift: Sprosserweg 3, 12351 Berlin-Buckow · Postanschrift: Postfach 47 04 49, 12313 Berlin, Telefon: 6 61 84 84; Telefax: 6 61 78 28. Im Namen des Senats von Berlin beantworte ich Ihre Kleine Anfrage wie folgt: 1. Wie viele Schülerinnen und Schüler wurden in den letzen zehn Schuljahren gemäß § 41 Abs. 3, Satz 3 SchulG von der Schulpflicht aus „wichtigen Gründen“ befreit? Bitte nach Schuljahren auflisten. Welche „wichtigen Gründe“ lagen für die Befreiungen vor? Zu 1.: Weder die Anzahl der Befreiungen noch die Gründe, die zu einer Befreiung von der Schulbesuchspflicht gemäß dem am 1. Februar 2004 in Kraft getretenen § 41 Abs. 3 Schulgesetz geführt haben, werden zentral erfasst. Ausschließlich über Befreiungen von der Schulbe- suchspflicht zum Zwecke des Besuchs der König Fahad Akademie, einer privaten Ergänzungsschule nach § 102 Schulgesetz, liegen zentral erfasste Daten vor. Der für die Befreiung erforderliche „besondere Grund“ wird insbesondere dann angenommen, wenn glaubhaft gemacht wird, dass die Schülerin oder der Schüler sich nur vorübergehend in der Bundesrepublik Deutschland aufhält und innerhalb eines Zeitraums von in der Regel höchstens zwei Jahren in das der Schule zugrunde liegende Bildungssystem überwechseln wird. Seit Anfang 2005 wurden insgesamt 70 Anträge auf Befreiung von der Schulbesuchspflicht gestellt, dazu kamen sog. Verlängerungsanträge (ca. 20) sowie Anträge für Geschwisterkinder (ca. 25). Es wurden in diesem Zeitraum 13 Ablehnungen ausgesprochen, da der "besondere Grund" nicht belegt werden konnte. 2. Wie viele familiengerichtliche Maßnahmen wurden im letzten Schuljahr 2011/2012 und im Schuljahr 2010/2011 aufgrund des § 1666, Abs. 3 Satz 2 BGB (Kindeswohlgefährdung durch die Verletzung der Gebote, für die Einhaltung der Schulpflicht zu sorgen) im Land Berlin eingeleitet? Wie viele Sorgerechtsentzüge wurden in diesem Zusammenhang jeweils im Land Berlin eingeleitet? Zu 2.: Die Frage betrifft Sachverhalte, die der Senat nicht aus eigener Zuständigkeit und Kenntnis beantworten kann. Die für diese Frage zuständigen Familiengerichte haben mitgeteilt, dass die Anzahl der familiengerichtlichen Maßnahmen nach § 1666 Abs. 3 Nummer 2 Bürgerliches Gesetzbuch (Gebote, für die Einhaltung der Schulpflicht zu sorgen) und die Zahl der in diesem Zusammenhang eingeleiteten Sorgerechtsentzüge statistisch nicht gesondert erfasst werden; auch eine seriöse Schätzung der Anzahl der entsprechenden Verfahren sei nicht möglich. Eine hierzu erforderliche Auswertung in den bezirklichen Jugendämtern ist in dem für eine Kleine Anfrage zur Verfügung stehenden Zeitrahmen nicht möglich. 3. Wie viele Schülerinnen und Schüler wurden in den letzten zehn Schuljahren gemäß § 45 Abs. 1 SchulG der Schule durch „unmittelbaren Zwang“ zugeführt? Welche Zwangsmaßnahmen werden durch welche Landesbehörde bei der Durchsetzung der Schulpflicht durch unmittelbaren Zwang angewendet? Zu 3.: Nach § 109 Abs. 2 Schulgesetz überwachen die Bezirke die Einhaltung der allgemeinen Schulpflicht in Zusammenarbeit mit den Schulen und der Schulaufsichtsbehörde . Die Bezirke („zuständige Schulbehörde“) entscheiden auch gemäß § 45 Abs. 1 Schulgesetz im Benehmen mit der Schulleiterin oder dem Schulleiter bei Schulpflichtverstößen über die Zuführung einer Schülerin oder eines Schülers durch unmittelbaren Zwang. Auf Nachfrage haben die bezirklichen Schulämter mitgeteilt, dass in den letzten zehn Schuljahren insgesamt 529 Schülerinnen und Schüler mit unmittelbarem Zwang der Schule zugeführt wurden. Zwischen den Bezirken differiert dabei die Anzahl von keiner Zuführung (Bezirke Charlottenburg-Wilmersdorf, Friedrichshain-Kreuzberg und Tempelhof-Schöneberg) bis hin zu 225 zugeführten Schülerinnen und Schülern (Bezirk Neukölln). Abgeordnetenhaus Berlin – 17. Wahlperiode Drucksache 17 / 10 670 Die Zuführung von Schülerinnen und Schülern mittels unmittelbaren Zwanges erfolgt in Vollzugshilfe durch die Polizei (vgl. § 52 Abs. 1 Allgemeines Sicherheits- und Ordnungsgesetz - ASOG). Die Zulässigkeit des unmittelbaren Zwanges und dessen Anwendung richtet sich nach den §§ 6ff. Verwaltungs-Vollstreckungsgesetz in Verbindung mit § 5a des Gesetzes über das Verfahren der Berliner Verwaltung und nach den Bestimmungen des Gesetzes über die Anwendung unmittelbaren Zwangs bei der Ausübung öffentlicher Gewalt durch Vollzugsbeamte des Landes Berlin. 4. Gemäß § 46 Abs. 5 können Schülerinnen und Schüler im Land Berlin aus wichtigen Gründen auf Antrag vom Unterricht beurlaubt oder von der Teilnahme an einzelnen Unterrichts- oder Schulveranstaltungen befreit werden. Welche wichtigen Gründe waren hier in den letzten zehn Schuljahren maßgeblich? Wie viele Befreiungen wurden in den letzten zwei Schuljahren genehmigt? Zu 4.: Schülerinnen und Schüler können nach § 46 Abs. 5 Satz 1 Schulgesetz aus wichtigem Grund auf Antrag vom Unterricht beurlaubt oder von der Teilnahme an einzelnen Unterrichts- oder Schulveranstaltungen befreit werden. Die entsprechenden Anträge sind gemäß Nummer 4 Absatz 1 der „Ausführungsvorschriften über Beurlaubung und Befreiung vom Unterricht (AV Schulpflicht)“ stets bei der jeweiligen Schule zu stellen. Die Entscheidung liegt je nach Sachverhalt bei der klassenleitenden bzw. sonst in Nummer 4 Abs. 2 Satz 1 und Nummer 6 Abs. 3 Satz 1 AV Schulpflicht genannten Lehrkraft oder der Schulleitung (vgl. Nummer 4 Abs. 2, Nummer 5 Abs. 3 und Nummer 6 Abs. 3 AV Schulpflicht). Weder die Anzahl der Beurlaubungen und Befrei- ungen noch die Gründe, die im konkreten Fall einer Beurlaubung oder einer Befreiung vom Unterricht zugrunde lagen, werden zentral erfasst. Eine Abfrage in den Schulen ist im Rahmen der für die Beantwortung einer Kleinen Anfrage zur Verfügung stehenden Zeit nicht möglich. Ein „wichtiger Grund“ im Sinne des § 46 Abs. 5 Satz 1 Schulgesetz kann angenommen werden, wenn gemäß Nummer 1 Abs. 1 Satz 2 AV Schulpflicht beispielsweise persönliche Gründe (unverschiebbarer Arztbesuch), familiäre Gründe (Eheschließung, Todesfall im engsten Familienkreis), die Teilnahme an Vorstellungsgesprächen in Vorbereitung auf die nachfolgende Ausbildung oder gemäß Nummer 2 AV Schulpflicht religiöse Gründe geltend gemacht werden. Auch wenn im Einzelfall ein „wichtiger Grund“ vorliegt, steht eine konkrete Beurlaubung oder Befreiung grundsätzlich im pflichtgemäßen Ermessen der Schule („können“). 5. Laut der AV Schulpflicht vom 3.12.2008, zuletzt geändert am 28.12.2011, Abs. 6 Satz 1 ist es möglich, sich an Berliner Schulen gänzlich vom Sportunterricht zu befreien. Hierfür müssen „zwingende gesundheitliche Gründe“ vorliegen Was ist unter dem Begriff „zwingend“ konkret zu verstehen? Gehören hierzu auch psychische Beeinträchtigungen? Zu 5.: Der Sportunterricht ist ein wesentlicher Be- standteil der Bildungs- und Erziehungsarbeit in den Berliner Schulen. Die in § 3 Abs. 2 Nr. 7 und Absatz 3 Nr. 7 Schulgesetz genannten Bildungs- und Erziehungsziele , z.B. die Freude an der Bewegung, das gemeinsame kontinuierliche Sporttreiben sowie Fairness, Toleranz, Teamgeist und Leistungsbereitschaft, werden in besonderer Weise durch das Fach Sport gefördert. Vor diesem Hintergrund kann vom Sport- und Schwimmunterricht nur ausnahmsweise gemäß Nummer 6 Abs. 1 Satz 1 AV Schulpflicht aus zwingenden gesundheitlichen Gründen oder bei einer Behinderung ganz oder teilweise befreit werden. Der Begriff „zwingend“ ist ein unbestimmter Rechts- begriff, der weder im Schulgesetz noch in der AV Schulpflicht allgemein definiert ist. „Zwingend“ können nur solche gesundheitlichen Beeinträchtigungen der Schülerin oder des Schülers sein, die mit Blick auf ihre oder seine Gesundheit eine ganze oder teilweise Teilnahme am Sport- oder Schwimmunterricht nicht verantwortbar erscheinen lässt. In der Regel ist der Schule für die Beurteilung eines entsprechenden Einzelfalls ein sportärztliches oder schulärztliches Gutachten vorzulegen (vgl. Nummer 6 Abs. 3 AV Schulpflicht). Auch psychische Beeinträchtigungen können eine ganze oder teilweise Befreiung vom Sport- oder Schwimmunterricht rechtfertigen, beispielsweise bei einer oder einem durch einen Sport- oder Schwimmunfall traumatisierten Schülerin oder traumatisierten Schüler. Dies lässt sich endgültig nur anhand des konkreten Einzelfalls ggf. unter Hinzuziehung ärztlicher oder (schul)psychologischer Gutachten beurteilen. 6. Sind dem Senat Vereinbarungen zwischen Berliner Schulen und Eltern bekannt, die es Eltern ermöglichen, ihrer Kinder unter Aufsicht der Schule zu, kurzfristig zuhause zu unterrichten und auf Maßnahmen zur Durchsetzung der Schulpflicht zu verzichten? Sind dem Senat entsprechende Vereinbarungen bekannt, in denen das Jugendamt involviert ist? Zu 6.: Nein. Berlin, den 06. August 2012 In Vertretung Mark Rackles Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Wissenschaft (Eingang beim Abgeordnetenhaus am 15. August 2012) 2