Drucksache 17 / 10 857 Kleine Anfrage 17. Wahlperiode Kleine Anfrage des Abgeordneten Özcan Mutlu (GRÜNE) vom 20. August 2012 (Eingang beim Abgeordnetenhaus am 21. August 2012) und Antwort Wie hat sich die „Früheinschulung“ mit 5,5 Jahren bewährt? Die Drucksachen des Abgeordnetenhauses sind bei der Kulturbuch-Verlag GmbH zu beziehen. Hausanschrift: Sprosserweg 3, 12351 Berlin-Buckow · Postanschrift: Postfach 47 04 49, 12313 Berlin, Telefon: 6 61 84 84; Telefax: 6 61 78 28. Im Namen des Senats von Berlin beantworte ich Ihre Kleine Anfrage wie folgt: 1. Wie hat sich die Änderung des Stichtags für die Einschulung der Kinder mit 5,5 Jahren bewährt und wie bewertet der Senat diese Maßnahme, nach dem mehrere Jahre Erfahrung damit gesammelt wurden? Zu 1.: Die Einschulung auch von jüngeren Kindern hat sich in der Berliner Grundschule positiv ausgewirkt. Bei vielen jüngeren Schülerinnen und Schülern zeigt sich, dass sie sehr gut in der flexiblen Schulanfangsphase mit ihrem differenzierten Lernangebot angekommen sind. Besonders die große Flexibilisierung der Einschulungsregelung und die Struktur der flexiblen Schulanfangsphase ermöglichen es, die spezifischen individuellen Lernvoraussetzungen der Schulanfängerinnen und Schulanfänger zu berücksichtigen. Abweichend von der Regeleinschulung können schulpflichtige Kinder um ein Jahr zurückgestellt werden, wenn der Entwicklungsstand des Kindes eine bessere Förderung in einer Einrichtung der Jugendhilfe erwarten lässt. Auf Antrag der Eltern, die die Kompetenzen ihres Kindes gut einschätzen können, können diese Kinder zurückgestellt werden. Dieser Antrag wird durch eine Stellungnahme der zuletzt besuchten Einrichtung der Jugendhilfe oder Kindertagespflegestelle und durch die gutachterliche Stellungnahme der zuständigen Schulärztin bzw. des zuständigen Schularztes oder des schulpsychologischen Dienstes ergänzt. Durch das aussagekräftige Verfahren kann die individuelle Situation des Kindes sehr spezifisch betrachtet und bewertet werden . 2. Wurde diese Maßnahme in irgendeiner Weise evaluiert oder wissenschaftlich begleitet? a.) Wenn ja, wie sehen die Ergebnisse aus? b.) Wenn nein, warum nicht und plant der Senat eine wissenschaftliche Evaluation der Früheinschulung 3. Hat der Senat Erkenntnisse darüber, wie sich die Änderung des Stichtags, mit der Folge der Schulein- schulung mit 5,5 Jahren, auf die Schüler/-innen ausgewirkt hat? Zu 2. und 3.: Eine Evaluation dieser Veränderung wurde nicht durchgeführt. Die spezifischen Gelingensbedingungen für einen erfolgreichen Lernerfolg in der Schule wurden in zahlreichen empirischen Untersuchungen bereits untersucht. Als wesentlich notwendige Bedingung für ein erfolgreiches Lernen kann in diesem Zusammenhang die Unterrichtsqualität, die Lernvoraussetzungen , die das Kind bereits mit in die Schule bringt und das subjektiv empfundene Lernklima genannt werden . Das Einschulungsalter spielt nur eine untergeordnete Rolle. 4. Wie viele Schüler/-innen, die aufgrund der neuen Regelung bereits mit 5,5 Jahren eingeschult wurden, mussten ein weiteres Jahr länger in der Schulanfangsphase verweilen? 5. Wie viele der Schüler/-innen, die aufgrund der neuen Regelung bereits mit 5,5 Jahren eingeschult wurden, mussten ab der Klassenstufe 3, die Klasse wiederholen? 6. Wie viele der Schüler/-innen, die aufgrund der neuen Regelung bereits mit 5,5 Jahren eingeschult wurden, haben eine Gymnasialempfehlung bekommen und wie viele von Ihnen eine Empfehlung zum Besuch der Sekundarschule? Zu 4., 5. und 6.: Auswertungen dieser Kombinationen von Schülermerkmalen, wie Geburtsmonat mit Empfehlung zum Übergang in die Sekundarstufe I, Verweilen in der Schulanfangsphase oder Wiederholungen, liegen in der Berliner Schülerstatistik nicht vor. 7. Hat der Senat Kenntnis darüber, wie die Schüler/- innen die aufgrund der neuen Regelung bereits mit 5,5 Jahren eingeschult wurden, bei VERA-3 abgeschnitten haben? Abgeordnetenhaus Berlin – 17. Wahlperiode Drucksache 17 / 10 857 Zu 7.: Der Schülerjahrgang mit geänderten Einschu- lungsbestimmungen nahm im Schuljahr 2007/2008 an den Vergleichsarbeiten in der Jahrgangsstufe 3 (VERA 3) teil. Der Datensatz erlaubt einen Vergleich von Leistungen derjenigen Schülerinnen und Schüler, die nach den bisherigen bzw. nach den Regelungen seit Schuljahr 2005/2006 eingeschult wurden. Werden die mittleren Leistungen der beiden Alterskohorten in den fünf Testteilen (Deutsch: Leseverständnis und Sprachgebrauch, Mathematik: Zahlen und Operationen , Muster und Strukturen sowie Raum und Form) betrachtet, lassen sich keine größeren Leistungsunterschiede finden. Die Differenzen in den Leistungen zwischen den Schülerinnen und Schülern, die nach der alten bzw. neuen Stichtagsregelung eingeschult wurden, sind nicht vorhanden oder sehr gering und lassen somit keine inhaltlichen Interpretationen zu. Das Ergebnis der Vergleichsarbeiten in der Jahrgangsstufe 3 (VERA 3) des Schuljahres 2007/2008 wiederholt die Befunde des Schuljahres 2006/2007, bei denen sich beim Vergleich der beiden Altersgruppen auch keine Unterschiede in den Leistungen der Orientierungsarbeiten am Ende der Jahrgangsstufe 2 finden ließen. Beide Berichte können auf der Internetseite des Instituts für Schulqualität der Länder Berlin und Brandenburg (http://www.isq-bb.de) eingesehen werden. 8. Wie sehen die Einschulungsfristen in anderen Bundesländern aus, wie bewertet der Senat diese und wie viele Bundesländer schulen – wie Berlin – generell mit 5,5 Jahren ein? Zu 8.: Berlin ermöglicht den Schülerinnen und Schülern ein frühes Einschulungsalter. So können auch jüngere Schülerinnen und Schüler, die bereits enorm lernfähig und lernfreudig sind, sich frühzeitig mit schulischen Inhalten auseinandersetzen. Die Stichtagsregelungen und Möglichkeiten zur Zurückstellung in anderen Bundesländern sind der Anlage 1 zu entnehmen. 9. Hält der Senat eine Regeleinschulung mit fünf Jahren weiterhin für pädagogisch und verwaltungstechnisch sinnvoll? Zu 9.: Der Senat hält die bisherige flexible Einschulungsregelung weiterhin für sinnvoll. Für Kinder, bei denen eingeschätzt wird, dass eine angemessene Förderung in der Schule nicht erfolgen kann, wird durch ein sehr individuelles differenziertes Verfahren eine Aussage getroffen, ob eine Förderung in einer Einrichtung der Jugendhilfe eine bessere Alternative darstellt. Es handelt sich dabei um ein differenziertes einzelfallbezogenes Verfahren. Die Erstellung eines Entwicklungsberichtes der zuletzt besuchten Einrichtung der Jugendhilfe oder Kindertagespflegestelle und die Einschätzung der Schulärztin bzw. des Schularztes stellt ein notwendiges und sinnvolles Instrument dar, um jedem Kind gerecht werden zu können und verhindert pauschale und undifferenzierte Entscheidungen, die der Individualität des Kindes nicht entsprechen. 10. Wie viele Anträge auf Rückstellung wurden zum Schuljahr 2011/2012 und 2012/2013 gestellt? 11. Wie vielen dieser Anträge wurde entsprochen? Zu 10. und 11.: Die Anträge werden zentral nicht erfasst, daher können diese Fragen nicht beantwortet werden. 12. Wie gestalteten sich die Rückstellungen in den einzelnen Bezirken? Zu 12.: An öffentlichen Grundschulen und Integrier- ten Sekundarschulen mit Grundstufe wurde für 2259 Kinder die Schulbesuchspflicht im Schuljahr 2011/12 ausgesetzt. Im Schuljahr 2011/12 wurden 24.398 Kinder erstmalig schulpflichtig. Bezirk Kinder Charlottenburg-Wilmersdorf 112 Friedrichshain-Kreuzberg 150 Lichtenberg 245 Marzahn-Hellersdorf 261 Mitte 160 Neukölln 201 Pankow 228 Reinickendorf 156 Spandau 177 Steglitz-Zehlendorf 145 Tempelhof-Schöneberg 224 Treptow-Köpenick 200 Insgesamt 2.259 13. Wie viel Zeit musste die Verwaltung aufbringen, um jeden einzelnen Antrag auf Rückstellung bearbeiten zu können? 14. Welche Maßnahmen möchte der Senat ergreifen, um dieses Bürokratiemonstrum, welches vor Ort sehr viele Kapazitäten bindet, in Zukunft zu vermeiden? Zu 13. und 14.: Eine standardisierte Zeitangabe ist hier nicht möglich, da jeder einzelne Antrag individuell betrachtet werden muss. Der zeitliche Verwaltungsaufwand für jede einzelne Rückstellungsentscheidung muss in mehrere Teilschritte aufgeteilt werden. Es wird eine Stellungnahme der zuletzt besuchten Einrichtung der Jugendhilfe oder Kindertagespflegestelle gefertigt. In der Praxis ist die Qualität der beigefügten Stellungnahmen sehr unterschiedlich, sodass eine Festlegung auf die aufgewandte Zeit sehr spekulativ ist. Eine entsprechende pädagogische, schriftliche Einschätzung über den Lern- und Entwicklungsprozess eines Kindes in einer vorschulischen Einrichtung wird aber auch unabhängig von einem Antrag auf Rückstellung gefertigt, sodass der Mehraufwand in einem sehr überschaubaren Rahmen liegt. Die notwendige Einschätzung der Schulärztin bzw. des Schularztes ist in jedem Fall obligatorisch und kann daher nicht in die zeitliche Bemessung 2 Abgeordnetenhaus Berlin – 17. Wahlperiode Drucksache 17 / 10 857 einbezogen werden. Bereits auf dieser Grundlage kann die Schulaufsicht, gemäß § 42 Abs. 3 Schulgesetz, einen entsprechenden Bescheid erstellen, wenn die Voraussetzungen vorliegen. Die skizzierte Darstellung des Verfahrens zeigt den überschaubaren zeitlichen zusätzlichen Aufwand. Spiegeln die vorliegenden Voraussetzungen nicht den Elternwunsch wider, muss unbedingt eine zusätzliche Einschätzung durch die Schulpsychologie vorgenommen werden. Diese individuellen Fälle, die nicht die Regel darstellen, rechtfertigen dann auch einen zusätzlichen Verwaltungsaufwand, um jedem Kind gerecht werden zu können. 15. Sind dem Senat Presseberichte bekannt, in denen betroffene Eltern die „Früheinschulung“ kritisieren und von traumatischen Auswirkungen auf Ihre Kinder sprechen ? Zu 15.: Der Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Wissenschaft sind viele – negativ wie positiv bewertende - Presseberichte bekannt. 16. Wie bewertet der Senat derartige Meinungsäuße- rungen besorgter Eltern und wie möchte er dieser Kritik begegnen? Zu 16.: Die Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Wissenschaft nimmt die Meinungen und Ängste von Eltern sehr ernst. Die Individualität jedes Kindes muss sorgfältig eingeschätzt werden und mit den Eltern müssen intensive Gespräche geführt werden, um für jedes Kind die angemessene Lösung zu finden. Berlin, den 11. September 2012 In Vertretung Mark Rackles Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Wissenschaft (Eingang beim Abgeordnetenhaus am 20. Sep. 2012) 3 Anlage 1 Beginn des Schulbesuchs; vorzeitige Einschulung, Zurückstellung – vergleichende Übersicht aller Länder Stand: Schj. 2012/131 Land Gesetzliche Grundlage Beginn der Schulpflicht bei Vollendung des 6. Lebensjahres (Stichtag) Vorzeitige Einschulung bei Vollendung des 6. Lebensjahres (Stichtag) Zurückstellung BadenWürttemberg §§ 73, 74 SchG bis 30.9. bis 30.6. des Folgejahres in begründeten Fällen möglich Bayern Art. 37 BayEUG bis 30.9., die geplante schrittweise Verlegung bis 31.12. wurde wieder verworfen ohne Stichtag - nach 31.12. mit schulpsycholog. Bestätigung der Schulfähigkeit möglich - auch noch bis 30.11. noch Schuleintritt Berlin § 42 SchulG bis 31.12. bis 31.3. des Folgejahres auf Antrag Eltern mit Votum Kita und Schularzt möglich Brandenburg §§ 37, 51 Bbg SchulG bis 30.9. bis 31.12. im Ausnahmefall mit Nachweis des Entwicklungsstandes bis 31.7. des Folgejahres nicht vorgesehen, aber im Ausnahmefall begründet möglich Bremen § 53 Brem SchulG bis 30.06. bis 31.12. sowie auf Antrag bei Befürwortung der Schule bis 30.6. des Folgejahres aus gesundheitlichen Gründen möglich Hamburg § 38 HmbSG bis 1.7. auf Antrag der Eltern auf Antrag der Eltern oder der Schule für Kinder, die vom 1.1. - 30.6. des 6. Lebensjahr vollenden möglich, dann verpflichtend Vorklassenbesuch „ 1 Gemäß der Angaben in den online abrufbaren, aktuellen Fassungen der Schulgesetze (geprüft am 6.8.2012 durch II D 1). — 2 — 2 Hessen § 58 HSchG bis 30.6. auf Antrag der Eltern (Entscheidung trifft Schulleitung mit Bezug auf schulärztliches Gutachten); Bei Vollenden des 6. Lebensjahres nach 31.12. mit schulpsycholog. Bestätigung der Schulfähigkeit auf Antrag der Eltern unter Beteiligung des Schularztes und der Schulpsychologie MecklenburgVorpommern § 43 SchulG M-V bis 30.6. bis 30.6. des Folgejahres bei hinreichendem Entwicklungsstand auf Antrag der Eltern im Einvernehmen mit Schulleitung unter Beteiligung des Schularztes und der Schulpsychologie Niedersachsen § 64 NSchG bis 30.9. ohne Stichtag bei Schulfähigkeit bei nicht hinreichendem körperlichen, geistigen, sozialen Entwicklungsland NordrheinWestfalen § 35 SchulG bis 30.9. die geplante schrittweise Verlegung bis 31.12. wurde wieder aufgehoben ohne Stichtag bei Schulfähigkeit (Entscheidung trifft Schulleitung unter Berücksichtigung des schulärztlichen Gutachtens) aus erheblichen gesundheitlichen Gründen (Entscheidung trifft Schulleitung unter Berücksichtigung des schulärztlichen Gutachtens; auch auf Antrag der Eltern kann Prüfung durch Schulleitung erfolgen) RheinlandPfalz §§ 57, 58 SchulG bis 31.8. auf Antrag der Eltern (Entscheidung trifft Schulleitung unter Berücksichtigung des schulärztlichen Gutachtens unter Hinzuziehung der Kita) auf Antrag der Eltern in begründeten Fällen - in der Regel nur aus gesundheitlichen Gründen - möglich (Entscheidung trifft Schulleitung unter Berücksichtigung des schulärztlichen Gutachtens; — 3 — 3 Saarland §§ 2, 3 Schulpflichtgesetz bis 30.6. ohne Stichtag auf Antrag der Eltern (Entscheidung trifft Schulleitung unter Berücksichtigung des schulärztlichen Gutachtens; bei Kindern, die erst im Folgejahr das 6. Lebensjahr vollenden ist Schulpsychologie hinzuzuziehen) möglich, sofern auf einer medizinischen Indikation begründet (Schulärztliches Gutachten) Sachsen § 27 SchulG bis 30.6.; sowie optional bis zum 30.9. ohne Stichtag bei hinreichendem Entwicklungsstand im Ausnahmefall bei nicht ausreichendem körperlichen und geistigem Entwicklungsstand (Schulpsychologisches Gutachten) SachsenAnhalt § 37 SchulG LSA bis 30.6. auf Antrag bis 30.6. des Folgejahres im Ausnahmefall bei nicht ausreichendem körperlichen, sozialen und geistigen Entwicklungsstand SchleswigHolstein § 22 SchulG bis 30.6. auf Antrag ohne Stichtag (Entscheidung trifft Schulleitung - bei Bedarf unter Berücksichtigung des schulärztlichen und schulpsychologischen Gutachtens) nicht möglich (Beurlaubung aus gesundheitlichen Gründen möglich) Thüringen § 18 Thür SchulG bis 1.8. auf Antrag bis 30.6. des Folgejahres (Entscheidung trifft Schulleitung - bei Bedarf unter Berücksichtigung des schulärztlichen Gutachtens) in begründeten Fällen auf Antrag der Eltern unter Berücksichtigung des schulärztlichen Gutachtens durch die Schulleitung ka17-10857 ka17-10857Anl Beginn des Schulbesuchs; vorzeitige Einschulung, Zurückstellung– vergleichende Übersicht aller LänderStand: Schj. 2012/13