Drucksache 17 / 11 260 Kleine Anfrage 17. Wahlperiode Kleine Anfrage der Abgeordneten Jasenka Villbrandt (GRÜNE) vom 26. November 2012 (Eingang beim Abgeordnetenhaus am 28. November 2012) und Antwort Umgang mit Beschwerden über Pflegewohngemeinschaften Die Drucksachen des Abgeordnetenhauses sind bei der Kulturbuch-Verlag GmbH zu beziehen. Hausanschrift: Sprosserweg 3, 12351 Berlin-Buckow · Postanschrift: Postfach 47 04 49, 12313 Berlin, Telefon: 6 61 84 84; Telefax: 6 61 78 28. Im Namen des Senats von Berlin beantworte ich Ihre Kleine Anfrage wie folgt: 1. Wie definiert der Senat Selbstbestimmung in Wohngemeinschaften für pflegebedürftige Menschen mit oder ohne Demenz? Welche Kriterien dienen ihm zu Überprüfung der Selbstbestimmung? Zu 1.: Von grundlegender Bedeutung für die Abgren- zung zwischen einer selbstbestimmten Wohngemeinschaft und einer stationären Einrichtung ist die Frage, ob ein besonderes Abhängigkeitsverhältnis zwischen den Be- wohnerinnen und Bewohnern bzw. den Nutzerinnen und Nutzern und dem Leistungserbringer bzw. dem Träger der Einrichtung besteht, das das Vorliegen einer selbstbe- stimmten Wohnform ausschließt. Charakteristisch für herkömmliche stationäre Einrich- tungen im Sinne des § 3 Absatz 1 des Wohnteilhabegeset- zes (WTG) (ehemals „Heimen“) ist die doppelte Abhängigkeit der Bewohnerinnen und Bewohner vom Leis- tungserbringer bzw. Träger der Einrichtung. Die Überlas- sung von Wohn- oder Aufenthaltsraum sowie Pflege und Betreuung werden aus einer Hand erbracht; entscheidend ist, dass ein Wunsch- und Wahlrecht bezogen auf die Leistungserbringer sowie Art und Umfang der Pflege- und Betreuungsleistungen für die Bewohnerinnen und Bewohner nicht besteht. Die Bewohnerinnen und Bewoh- ner sind an den Leistungserbringer, den Träger der Ein- richtung, gebunden; daraus resultiert ihre besondere Schutzbedürftigkeit, die einen besonderen erhöhten ord- nungsrechtlichen Schutz rechtfertigt. Anders verhält es sich bei „echten“ Wohngemeinschaften : Hier besteht gerade kein vergleichbares Abhän- gigkeitsverhältnis zu der Person, die den Wohn- oder Aufenthaltsraum überlässt; hier können die Nutzerinnen und Nutzer den oder die Leistungserbringer sowie die Pflege- und Betreuungsleistungen nach Art und Umfang frei wählen und auch wieder abwählen. Sind die Nutze- rinnen und Nutzer - etwa im Falle einer Demenz - selbst nicht mehr in der Lage, ihren freien Willen zu erklären, kann die Willensäußerung im wohl verstandenen Interesse der Betreuten durch gesetzliche Vertreterinnen oder Ver- treter oder Betreuerinnen oder Betreuer ausgeübt werden. Die Feststellung, ob ein solches besonderes Abhän- gigkeitsverhältnis vorliegt, ist anhand der jeweiligen Um- stände des Einzelfalls zu prüfen. Kriterien, die in der Re- gel gegen ein selbstbestimmtes Zusammenleben in einer Wohngemeinschaft sprechen, sind in § 4 Absatz 1 Satz 2 WTG genannt. Zur Feststellung der Wohnform ist in § 19 WTG die Möglichkeit einer Zuordnungsprüfung durch die Auf- sichtsbehörde vorgesehen. Die Aufsichtsbehörde wird eine Zuordnungsprüfung durchführen, wenn sie auf Grund von Hinweisen oder Beschwerden begründete Zweifel an der Selbstbestimmtheit einer Wohnform hat. Sofern Anhaltspunkte bestehen, dass ein Leistungserbrin- ger mit der Vermieterin oder dem Vermieter tatsächlich persönlich oder rechtlich verbunden ist und/ oder mit die- sem zusammenarbeitet, ist das ein wichtiges Kriterium für die Aufsichtsbehörde, dass es sich hier eher um eine stati- onäre Einrichtung handelt. Sofern Anhaltspunkte bestehen, dass der Pflegedienst in einer betreuten Wohngemeinschaft möglicherweise die Nutzerinnen und Nutzer, deren Angehörige oder Betreue- rinnen oder Betreuer gegen deren Willen dominiert und damit den ihm zustehenden „Gaststatus“ verlässt, wird die Aufsichtsbehörde die Nutzerinnen und Nutzer der Wohn- gemeinschaft sowie den Leistungserbringer und ggf. seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zunächst zu einem um- fassenden Beratungsgespräch über die wesentlichen Ent- scheidungskriterien für das Vorliegen einer selbstbe- stimmten Wohngemeinschaft einladen. 2. Wie überprüft der Senat, ob es bei Berliner Pflege- wohngemeinschaften tatsächlich eine Trennung zwischen der Überlassung des Wohnraums und der Erbringung der ambulanten Betreuungsleistungen gibt? Abgeordnetenhaus Berlin – 17. Wahlperiode Drucksache 17 / 11 260 2 Zu 2.: Ein wichtiges Abgrenzungskriterium ist in § 4 Absatz 1 Satz 2 Nummer 2 WTG genannt; danach dürfen im Falle einer selbstbestimmten Wohnform der Vertrag über die Wohnraumüberlassung und der Vertrag über die Erbringung der Pflege- und Betreuungsleistungen recht- lich und tatsächlich in ihrem Bestand nicht voneinander abhängen. Wenn die Aufsichtsbehörde begründete Zweifel an der tatsächlichen oder rechtlichen Trennung der Verträge zur Wohnraumüberlassung und zur Erbringung von Pflege- und Betreuungsleistungen und damit am Vorliegen einer selbstbestimmten Wohngemeinschaft hat, wird sie in eine Zuordnungsprüfung eintreten. In diesem Fall lässt sich die Aufsichtsbehörde die Verträge zur Wohnraumüberlassung und zur Erbringung der Pflege- und Betreuungsleistung vorlegen und prüft, ob diese rechtlich oder tatsächlich in ihrem Bestand voneinander unabhängig sind. Der Nach- weis einer solchen Abhängigkeit ist nicht einfach und erfordert gegebenenfalls die Einsicht in das Handels- oder Vereinsregister. Im Rahmen der Zuordnungsprüfung wird sich die Aufsichtsbehörde aber nicht auf die Frage nach den Verträgen im Sinne der Nummer 2 beschränken, son- dern wird auch die anderen in § 4 Absatz 1 Satz 2 WTG aufgeführten Merkmale vor Ort prüfen, um sich ein Ge- samtbild von der Wohnform zu verschaffen. Nur so kann sich die Aufsichtsbehörde davon überzeugen, ob die Nut- zerinnen und Nutzer der Wohngemeinschaft ihre Pflege- und Betreuungsleistungen frei wählen und über die we- sentlichen Fragen der Lebensführung selbst entscheiden können. 3. Wie vielen Pflegewohngemeinschaften wurde das Betreiben nach § 4 Absatz 1, Satz 2, Punkt 2. WTG unter- sagt, weil die Trennung zwischen der Überlassung des Wohnraums und der Erbringung der ambulanten Betreu- ungsleistungen nicht existierte? Zu 3.: Eine betreute selbstbestimmte Wohngemein- schaft ist eine private Wohnform, die nicht betrieben wird und die auch nicht untersagt werden kann. Untersagt wer- den kann unter den Voraussetzungen des § 25 WTG le- diglich die Leistungserbringung in der betreuten Wohn- gemeinschaft durch den Pflegedienst. Eine solche Unter- sagung war bisher nicht notwendig. Wenn sich im Rahmen der Zuordnungsprüfung her- ausstellt, dass es sich in Wirklichkeit um eine stationäre Einrichtung handelt, die von einem besonderen Abhän- gigkeitsverhältnis zwischen der Bewohnerschaft und dem Leistungserbringer geprägt ist, erlässt die Aufsichtsbehör- de nach § 19 Satz 3 WTG hierüber einen Feststellungs- bescheid. Damit kommen die Bestimmungen des WTG über stationäre Einrichtungen zur Anwendung. Unter den Voraussetzungen des § 25 WTG kommt bei besonders schwerwiegenden Verstößen auch eine Betriebsuntersa- gung in Betracht. 4. Wie vielen wurden aus gleichem Grund neue Auf- lagen gestellt? Zu 4.: In keinem Fall. 5. Wie wird die geteilte Verantwortung zwischen Be- wohnerInnen bzw. Angehörigen, Pflegediensten und VermieterInnen in der Wohngemeinschaft überprüft, wel- che Kriterien gibt es für diese Prüfung? Zu 5.: Ein starkes Kriterium für ein selbstbestimmtes Zusammenleben kann die Begründung eines sog. „Auftraggeber -Modells“ sein, die dem Prinzip der „geteilten Verantwortung“ entgegenkommt. Mit der Bildung eines solchen „Auftraggeber-Modells“ kommt der gemeinsame Wille zum Ausdruck, die Lebens- und Haushaltsführung sowie die Alltagsgestaltung weitgehend selbst in die Hand zu nehmen. Dabei legen die Nutzerinnen und Nutzer bei der Gründung der Wohngemeinschaft oder zu einem spä- teren Zeitpunkt die wesentlichen Bedingungen ihres Zu- sammenlebens möglichst in einer schriftlichen Vereinba- rung fest; dazu gehören vor allem auch Regelungen über die Entscheidungsfindung bei Fragen des Ein- oder Aus- zugs von Nutzerinnen und Nutzern, der Pflege und Be- treuung und der Auswahl der Leistungserbringer sowie über den Umgang bei Meinungsverschiedenheiten. Im Rahmen einer Zuordnungsprüfung wird regelmä- ßig nachgefragt, ob und in welcher Weise die Wohnge- meinschaft entsprechende Regelungen (z. B. im Rahmen einer WG-Ordnung, WG-Statuten o. ä.) getroffen hat. Sollten derartige Regelungen/Statuten noch nicht vorhan- den sein, so wird von Seiten der Aufsichtsbehörde emp- fohlen, das Auftraggeber-Modell in der Wohngemein- schaft umzusetzen. Es können beispielhaft weitere The- men geregelt werden: - Einzugsverfahren für neue WG-Mitglieder; - regelmäßige Bewohner- bzw. Angehörigenversamm- lungen; - Entscheidungen über die Höhe des Haushaltsgeldes und Kontrolle der Verwendung; - Verfahren zu Ersatzbeschaffungen von Haushaltsgerä- ten, Möbeln etc.; - Verfahren zu Bestimmung einer Angehörigenspreche- rin oder eines Angehörigensprechers (falls ge- wünscht); - Verfahren zur Bestimmung des/der ambulanten Diens- te/s. Ob solche Anregungen auch tatsächlich aufgegriffen werden, obliegt letztlich den Nutzerinnen und Nutzern der Wohngemeinschaft bzw. deren gesetzlichen Vertreterin- nen und Vertretern bzw. Betreuerinnen und Betreuern. In der Regel führt nach bisherigen Erfahrungen die Beratung zumindest dazu, dass den ambulanten Diensten ihre "Gastrolle" in einer selbstbestimmten Wohngemein- schaft verdeutlicht wird. Ein weiterer Erfolg ist in der häufigeren Durchführung von Angehörigentreffen zu se- hen. Abgeordnetenhaus Berlin – 17. Wahlperiode Drucksache 17 / 11 260 3 6. Wie viele Beschwerden bzw. Bitten um eine Inter- vention gegen Wohngemeinschaften für pflegebedürftige und demenziell erkrankte Menschen gab es seit Januar 2009 bei der Heimaufsicht (bitte nach Jahren auflisten)? Zu 6.: Beschwerden über Pflegedienste in Wohnge- meinschaften werden erst seit Inkrafttreten des Wohnteil- habegesetzes erfasst: In 2010 (seit 1.Juli 2010) 8 Beschwerden/Interventionen; in 2011 27 Beschwerden/Interventionen; bis November 2012 41 Beschwerden/Interventionen. 7. Wie viele Beschwerden bezüglich Pflegewohnge- meinschaften gab es bei Pflege in Not seit 2009? Zu 7.: Die Datenbank bei Pflege in Not weist seit 2009 bezüglich Pflegewohngemeinschaften 126 Fälle aus. Da noch nicht alle Fälle eingegeben wurden, kann sich die Zahl noch leicht erhöhen. 8. Wie viele Beschwerden gab es bezüglich Pflege- wohngemeinschaften beim Verein Selbstbestimmtes Wohnen im Alter (SWA) seit 2009? Zu 8.: Beim Verein Selbstbestimmtes Wohnen im Al- ter (SWA) gingen seit 2009 331 Beschwerden ein. Hier- bei wurden auch Anfragen, die auf Defizite hinwiesen, als Beschwerden erfasst. Die Beschwerden wurden vor allem inhaltlich dokumentiert. Wenn eine Person mehrere "Be- schwerdethemen" äußerte, wurde dies gegebenenfalls mehrfach erfasst. 9. Wie viele Beschwerden bezüglich Pflegewohnge- meinschaften gab es bei SeKis seit 2009? Zu 9.: Bei der Selbsthilfe Kontakt- und Informations- stelle (SEKIS) gingen bisher bezüglich Pflegewohnge- meinschaften keine Beschwerden ein. 10. Gibt es standardisierte Kriterien zur Aufnahme von Beschwerden zwischen der Heimaufsicht und den oben genannten oder weiteren Trägern bezüglich Pflege- wohngemeinschaften, die auch geeignet wären, qualitati- ve und quantitative Auswertungen vorzunehmen und Schlussfolgerungen daraus zu ziehen? Zu 10.: Bisher gibt es keine Standardisierung für die Dokumentation und Auswertung von Beschwerden be- züglich Pflegewohngemeinschaften. Dies könnte aber Thema des "Netzwerks Beschwerden in der Pflege" wer- den, das von der Patientenbeauftragten des Senats nach ihrer Beauftragung für das Themenfeld Pflege initiiert wurde. Das Netzwerk hat sich darauf verständigt, sich über Schwerpunkte von eingehenden Beschwerden auszu- tauschen und zu überprüfen, ob und welcher Handlungs- bedarf besteht. 11. Wie viele Anlassprüfungen hat die Heimaufsicht durchgeführt? Zu 11.: In 2010 8 Anlassprüfungen in Wohngemeinschaften; in 2011 25 Anlassprüfungen in Wohngemeinschaften; in 2012 35 Anlassprüfungen in Wohngemeinschaften. 12. Wie viele davon waren angemeldet, wie viele un- angemeldet? Zu 12.: Anlassprüfungen in Wohngemeinschaften werden grundsätzlich unangemeldet durchgeführt. 13. Welche Kriterien hat die Heimaufsicht um „Gewichtigkeit einer Beschwerde“ zu beurteilen, die zu Anlassprüfungen führt? Zu 13.: Grundsätzlich führt jede Beschwerde zu einer unangemeldeten Anlassprüfung vor Ort, es sei denn, eine Vorortprüfung ist entbehrlich, weil sich der Beschwer- deinhalt anderweitig überprüfen lässt. 14. Hat die Heimaufsicht bei allen beabsichtigten An- lassprüfungen die Zustimmung der HausrechtsinhaberIn- nen für den Zutritt erhalten, in wie vielen Fällen wurde er versagt? Zu 14.: Bei allen Besuchen der Aufsichtsbehörde wird vor Betreten einer Wohngemeinschaft ausdrücklich um das Einverständnis der Nutzerinnen und Nutzer gebeten. In einem Fall wurde eine Pflegewohngemeinschaft aufgrund einer Beschwerde aus der Nachbarschaft aufge- sucht. Dort wurde den beiden Mitarbeiterinnen der Auf- sichts-behörde der Zutritt zunächst versagt, weil die an- wesenden Nutzerinnen und Nutzer nicht einwilligungsfä- hig waren. Nach Rücksprache der Aufsichtsbehörde mit den Angehörigen und den Betreuerinnen und Betreuern wurde beim zweiten Besuch der Zutritt gewährt. 15. Wie viele Zutritte ohne oder mit Zustimmung hat die Heimaufsicht mit Gefahrenabwehr begründet? Zu 15.: In keinem Fall musste der Zutritt der Auf- sichtsbehörde mit einer Gefahrenabwehr begründet wer- den. 16. Welche Stelle bei der Heimaufsicht ist für die Be- schwerden zuständig? Zu 16.: In der Aufsichtsbehörde sind zwei Sachbear- beiterinnen und eine Sachgebietsleiterin u. a. mit der Be- arbeitung von Beschwerden bezüglich Wohngemeinschaf- ten betraut. Abgeordnetenhaus Berlin – 17. Wahlperiode Drucksache 17 / 11 260 4 17. Durch welche Kriterien ist die Qualität der Be- schwerdestelle gesichert? Zu 17.: Durch Einbindung der Gruppen- und Sachge- bietsleitung werden alle Beschwerden umfassend und einheitlich behandelt. Alle Beteiligten verfügen über lang- jährige Prüferfahrungen in stationären Einrichtungen. 18. Wie wurde diese Stelle Angehörigen und Bewoh- nern der WGs bekannt gemacht? Zu 18.: Im Internet sowie durch verschiedene Vorträ- ge bei Betreuungsvereinen und Seniorenvertretungen wurde auf die Aufsichtsbehörde („Heimaufsicht“) beim Landesamt für Gesundheit und Soziales hingewiesen. 19. Wie viele gemeinsame Prüfungen und wie viele davon unangemeldet hat die Heimaufsicht gemeinsam mit den Landesverbänden der Pflegekasse seit 2009 in Wohn- gemeinschaften durchgeführt (bitte auflisten)? Zu 19.: Es wurden keine gemeinsamen Prüfungen durchgeführt. Berlin, den 18. Dezember 2012 In Vertretung Michael B ü g e _____________________________ Senatsverwaltung für Gesundheit und Soziales (Eingang beim Abgeordnetenhaus 08. Jan. 2013)