Drucksache 17 / 11 682 Kleine Anfrage 17.17. Wahlperiode Kleine Anfrage der Abgeordneten Elke Breitenbach (LINKE) vom 05. März 2013 (Eingang beim Abgeordnetenhaus am 07. März 2013) und Antwort Gute Arbeit in Berlin? Maßnahmen gegen sittenwidrige Entlohnung Die Drucksachen des Abgeordnetenhauses sind bei der Kulturbuch-Verlag GmbH zu beziehen. Hausanschrift: Sprosserweg 3, 12351 Berlin-Buckow · Postanschrift: Postfach 47 04 49, 12313 Berlin, Telefon: 6 61 84 84; Telefax: 6 61 78 28. Im Namen des Senats von Berlin beantworte ich Ihre Kleine Anfrage wie folgt: Die Kleine Anfrage betrifft zum großen Teil Sachver- halte, die die Senatsverwaltung für Arbeit, Integration und Frauen nicht aus eigener Zuständigkeit und Kenntnis be- antworten kann. Sie ist gleichwohl um eine sachgerechte Antwort bemüht und hat daher die zuständige Regionaldi- rektion Berlin-Brandenburg (RD BB) der Bundesagentur für Arbeit (BA) um Stellungnahme gebeten. Die dort in eigener Verantwortung erstellte Stellungnahme ist bei der nachfolgenden Beantwortung berücksichtigt. 1. Ab welcher Höhe gelten monatliche Bruttoentgelte bzw. Stundenlöhne in Berlin als sittenwidrig? Zu 1.: Das Bundesarbeitsgericht hat mit Urteil vom 22.04.2009, 5 AZR 436/08, entschieden, dass ein auffälli- ges Missverhältnis zwischen Leistung und Gegenleistung und damit Sittenwidrigkeit gem. § 138 Abs. 2 Bürgerli- ches Gesetzbuch (BGB) vorliegt, wenn die Entlohnung nicht einmal 2/3 eines in der betreffenden Branche und Wirtschaftsregion üblicherweise gezahlten Tariflohns er- reicht. Maßstab für die Prüfung, ob ein auffälliges Missver- hältnis vorliegt, ist das üblicherweise gezahlte Tarifent- gelt und zwar ohne tarifliche Zusatzleistungen. Dieses ist im Zweifel das Bruttoentgelt. Die Üblichkeit einer Tarif- vergütung kann angenommen werden, wenn mehr als 50% der Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber eines Wirt- schaftsgebiets tarifgebunden sind oder wenn die organi- sierten Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber mehr als 50% der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer eines Wirt- schaftsgebiets beschäftigen. Hat sich der Tariflohn nicht durchgesetzt, ist von dem allgemeinen Lohnniveau im Wirtschaftsgebiet auszugehen. 2. Ist die Grenze identisch mit § 36 SGB III, Grundsätze der Vermittlung, nach dem die Agentur für Arbeit nicht in ein Ausbildungs- oder Arbeitsverhältnis vermit- teln darf, das gegen ein Gesetz oder die guten Sitten ver- stößt? Gilt dies auch für den Rechtskreis des SGB II? Zu 2.: Es gelten auch im Rahmen des § 36 SGB III die in Antwort zu Frage 1. beschriebenen Maßstäbe hinsicht- lich der Sittenwidrigkeit von Arbeitsentgelten. Gemäß § 16 Abs.1 S.4 SGB II ist § 36 SGB III im Rechtskreis SGB II entsprechend anzuwenden. 3. Findet eine entsprechende Prüfung jedes eingehenden Stellenangebots bei dem Arbeitgeberservice statt? Wenn nicht, wann findet eine Überprüfung statt? Zu 3.: Der gemeinsame Arbeitgeberservice (AG-S) prüft bei Stellenentgegennahme in jedem Fall auch das angebotene Arbeitsentgelt, soweit dies möglich ist. Für Unternehmen, die Tarifverträgen oder Mindest- lohnbedingungen unterliegen, ist die Angabe verpflich- tend, dass die jeweils geltenden Regelungen zum Arbeits- entgelt eingehalten werden. Eine Verpflichtung für andere Unternehmen zur konkreten Gehalts-/ Lohnangabe be- steht allerdings nicht. Es ist jedoch ausdrückliches Be- streben des AG-S, Angaben zum Arbeitsentgelt, zumin- dest als vertrauliche Information, zu erhalten. Arbeitsstellen, die gegen § 36 SGB III verstoßen, werden durch den AG-S abgelehnt, soweit die Arbeitge- berin oder der Arbeitgeber nicht bereit ist, entsprechende Änderungen vorzunehmen. Werden Anhaltspunkte über eine sittenwidrige Ent- lohnung erst im Vermittlungsprozess bekannt, z.B. durch Rückmeldungen vermittelter Bewerberinnen und Bewer- ber, wird analog des beschriebenen Verfahrens vorge- gangen. Abgeordnetenhaus Berlin – 17. Wahlperiode Drucksache 17 / 11 682 2 4. Auf welchen Grundlagen wird eine solche Überprüfung der eingehenden Stellenangebote durchgeführt? 5. Wann und auf welchen Grundlagen finden entsprechende Überprüfungen bei Vermittlungen durch die Ar- beitsagenturen bzw. durch die Berliner Job-Center statt? Zu 4. und 5.: Die Überprüfung erfolgt im Sinne des § 36 SGB III. 6. In wie vielen Fällen wurde im Jahr 2012 von den Arbeitsagenturen bzw. den Berliner Job-Centern wegen sittenwidriger Entlohnung von der Aufnahme von Stel- lenangeboten in die Jobbörse abgesehen? Zu 6.: Es gibt keine statistische Erhebung zu diesen Daten. 7. Haben die Berliner Job-Center die Arbeitsentgelte aller sogenannten Aufstocker/-innen auf Sittenwidrigkeit überprüft? Wenn nein, in welchen Fällen wurde bzw. wird geprüft und um wie viel Fälle handelte es sich im Jahr 2012? Zu 7.: Gemäß § 115 SGB X geht der Anspruch der Arbeitnehmerin oder des Arbeitnehmers auf nicht erfüllte Entgeltansprüche gegenüber ihrer/ihres oder sei- ner/seinem Arbeitgeberin oder Arbeitgeber/s bis zur Höhe der erbrachten Sozialleistungen auf den Sozialträger über. Die Jobcenter sind daher grundsätzlich verpflichtet, alle Arbeitsverhältnisse insbesondere auf mögliche übergan- gene Ansprüche aus einer sittenwidrigen Entlohnung zu prüfen und diese ggf. zu realisieren. Da es hierzu keine offizielle Statistik gibt, ist eine konkrete Benennung der überprüften bzw. aufgegriffenen Fälle für das Jahr 2012 nicht möglich. 8. In wie vielen Fällen und in welcher Höhe haben die Berliner Job-Center im Jahr 2012 die Erstattung ge- zahlter Leistungen aufgrund von sittenwidrigen Löhnen von Arbeitgebern verlangt? Zu 8.: Es gibt hierzu keine statistische Auswertung. 9. In wie vielen Fällen waren sie erfolgreich und in welcher Höhe wurden Leistungen zurück erstattet? Zu 9.: Es gibt hierzu keine statistische Auswertung. 10. Welche Informationen und Beratungsangebote stellen Senat, Arbeitsagenturen und die Berliner Job- Center Beschäftigten und Arbeitsuchenden zur Aufklä- rung über sittenwidrige Entlohnung zu Verfügung? 11. Welche Beratung, Information und Unterstützung erhalten Beschäftigte, deren Arbeitsverhältnis sittenwidrig entlohnt wird? Zu 10. und 11.: Grundsätzlich gelten in Deutschland die Vertragsfreiheit (vgl. Art. 2 GG) und die Tarifauto- nomie (vgl. Art. 9 GG). In diesem Zusammenhang ist die deutsche Verwaltung gemäß § 20 und § 21 Verwaltungs- verfahrensgesetz (VwVfg) zur Sachlichkeit und Neutrali- tät verpflichtet. Diesem Neutralitätsgebot unterliegen auch die Jobcenter und die Bundesagentur für Arbeit. Es werden daher keine arbeitsrechtlichen Beratungen bei der Anbahnung eines Beschäftigungsverhältnisses angeboten. Allerdings ist das Jobcenter, wie unter Frage 7 bereits beschrieben, auch verpflichtet, bei der Feststellung einer möglichen sittenwidrigen Entlohnung einer oder eines erwerbsfähigen Leistungsberechtigten die entsprechenden Ansprüche geltend zu machen sowie jedes Arbeitsangebot auf eine sittenwidrige Entlohnung zu prüfen und ggf. eine entsprechende Vermittlung abzulehnen. Im Zusammenhang mit dem Neutralitätsgebot ist aus- drücklich darauf hinzuweisen, dass bei einer sittenwidri- gen Entlohnung auf das Jobcenter (kraft Gesetzes) nur die Ansprüche auf die erbrachten Sozialleistungen (also nur das nach erfolgter Bereinigung um die Freibeträge anzu- rechnende Einkommen) übergehen und nicht der gesamte Lohnanspruch. Alle darüber hinausgehenden Ansprüche muss die Arbeitnehmerin oder der Arbeitnehmer selbst- ständig von der Arbeitgeberin oder vom Arbeitgeber ein- fordern. Das bei der Senatsverwaltung für Arbeit, Integration und Frauen angesiedelte Gemeinsame Tarifregister Berlin und Brandenburg erteilt Auskunft über die im Land Berlin geltenden tarifvertraglichen Arbeitsbedingungen ein- schließlich der Arbeitsentgelte und liefert damit u.a. für Beschäftigte, Arbeitsuchende, Unternehmen, Arbeits- agenturen und Jobcenter Informationen, die eine Ein- schätzung darüber ermöglichen, ob ein angebotenes oder gezahltes Arbeitsentgelt den ortsüblichen Standards ent- spricht oder so deutlich davon abweicht, dass eine sit- tenwidrige Entlohnung angenommen werden kann. Die Senatsverwaltung für Arbeit, Integration und Frauen informiert auf ihren Internetseiten darüber hinaus über die Geltung von Tarifverträgen und gibt Erläuterun- gen über das arbeitsgerichtliche Verfahren, um denjeni- gen, die zur Geltendmachung ihrer Ansprüche ein arbeits- gerichtliches Verfahren anstrengen wollen, den Zugang dazu zu erleichtern. Das regelmäßig aktualisierte Faltblatt „Gute Arbeit – Mindeststandards und Mindestlöhne“ des Senats informiert in 15 Sprachen über gesetzliche Min- deststandards einschließlich der geltenden Branchenmin- destlöhne, der Durchsetzungsmöglichkeiten und An- sprechpartner. Weitergehende Beratungs- und Unterstützungsmaß- nahmen sind dem Senat zu Fragen der Bezahlung von Beschäftigten und Arbeitsuchenden nicht möglich, da dem Senat in derartigen privatrechtlichen Angelegenhei- ten Befugnisse zur Beratung und Unterstützung von Be- schäftigten und Arbeitsuchenden nicht eingeräumt sind. Abgeordnetenhaus Berlin – 17. Wahlperiode Drucksache 17 / 11 682 3 12. Welche Maßnahmen plant der Senat bzw. hat er eingeleitet, um Beschäftigungsverhältnisse mit sittenwid- riger Bezahlung in Berlin zu verhindern? Zu 12.: Zusätzlich zu den in der Antwort auf die Fra- gen 10. und 11. aufgeführten Informationsangeboten des Senats, die u.a. auch auf eine Verhinderung der Zahlung sittenwidriger Löhne gerichtet sind, steht der Senat in engem Kontakt zu der Regionaldirektion Berlin-Branden- burg der Bundesagentur für Arbeit sowie den Berliner Arbeitsagenturen und Jobcentern, um diese bei ihren Be- mühungen zu unterstützen, sittenwidrige Löhne zahlende Betriebe aus übergegangenem Recht (§ 115 SGB X) auf Erstattung der an die betroffenen Beschäftigten gezahlten ergänzenden Leistungen zur Grundsicherung in Anspruch zu nehmen. Beschäftigte des Senats haben daher auch an dem von der Regionaldirektion Berlin-Brandenburg der Bunde- sagentur für Arbeit am 15. November 2012 veranstalteten „Fachtag Sittenwidrige Löhne“ teilgenommen, in dessen Rahmen das seit Jahren erfolgreiche Vorgehen des Job- centers Stralsund gegen sittenwidrige Löhne durch dessen Geschäftsführer den Berliner Jobcentern vorgestellt und Möglichkeiten erörtert worden sind, in Berlin entspre- chend zu verfahren. Der Senat strebt in diesem Zusam- menhang an, gemeinsam mit der Regionaldirektion Ber- lin-Brandenburg der Bundesagentur für Arbeit auf der Grundlage geeignet erscheinender erfolgreicher Verfahren Öffentlichkeitsarbeit zu betreiben, um auch auf diesem Weg aufklärerisch zu wirken und präventive Effekte zu erzielen. Der gemeinsam von Senat und Regionaldirektion Ber- lin-Brandenburg der Bundesagentur für Arbeit erarbeitete Entwurf für ein Rahmen-Arbeitsmarktprogramm sieht als Maßnahme gegen gesetzes- oder sittenwidrige Löhne vor, dass die Berliner Jobcenter alle Fälle, in denen Kunden ein auffällig geringes Arbeitsentgelt erzielen und deshalb auf ergänzende Leistungen nach dem SGB-II angewiesen sind, unter dem Gesichtspunkt einer sittenwidrigen Ver- gütung prüfen und ggf. Ansprüche gegen die Arbeitgebe- rin oder den Arbeitgeber in Höhe gewährter Leistungen aus übergegangenem Recht (§ 115 SGB X) geltend ma- chen. Auch das Verbot einer Vermittlung in Ausbildung und Arbeit, die gegen ein Gesetz oder die guten Sitten verstößt, soll seitens der Berliner Jobcenter konsequent beachtet werden. Berlin, den 9. April 2013 In Vertretung Farhad Dilmaghani Senatsverwaltung für Arbeit, Integration und Frauen (Eingang beim Abgeordnetenhaus am 11. Apr. 2013)