Drucksache 17 / 11 303 Kleine Anfrage 17. Wahlperiode Kleine Anfrage der Abgeordneten Simon Kowalewski und Christopher Lauer (PIRATEN) vom 05. Dezember 2012 (Eingang beim Abgeordnetenhaus am 06. Dezember 2012) und Antwort Nutzung von aggregierten und anonymisierten Daten für die Gesundheitsfrüherkennung Die Drucksachen des Abgeordnetenhauses sind bei der Kulturbuch-Verlag GmbH zu beziehen. Hausanschrift: Sprosserweg 3, 12351 Berlin-Buckow · Postanschrift: Postfach 47 04 49, 12313 Berlin, Telefon: 6 61 84 84; Telefax: 6 61 78 28. Im Namen des Senats von Berlin beantworte ich Ihre Kleine Anfrage wie folgt: 1. Nutzt die Gesundheitsverwaltung in Berlin Dienste wie das vom Suchmaschinendienst Google entwickelte Analysetool „Grippe-Trends“ (www.google.org/flutrends) oder ähnliche Dienste, die aggregierte und anonymisierte Daten auswerten, als Frühwarnsystem für mögliche Epi- demien? 2. Sieht die Gesundheitsverwaltung Potenziale für die Früherkennung von möglichen Epidemien in einem sol- chen Analysetool, welches bis zu 14 Tage früher Trends erkennen lässt als die amtlichen Angaben von Behörden, die auf Laborauswertungen beruhen? Bei den folgenden Antworten handelt es sich um eine Zulieferung der Landesmeldestelle am Landesamt für Gesundheit und Soziales: Zu 1. und 2.: Die Überwachung (Surveillance) von In- fektionskrankheiten in Deutschland wird durch das Infek- tionsschutzgesetz (IfSG) geregelt. Zweck des Gesetzes ist es, gemäß § 1 (1) IfSG, übertragbare Krankheiten beim Menschen vorzubeugen, Infektionen frühzeitig zu erken- nen und ihre Weiterverbreitung zu verhindern. Bei dem gemäß IfSG zu diesem Zweck implementierten Meldewe- sen (3. Abschnitt des IfSG) handelt es sich um eine indi- katorbasierte Surveillance, bei der bestimmte Erkrankun- gen im Verdachtsfall, bei Erkrankung sowie bei Tod an der Erkrankung dem zuständigen Gesundheitsamt zu mel- den sind. Die Meldung erfolgt in erster Linie durch nie- dergelassene Ärzte und Krankenhäuser (§ 6 IfSG). Au- ßerdem werden Labornachweise bestimmter Infektionser- reger durch die untersuchenden Labore an das Gesund- heitsamt gemeldet (§ 7 IfSG). Im Land Berlin wurde von der für Gesundheit zuständigen Senatsverwaltung das Landesamt für Gesundheit und Soziales (LAGeSo) als die für das Meldewesen zuständige Behörde gemäß § 54 IfSG benannt. Zu den Aufgaben gehört auch die regelmäßige und zeitnahe infektionsepidemiologische Wochenbericht- erstattung ein-schließlich der Einschätzung der gesamt- städtischen Lage bezüglich meldepflichtiger Infektions- krankheiten bzw. -erreger. Gemäß IfSG müssen für Übermittlungen meldepflichtiger Krankheiten und Erreger Falldefinitionen erfüllt sein, die von der Bundesoberbe- hörde, dem Robert Koch-Institut (RKI), bundesweit ein- heitlich vor-gegeben werden. Das indikatorbasierte Mel- dewesen ist somit charakterisiert durch hohe Spezifität (entspricht fachlich in etwa der Wahrscheinlichkeit, dass ein identifizierter Fall auch tatsächlich durch den jeweili- gen Erreger ausgelöst ist) bei möglicherweise einge- schränkter Sensitivität (entspricht fachlich in etwa der Empfindlichkeit, einen durch den jeweiligen Erreger aus- gelösten Fall tatsächlich zu erkennen). Hoch spezifische Surveillance ist methodisch zeit- und ressourcen- aufwändig, womit Einschränkungen bei der Früherken- nung von Erkrankungs-ausbrüchen und Epidemien ver- bunden sein können, aber nicht zwingend sein müssen. Neben der gesetzlich vorgegebenen indikatorbasierten Surveillance werden am LAGeSo auch andere infektions- epidemiologische Überwachungsmethoden genutzt, die im IfSG jedoch nicht zwingend vorgegeben sind. Bei dem Analysetool Google Grippe Trends (Google Flu Trends) handelt es sich methodisch um eine sogenannte syndromi- sche Surveillance (vgl. Publikation Jeremy Ginsberg, Matthew H. Mohebbi, Rajan S. Patel, Lynnette Brammer, Mark S. Smolinski & Larry Brilliant: Detecting influenza epidemics using search engine query data. Nature 457, 1012-1014, abrufbar über Link http://research.google.com/archive/papers/detecting- influenza-epidemics.pdf). Hier werden mit bestimmten Krankheiten in Verbin- dung stehende Symptome entsprechend der Wahrschein- lichkeit des Zusammenhangs im Sinne eines Algorithmus genutzt, um mit Hilfe statistischer Modellierungen auf die Entwicklung der Erkrankungszahlen zurückzuschließen. Dabei werden häufig auch aggregierte Daten genutzt. Im Fall von Google Grippe Trends wird methodisch die Häu- figkeit der Eingabe bestimmter Suchbegriffe durch Inter- netnutzerinnen und Internetnutzer beim Suchmaschi- nendienst Google genutzt, um auf die Erkrankungshäu- figkeit zu schließen. Methodisch handelt es sich um eine äußerst sensitive Überwachung, die allerdings im Gegen- satz zum indikator-basierten Meldewesen gemäß IfSG Abgeordnetenhaus Berlin – 17. Wahlperiode Drucksache 17 / 11 303 2 äußerst unspezifisch ist. Es kann hoch sensitiv auf akute Atemwegserkrankungen geschlossen werden, dagegen werden keine Informationen über die ursächlichen Infek- tionserreger gewonnen (geringe Spezifität). Methodisch ist das Verfahren weniger zeit- und ressourcenaufwändig als indikator-basierte Surveillance. Zusammenfassend wird somit deutlich erkennbar, dass die unterschiedlichen Methoden sich nicht gegenseitig ersetzen, sondern ergänzen können. Am LAGeSo werden neben den Meldedaten gemäß IfSG auch aggregierte Daten aus anderen Quellen genutzt. Aufgrund der bestehenden engen Zusammenarbeit mit dem Robert Koch-Institut (RKI) wird auf die Daten der am RKI angesiedelten Arbeits-gemeinschaft Influenza (AGI) zurückgegriffen. Bei der AGI werden webbasiert von niedergelassenen Ärzten (sogenannte Sentinelpraxen) aggregierte Daten zur Häufigkeit akuter Atemwegser- krankungen (auch akute respiratorische Erkrankungen, ARE) erhoben und während der sogenannten „Grippesaison “ wöchentlich veröffentlicht. Die Daten werden deutschlandweit für zwölf Regionen, darunter die Region Brandenburg Berlin zusammengefasst. Die Auswertungen der AGI umfassen u. a. den sogenannten Praxisindex und die Konsultationsinzidenz nach fünf Altersklassen. Die Analyse-ergebnisse stehen zeitnah am Mittwoch der Fol- gewoche zur Verfügung und erfüllen somit alle Voraus- setzungen für eine primäre Frühwarnfunktion bei gleich- zeitig be-stehender relativ hoher Spezifität. Berliner Ärz- tinnen und Ärzte sind in diesem Surveillanceverfahren in ausreichendem Umfang vertreten. Hintergrundinformati- on ist unter folgendem Link abrufbar: mailto:http://influenza.rki.de/ ; http://influenza.rki.de/Diagrams.aspx?agiRegion=3). Die von der AGI erhobenen aggregierten Daten zu ARE für die Region Brandenburg Berlin werden während der Influenzasaison für die infektionsepidemiologische Wochenberichterstattung des LAGeSo zeitnah genutzt. Der Wochenbericht des LAGeSo ist auch für niedergelas- sene Ärztinnen und Ärzte in Berlin über die Homepage der Kassenärztlichen Vereinigung Berlin (KVB) abrufbar: http://www.kvberlin.de/20praxis/80service/87lageso_info s/index.html). Im Wochenbericht, der regelmäßig am Freitag einer jeden Woche erscheint, werden die Meldedaten gemäß IfSG und die aggregierten Daten der AGI jeweils aus der Vorwoche veröffentlicht. In 2011 hat das RKI darüber hinaus auch eine webba- sierte, syndromische Surveillance akuter Atemwegser- krankungen unter direkter Mitarbeit der Allgemeinbevöl- kerung eingerichtet (GrippeWeb). Hintergrundinformati- onen sind unter folgenden Links verfügbar: http://grippeweb.rki.de/; http://www.rki.de/DE/Content/Infekt/EpidBull/Archiv/20 12/Ausgaben/40_12.pdf?__blob=publicationFile. In die- ser Surveillance sind Berliner Bürgerinnen und Bürger überrepräsentativ beteiligt, was die Daten für das Land solider macht. Auch die dort erhobenen Daten werden am LAGeSo für die kontinuierliche Einschätzung der infekti- onsepidemiologischen Lage bezüglich ARE bzw. In- fluenza genutzt. In diesem Zusammenhang muss betont werden, dass hier die Nutzung methodisch unterschiedli- cher Verfahren im Sinne des optimalen Gesundheits- schutzes der Bevölkerung zielführend ist. Als nachteilig bezüglich der Nutzung des Analyse- tools Google Grippe Trends muss angesehen werden, dass die für die Modellierung genutzten konkreten Abfrage- algorithmen unseres Wissens nicht im Einzelnen veröf- fentlicht wurden. Unter dem Link http://www.nature.com/nature/journal/v457/n7232/suppin fo/nature07634.html wurden ergänzende Informationen zur Publikation zur Google Flu Trends veröffentlich, u. a. eine Excelliste mit den genutzten „100 Top Queries (Abfragen )“. Die genauen Algorithmen für diese Abfragen werden jedoch nicht angegeben. Die Methoden der am RKI bzw. von der AGI implementierten Verfahren sind dagegen vollständig veröffentlicht. Die zeitliche Verfügbarkeit der durch die unterschied- lichen Verfahren gewonnenen Surveillancedaten unter- scheidet sich nach Beobachtung des LAGeSo nicht signi- fikant. Die Potentiale für die Früherkennung von Epidemien durch die Nutzung webbasiert erhobener aggregierter Daten, werden von den Gesundheitsdiensten somit gese- hen und auch bereits umfänglich genutzt. Ein zeitlicher Vorteil für Google Flu Trends ist im Vergleich zum Mel- dewesen nach IfSG sowie den webbasierten Verfahren des Öffentlichen Gesundheitsdienstes (RKI bzw. AGI) bisher nicht zu erkennen. Bis zum Datum der Erstellung dieser Antwort am 18.12.2012 (Abfrage um 12:00 Uhr über Link http://www.google.org/flutrends/de/#DE-BE) war der aktuelle Datenstand für das Bundesland Berlin die Woche 02.12. - 09.12.2012, was sich nicht von den ande- ren beschriebenen Verfahren unterscheidet. 3. Wenn ja, für welche Krankheiten sieht die Ge- sundheitsverwaltung hier Potenzial? Zu 3.: Potential für die Nutzung aggregierter und ano- nymisierter Daten, wie sie z. B. vom Suchmaschinen- dienst Google mit dem Analysetool „Grippe-Trends“ oder von der AGI bzw. dem RKI angeboten werden, als Früh- warnsystem für mögliche Epidemien besteht für Infekti- onserkrankungen mit großer Ansteckungsfähigkeit bzw. ausgeprägter Übertragbarkeit des Erregers mit großen Erkrankungszahlen (Epidemiepotential). Dies trifft in Deutschland und damit auch in Berlin für Influenza bzw. auch andere respiratorische Infektionserkrankungen, die direkt und effektiv von Mensch zu Mensch übertragbar sind, zu. Entsprechende zeitnah wirksame syndromische Surveillance-instrumente sind wie oben beschrieben deutschlandweit und damit auch in Berlin eingerichtet. Abgeordnetenhaus Berlin – 17. Wahlperiode Drucksache 17 / 11 303 3 Die komplementäre Nutzung verschiedener Sur- veillanceverfahren gehört in Berlin bereits jetzt zum in- fektionsepidemiologischen Standard. Die Entwicklung auf diesem Gebiet wird weiterhin aufmerksam verfolgt, um ggf. entsprechende Verfahren nach sorgfältiger Prü- fung und fachlicher Abwägung auch bei anderen Erregern einzusetzen, wenn dies methodisch epidemiologisch sinn- voll erscheint. Neue Entwicklungen sollen jedoch vor- zugsweise in Kooperation und Abstimmung mit den für das Meldewesen gemäß IfSG zuständigen Landestellen der anderen Bundesländer und dem RKI erfolgen und umgesetzt werden. Berlin, den 11. Januar 2013 In Vertretung Emine D e m i r b ü k e n - W e g n e r _____________________________ Senatsverwaltung für Gesundheit und Soziales (Eingang beim Abgeordnetenhaus am 18. Jan. 2013)