Drucksache 17 / 11 545 Kleine Anfrage 17. Wahlperiode Kleine Anfrage der Abgeordneten Marianne Burkert-Eulitz (GRÜNE) vom 08. Februar 2013 (Eingang beim Abgeordnetenhaus am 12. Februar 2013) und Antwort Barrieren beseitigen, behinderte Eltern unterstützen! Die Drucksachen des Abgeordnetenhauses sind bei der Kulturbuch-Verlag GmbH zu beziehen. Hausanschrift: Sprosserweg 3, 12351 Berlin-Buckow · Postanschrift: Postfach 47 04 49, 12313 Berlin, Telefon: 6 61 84 84; Telefax: 6 61 78 28. Im Namen des Senats von Berlin beantworte ich Ihre Kleine Anfrage wie folgt: 1. Welche Möglichkeiten der „Elternassistenz“ gibt es in Berlin für behinderte Eltern, wie kommt das Land Berlin seiner sich aus Art. 6 GG und aus den EMRK (z.B. Art. 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention) er- gebenen positiven Unterstützungspflichten für behinderte Eltern in der Wahrnehmung ihrer Elternschaft nach? Zu 1.: Die Pflege und Erziehung der Kinder im eige- nen Familienhaushalt ist nach Art. 6 Abs. 2 und 3 Grund- gesetz das natürliche Recht und ein Grundbedürfnis von Eltern mit oder ohne Behinderung. Auch Eltern mit einer schweren Körper-/ Sinnesbehinderung ist die Verantwor- tungsübernahme für ihr Kind im Rahmen einer Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft nach den §§ 53 und 54 Abs.1 Zwölftes Sozialgesetzbuch (SGB XII) in Verbin- dung mit § 55 Abs. 2 Ziffer 7 Neuntes Sozialgesetzbuch (SGB IX) und durch die Gewährung geeigneter Unter- stützungsmaßnahmen zu ermöglichen. Damit soll die Trennung des Kindes von der Familie und die Betreuung in einem Heim bzw. einer Pflegefamilie verhindert wer- den. Hilfen im Rahmen der Unterstützung für Eltern mit Behinderungen können sowohl vielfältig – im Sinne des Zusammenkommens unterschiedlicher Leistungen der Sozial- und Jugendhilfe sowie medizinischer und sonsti- ger Leistungen – als auch hinsichtlich ihres Abstimmungsbedarfs komplex sein und bedürfen stets der kon- kreten Feststellung des individuellen Bedarfs. Dabei ist zu berücksichtigen, dass Menschen mit Behinderungen höchst unterschiedliche Bedarfe haben, die nur auf der Grundlage eines kontinuierlichen Informationsaustau- sches und des Kompetenztransfers zwischen den Leis- tungsträgern zielführend festgestellt und mit zielgenauen Maßnahmen belegt werden können. Das bestehende Recht enthält sowohl im SGB XII als auch im Achten Sozialgesetzbuch (SGB VIII) mehrere Leistungstatbestände, die zum Zuge kommen können; maßgeblich sind jeweils die individuelle Situation der behinderten Eltern sowie der familiäre Kontext. Hierbei ergänzen die in dem Rundschreiben I Nr. 1/2012 der Se- natsverwaltung für Gesundheit und Soziales beschriebe- nen Leistungen zur Betreuung und Versorgung von Kin- dern die personenbezogene, auf den eigenen Bedarf, ab- gestimmte Leistungs-planung für Menschen mit einer Körper-/ Sinnesbehinderung um die Hilfen, die die Aus- übung einer selbstbestimmten Elternschaft unterstützen. 2. Wie werden die Fachkräfte in den Berliner Verwaltungen und bei den freien Trägern für die Belange und unterschiedlichen besonderen Unterstützungsbedarfe be- hinderter Eltern sensibilisiert und fortgebildet, um ins- besondere vorhandene Vorbehalte gegen diese Eltern ab- zubauen? 3. Gibt es ein Lebenslagen- bzw. Lebensweltenkonzept in Berlin, um behinderte Eltern zu unterstützen und deren jeweiligen Unterstützungsbedarfe zu ermitteln und ihre Rechte durchzusetzen? 4. An welcher Stelle können sich behinderte Eltern umfassend informieren und welches Netzwerk unterstützt sie bei der Durchsetzung ihrer Rechte? 5. Welche Schnittstellenprobleme bei den einzelnen Verwaltungen und Sozialsystemen gibt es und wie wer- den diese abgebaut? 6. Welche Verfahrens- und Zuständigkeitsregelungen gibt es, um die nach dem SGB IX geforderte schnelle Zuständigkeitsfeststellung und Leistungserfüllung zu er- füllen? 8. Wie werden Eltern in ihrer Elternschaft besonders unterstützt und gefördert, die in stationären Einrichtungen leben, was wird getan, damit ihre Kinder mit und bei ihnen aufwachsen können? Abgeordnetenhaus Berlin – 17. Wahlperiode Drucksache 17 / 11 545 2 9. Wie wird sichergestellt, dass auch behinderte Eltern Leistungen nach dem SGB VIII erhalten, welche be- sonderen Angebote gibt es? 10. Wie wird insbesondere der Bereich der Jugendhilfe darüber fortgebildet, die besonderen und sehr spezifischen Bedarfe Behinderter Eltern zu erkennen, ohne dass diese gleich Gefahr laufen, dass ihnen ihre Kinder „weggenommen “ werden? Zu 2. bis 6. und 8. bis 10.: Alle Ansprüche und Unter- stützungsleistungen des SGB VIII für Familien gelten für Eltern mit und ohne Behinderung gleichermaßen. Nach § 1 Abs. 1 SGB VIII hat jeder junge Mensch ein Recht auf Förderung seiner Entwicklung und auf Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persön- lichkeit. Informationen über Unterstützungsangebote stehen al- len Eltern offen. Besonderen Barrieren wird z. B. durch Mittel für Gebärdendolmetschen Rechnung getragen. Darüber hinaus gibt es Selbsthilfenetzwerke der Betroffe- nen. So können Eltern mit Behinderung beispielsweise beim Netzwerk behinderter Frauen Berlin e. V. (http://www.netzwerk-behinderter-frauen-berlin.de/) oder Bundesverband behinderter und chronisch kranker Eltern e. V. (http://www.behinderte-eltern.de/Papoo_CMS/) den Austausch mit Betroffenen suchen. Gemäß ihrem professionellen Profil begegnen die Fachkräfte der Kinder- und Jugendhilfe allen unterstüt- zungsbedürftigen Menschen vorbehaltlos und sensibel mit Rücksicht auf die jeweils ganz persönlichen Umstände. Ein diskriminierungsfreier und offener Umgang ist Ge- genstand der Ausbildung. Dies schließt Eltern mit Behin- derung ein. Kinder- und Jugendhilfe versteht sich als Hil- fe für die Familie mit dem Fokus „Wohl des Kindes“. Die Situationen von Eltern mit Behinderung sind mannigfaltig. Schon Behinderungen unterscheiden sich nach Art (körperlich, seelisch, geistig) und Ausprägung erheblich. Die Kinder- und Jugendhilfe setzt auf passge- naue individuelle Unterstützung unabhängig von der Ur- sache des Hilfebedarfs. Das Leistungsangebot reicht von der allgemeinen Förderung der Familie bis hin zu indivi- duellen aktivierenden und ergänzenden Unterstützungs- leistungen im Rahmen der Hilfen zur Erziehung. Eltern haben einen Rechtsanspruch auf Hilfe zur Erziehung, wenn ohne sie die normale und gesunde Entwicklung des Kindes oder Jugendlichen so stark beeinträchtigt wäre, dass körperliche oder seelische Beeinträchtigungen des jungen Menschen befürchtet werden müssen. Dabei muss nicht unbedingt ein schuldhaftes Versagen der Erzie- hungspersonen vorliegen. Oft sind es die Lebensbedin- gungen der Familie (wie Arbeitslosigkeit, Armut) oder auch belastende Lebensereignisse (wie Trennung, Krank- heit oder Behinderung), die einen Bedarf begründen. Für die Gewährung von Hilfen zur Erziehung ist grundsätzlich das örtliche Jugendamt zuständig. Hilfen zur Erziehung setzen nach dem SGB VIII am individuel- len Hilfebedarf des Kindes und seiner Familie an. Die Entscheidung über die im Einzelfall angezeigte Hilfeart wird in Zusammenarbeit mit den Leistungsberechtigten im Rahmen des Hilfeplanverfahrens gemäß § 36 SGB VIII durch das zuständige Jugendamt getroffen. Als Grundlage für die Ausgestaltung der Hilfe stellen die fall- zuständige Fachkraft des Jugendamtes zusammen mit Personensorgeberechtigten und gegebenenfalls dem Kind oder dem Jugendlichen einen Hilfeplan auf, der genaue Feststellungen über den Bedarf, die zu gewährende Art der Hilfe sowie die notwendigen Leistungen enthält. Durch das Hilfeplanverfahren wird insbesondere sicher- gestellt, dass Kinder von Eltern mit Behinderung und ihre Eltern die erforderlichen Hilfen bekommen, gerade wenn die Familien aufgrund der Behinderung der Eltern beson- dere Bedingungen mitbringen (siehe auch Antwort auf die Kleine Anfrage vom 11. Juni 2007, Drs. 16/10877). Die Kinder- und Jugendhilfe richtet sich – soweit mit dem staatlichen Wächteramt vereinbar – nach dem Wunsch- und Wahlrecht der Betroffenen gemäß § 5 SGB VIII. Ziel ist immer, die selbstständige Lebensführung der Eltern mit ihrem Kind. Unterstützungsangebote und Me- thoden der Arbeit sind präventiv, dezentral, am Alltag orientiert, integrativ und partizipativ. Gemäß § 8a SGB VIII hat das Jugendamt ein eventu- elles Gefährdungsrisiko im Zusammenwirken mehrerer Fachkräfte einzuschätzen, wenn ihm gewichtige Anhalts- punkte für die Gefährdung des Wohls eines Kindes oder Jugendlichen bekannt werden. Dies geschieht in einem standardisierten mehrstufigen Verfahren (vgl. Gemein- same Ausführungsvorschriften über die Durchführung von Maßnahmen zum Kinderschutz in den Jugend- und Gesundheitsämtern der Bezirksämter des Landes Berlin – AV Kinderschutz Jug Ges). Soweit der wirksame Schutz eines Kindes oder Jugendlichen nicht in Frage gestellt wird, hat das Jugendamt die Erziehungsberechtigten so- wie das Kind oder den Jugendlichen in die Gefährdungs- einschätzung einzubeziehen. Hält das Jugendamt zur Ab- wendung der Gefährdung die Gewährung von Hilfen für geeignet und notwendig, so hat es diese den Erzie- hungsberechtigten anzubieten. Hält das Jugendamt das Tätigwerden des Familiengerichts für erforderlich, so hat es das Gericht anzurufen; dies gilt auch, wenn die Erzie- hungsberechtigten nicht bereit oder in der Lage sind, bei der Abschätzung des Gefährdungsrisikos mitzuwirken. Besteht eine dringende Gefahr und kann die Entscheidung des Gerichts nicht abgewartet werden, so ist das Jugend- amt verpflichtet, das Kind oder den Jugendlichen in Ob- hut zu nehmen (vgl. § 42 SGB VIII). Wenn die Behinderung als solche nicht Voraussetzung für die Inanspruchnahme der Leistung nach SGB VIII ist, wird sie nicht immer erhoben. In der Aufsuchenden El- ternhilfe werden beispielsweise Eltern mit seelischer Be- hinderung betreut. Diese sogenannte Frühe Hilfe fragt in ihrer Niedrigschwelligkeit und mit ihrem integrativen Charakter nicht nach dem Grad der Behinderung. Die beteiligten Fachkräfte gehen auf die Bedarfe der Eltern mit Behinderung in den beiden Leistungssystemen SGB VIII und SGB XII kooperativ und im Sinne der un- terstützungsbedürftigen Menschen ein. Das Grundprinzip der Arbeitsmethode „Fallmanagement im Amt für Soziales“ ist ein integriertes Eingliederungshilfe -Verfahren für volljährige Menschen mit Be- Abgeordnetenhaus Berlin – 17. Wahlperiode Drucksache 17 / 11 545 3 hinderung nach dem SGB XII. Es orientiert sich am indi- viduellen Hilfebedarf des Menschen mit Behinderung und steuert die Leistungen unter ziel- und wirkungsorientier- ten Gesichtspunkten aktiv und qualitativ hochwertig (ein- zelfallorientierte Leistungssteuerung). Die Fallmana- gerinnen und Fallmanager des bezirklichen Geschäftsbe- reiches Soziales werden insbesondere über eine umfas- sende Basisqualifizierung an der Verwaltungsakademie Berlin (VAk) auf die vielfältigen und anspruchsvollen Aufgaben vorbereitet. Zudem gewährleistet der Senat standardmäßig bedarfsgerechte Kursangebote zur Fortbil- dung des Personals in den Bezirksämtern. Das Neunte Sozialgesetzbuch (SGB IX) hält geeignete Regelungen zur Auflösung von Koordinierungsbedarfen damit Leistungen ineinander greifen (§ 10 SGB IX) be- reit. Wo dies erforderlich ist, wird Unterstützung mit ver- netzt arbeitenden Leistungserbringern durchgeführt. Dar- über hinaus gibt es in jedem Bezirk das Angebot der Be- gleiteten Elternschaft, die sowohl auf das Wohl des Kin- des als auch auf die Situation der Eltern ausgerichtet ist. Daher liegt dieser eine Kombination einer bedarfsgerech- ten Leistungsgewährung zu Grunde. Sie beruht auf Leis- tungen der Jugendhilfe, Hilfen zur Erziehung nach SGB VIII (§§ 27, 31 ff.) und Leistungen der Eingliede- rungshilfe nach SGB XII (§§ 53, 54). Hilfebedarf und Hilfeplanung für die Familien werden mit den Fachkräften von Jugendämtern und dem Fallma- nagement in den Ämtern für Soziales bzw. Sozialpsychi- atrischen Diensten beraten und die Ausgestaltung der Un- terstützung gemeinsam vereinbart. Die Aufgaben, die das Gesundheitsamt für die Sicherung der Eingliederung be- hinderter Menschen hat, sind im SGB XII (§ 59) geregelt. Auch im Jugendhilferecht (§ 81 Nr. 4 SGB VIII) ist eine Zusammenarbeit der Behörden der öffentlichen Jugend- hilfe mit Einrichtungen und Stellen des öffentlichen Ge- sundheitswesens vorgesehen. Beispiele für die Kombination von Hilfen für Eltern mit Behinderung sind konkret Ambulantes Betreutes Wohnen nach §§ 53, 54 SGB XII für Mutter/Vater und Sozialpädagogische Familienhilfe nach § 31 SGB VIII für das Kind/familiäre System oder auch Persönliches Budget nach § 57 SGB XII (beispielsweise zur behindertenspezi- fischen Unterstützung von Mutter/Vater und Förderung des Kindes in Kindertagespflege im Haushalt der Eltern nach § 23 SGB VIII). Zielrichtung sind Hilfen wie aus einer Hand aus Sicht der Betroffenen unter Nutzung der Professionalität von Trägern in der Behinderten- und in der Kinder- und Ju- gendhilfe. Träger erbringen die Hilfe als soziale Dienst- leistung in multiprofessionellen Teams mit Hilfe von Netzwerkarbeit. 7. Sieht der Senat die Notwendigkeit der Bestandsaufnahme der Situation von behinderten Eltern in Berlin, wenn ja, wie soll diese Bestandsaufnahme erfolgen und wenn nein, warum soll es keine Bestandsaufnahme ge- ben? 11. Welche konkreten Pläne hat das Land Berlin, um die Situation behinderter Eltern zu verbessern und sie in ihrer Elternschaft aktiver zu unterstützen? Zu 7. und 11.: Die Situation von Eltern mit Behinde- rung ist unter anderem Gegenstand laufender Prozesse zur Weiterentwicklung der Eingliederungshilfe mit der Aus- richtung Elternassistenz. So wird in diesem Jahr (nach höchstrichterlicher Klärung der Rechtslage) das konkrete Vorgehen im Leistungsverfahren für körperlich oder geis- tig behinderte Mütter oder Väter in Einrichtungen nach § 19 SGB VIII von den Senatsverwaltungen für Bildung, Jugend und Wissenschaft, für Gesundheit und Soziales und für Finanzen neu abgestimmt und in einem ent- sprechenden Rundschreiben veröffentlicht. Auch die Maßnahmen der Kinder- und Jugendhilfe unterliegen einem ständigen Verbesserungsprozess. Eine Notwendigkeit der Bestandsaufnahme von Eltern mit Be- hinderung in Berlin darüber hinaus wird nicht gesehen. Eltern mit Behinderung sind in das Hilfesystem integriert, wo sie eine eher kleine Gruppe darstellen. Der gesell- schaftliche Stellenwert des Themas Inklusion ist groß und weiter zunehmend, wie sich auch an den Entwicklungen im Bereich Kindertagesbetreuung ablesen lässt. Berlin, den 20. März 2013 In Vertretung Michael B ü g e _____________________________ Senatsverwaltung für Gesundheit und Soziales (Eingang beim Abgeordnetenhaus am 02. Apr. 2013)