Drucksache 17 / 11 877 Kleine Anfrage 17.17. Wahlperiode Kleine Anfrage des Abgeordneten Dr. Simon Weiß (PIRATEN) vom 11. April 2013 (Eingang beim Abgeordnetenhaus am 12. April 2013) und Antwort Suchtkranke in der Untersuchungshaft im Land Berlin Die Drucksachen des Abgeordnetenhauses sind bei der Kulturbuch-Verlag GmbH zu beziehen. Hausanschrift: Sprosserweg 3, 12351 Berlin-Buckow · Postanschrift: Postfach 47 04 49, 12313 Berlin, Telefon: 6 61 84 84; Telefax: 6 61 78 28. Im Namen des Senats von Berlin beantworte ich Ihre Kleine Anfrage wie folgt: 1. Wie viele suchtkranke Personen (insbesondere mit einer Heroinsuchterkrankung) kamen in den letzten 3 Jah- ren im Land in Untersuchungshaft (U-Haft)? (Bitte Ein- zelauflistung nach Jahr, Personenzahl und der/den jewei- ligen Suchterkrankung(en).) Zu 1.: Eine entsprechende Statistik über alle Untersu- chungsgefangenen mit einer Suchterkrankung wird nicht geführt. 2. Welche ist die häufigste Suchterkrankung von Per- sonen, die in den letzten 3 Jahren in U-Haft kamen? (Bitte eine genaue Einzelauflistung nach Jahr) Zu 2.: Eine entsprechende Statistik über die Suchter- krankungen der Untersuchungsgefangenen wird nicht geführt. Erfahrungsgemäß ist weiterhin die Tabakabhän- gigkeit die häufigste Suchterkrankung im Justizvollzug. Danach folgen Abhängigkeiten von Alkohol, Cannabis und anderen Substanzen. 3. Wird im Land Berlin auf die besonderen Bedürfnis- se von suchtkranken Personen eingegangen? a) Wenn ja, wie und ab wann? (Bitte Einzelauflistung nach Behandlungs- und Unterstützungsangeboten und der jeweiligen Suchterkrankung(en)). b) Wenn nein, warum nicht? c) Wenn nein, wie sollen suchtkranke Personen ohne die unter 3. genannte Hilfe mit ihrer Sucht in der U-Haft zurechtkommen? Zu 3. und a): In allen Berliner Justizvollzugsanstalten werden für suchtkranke Inhaftierte eine Vielzahl unter- schiedlicher und auf die jeweilige Insassengruppe ausge- richtete Maßnahmen vorgehalten und durchgeführt. Unmittelbar nach Haftantritt beginnt die medizinische Versorgung. Ein Kernpunkt der medizinischen Versor- gung ist die Ermittlung von medizinischen Daten im Rahmen der Zugangsuntersuchung zunächst durch Pflege- und unmittelbar anschließend durch ärztliches Personal. Hierbei stellt die Feststellung von Suchterkrankungen einen der Kernpunkte aufgrund der bekannten Prävalen- zen im Justizvollzug dar. Daneben sind komplizierende Faktoren wie psychische Störungen und Infektionskrank- heiten in die Untersuchung mit einzubeziehen. Danach stehen alle medizinisch gebotenen Behandlungsverfahren einschließlich Substitutionsbehandlungen den Gefange- nen gemäß dem Strafvollzugsgesetz und dem daraus re- sultierenden Äquivalenzprinzip bei medizinischer Indika- tion zur Verfügung. Neben den medizinischen Veranlassungen werden die Untersuchungsgefangenen durch den Sozialdienst weiter- führend beraten, in vollzugsinterne Maßnahmen vermittelt und bei Bedarf an externe Drogenberatungsstellen vermit- telt, die regelmäßig in den Vollzugsanstalten die Inhaftier- ten beraten und ggf. suchttherapeutische Maßnahmen vorbereiten. Zu b) und c): Entfällt 4. Erhalten suchtkranke Personen (insbesondere bei einer Heroinsuchterkrankung, Opiatabhängige) eine Dro- gensubstitution (Methadon, Buprenorphin, Diamorphin)? a) Wenn ja, ab wann wird diese gewährt und wie läuft diese ab? b) Wenn nein, warum nicht? c) Wenn nein, wie sollen suchtkranke Personen ohne die unter 4. genannte Hilfe mit ihrer Sucht in der U-Haft zurechtkommen? Zu 4.: Bei gebotener medizinischer Indikation erhalten suchtkranke Untersuchungsgefangene mit Opiatabhän- gigkeit in den Berliner Justizvollzugsanstalten eine Sub- stitutionsbehandlung mit zugelassenen Substituten gemäß den Richtlinien der Bundesärztekammer. Diamorphin wird als Substitut nicht verwendet. Abgeordnetenhaus Berlin – 17. Wahlperiode Drucksache 17 / 11 877 2 Zu a): Sobald die Indikation gestellt ist und solange sie besteht. Zu b) und c): Entfällt 5. Wie werden die unterschiedlichen Suchterkrankun- gen in der U-Haft jeweils behandelt und ab wann? (Bitte Einzelauflistung nach Behandlungs- und Unterstützungs- angeboten und der/den jeweiligen Suchterkrankung(en)). Zu 5.: Zur Beantwortung der Frage wird die internati- onale Klassifikation psychischer Störungen ICD-10 der Weltgesundheitsorganisation als Einteilung der Substan- zen zur Grundlage genommen. Störungen durch Alkohol (nach ICD-10, F-10) werden grundsätzlich als schwere oder auch lebensbedrohliche Störung umgehend in der Entzugssituation einer Entgif- tung, ggf. unter stationären oder - soweit notwendig - auch unter intensivmedizinischen Gesichtspunkten zuge- führt. Grundsätzlich werden diese Störungen abstinenz- orientiert behandelt. Ggf. kommen stützende KoMedikationen und psychotherapeutische oder psychoedu- kative Verfahren zum Einsatz. Störungen durch Opioide (nach ICD-10, F-11) werden in Abhängigkeit von Indikation und Ausprägung mit all- gemeiner Betreuung, medikamentengestützter Entgiftung oder Substitution behandelt. Das Abstinenzziel ist hier nicht primär in den Therapiezielen verankert. Störungen durch Cannabinoide (nach ICD-10, F-12) werden grundsätzlich durch Beratung und ggf. durch KoMedikationen , insbesondere in der Entgiftungssituation, behandelt. Sofern begleitende psychiatrische Störungen, hier insbesondere Psychosen, auftreten, werden sie selbst- verständlich nach den geltenden medizinischen Standards versorgt. Störungen durch Sedativa oder Hypnotika (nach ICD- 10, F-13) (insbesondere Entgiftungssituationen durch Sedativa, hier Benzodiazepine) werden als schwerwie- gend und unter Umständen lebensbedrohlich aufgrund des Krampfanfallrisikos behandelt, und es werden Medika- menten-gestützte Entgiftungen unter dem Aspekt einer relativ langsamen Reduktion der Substanzen durchge- führt. Grundsätzlich gilt hier ebenfalls das Abstinenzge- bot. Störungen durch Kokain (nach ICD-10, F-14) lassen sich nicht durch Substitution behandeln. Die auftretenden Entzugssymptomatiken müssen ggf. durch psychothera- peutische und medikamentöse Interventionen behandelt werden. Störungen durch andere Stimulanzien (nach ICD-10, F-15) sind individuell in Abhängigkeit von den jeweiligen Substanzen zu behandeln. Störungen durch Halluzinogene (nach ISD-10, F-16) sind insbesondere dadurch in der medizinischen Behandlung zu betrachten, dass eine po- tentielle Gefährdung durch Eigen- oder Fremdaggressivi- tät minimiert werden muss. Störungen durch Tabak (nach ICD-10, F-17) bedürfen im Allgemeinen keiner medizinischen Intervention, sofern ausreichende Möglichkeiten zum Fortsetzen des Konsums fortbestehen. Sofern jedoch eine zugrunde liegende respi- ratorische oder kardiale Erkrankung vorliegt, wird ver- sucht, im Sinne einer Risikominimierung auch den Niko- tinkonsum entsprechend zu minimieren. Störungen durch flüchtige Lösungsmittel (nach ICD- 10, F-18) werden primär einer Entgiftung und vor allen Dingen bei der Diagnostik auf begleitende Leberschäden zugeführt. Hier sind wie in allen Fällen ebenfalls indivi- duelle Lösungen angezeigt. Störungen multiplen Substanzgebrauch (nach ICD-10, F-19) sind regelhaft im Vollzug vorkommend und können hier nicht abschließend beurteilt werden. Grundsätzlich gilt, dass eine leitliniengerechte Versorgung unter Berücksichtigung der Hauptkonsumstoffe vorzunehmen ist. Darüber hinaus ist im Rahmen der therapeutischen In- terventionen zu unterscheiden, ob es sich um eine Intoxi- kation, einen schädlichen Gebrauch, ein Abhängigkeits- syndrom oder unterschiedliche Formen der Entzugssyn- drome mit oder ohne Delir bzw. psychotische, anestische oder sonstige Störungen handelt. Dieses bedeutet im Ein- zelnen, dass individuelle Beurteilungen des Ausprägungs- grades und der Störung vorgenommen werden müssen. Dieses betrifft auch das aktuelle Konsumverhalten, so muss bei bestehender aktueller Abstinenz eine entsprechende Intervention anders gestaltet werden, als wenn es sich um einen akuten Zustand mit gefährlichem Konsum handelt. Ebenfalls ist zu berücksichtigen, ob es sich um eine Konsumsituation in geschützter Umgebung handelt. Neben den rein medizinischen Interventionen sind darüber hinaus psychosoziale Betreuungsmaßnahmen und Sozialarbeit von elementarer Bedeutung. Diese werden ebenfalls im Berliner Justizvollzug gewährt. Wie bereits oben ausgeführt, beginnt die Behandlung mit dem Haftan- tritt. 6. Werden suchtkranke Personen in der U-Haft bei ei- nem Entzug unterstützt? a) Wenn ja, wie und ab wann? (Bitte Einzelauflistung nach Behandlungs- und Unterstützungsangeboten und der jeweiligen Suchterkrankung(en)). b) Wenn nein, warum nicht? c) Wenn nein, wie sollen suchtkranke Personen (ins- besondere bei einer Heroinsuchterkrankung) dann ohne die unter 5. genannte Hilfe mit ihrer Sucht in der U-Haft alleine zurechtkommen? Zu 6. und a): Ergibt sich aus der Antwort zu Frage 5. Zu b) und c): Entfällt Abgeordnetenhaus Berlin – 17. Wahlperiode Drucksache 17 / 11 877 3 7. Wird im Land Berlin in der U-Haft auf die gesund- heitlichen und psychosozialen Beeinträchtigungen von suchtkranken Personen eingegangen? a) Wenn ja, wie? b) Wenn nein, warum nicht? Zu 7.: Ja. Zu a) Es besteht ein umfangreiches Betreuungs- und Behandlungssetting durch psychologische, medizinische und sozialarbeiterische Interventionen. Lediglich ein Pro- gramm zur Durchführung von Entwöhnungsbehandlungen ist aufgrund der spezifischen Haftsituation im Vollzug nicht etabliert. Hier kommen dann insbesondere die Mög- lichkeiten nach § 35 BtmG oder vorzeitige Entlassung mit Therapieauflage in Betracht, welche in Zusammenarbeit mit Berliner Drogenberatungsstellen vorbereitet werden. Zu b): Entfällt 8. Wie wird im Land Berlin mit suchtkranken Perso- nen umgegangen, die in die U-Haft kommen und sich bereits in einer Substitutionstherapie finden? Zu 8.: Grundsätzlich werden begonnene Substitutio- nen bei bestehender Indikation weitergeführt. Gemäß den Richtlinien der Bundesärztekammer werden bei gefährli- chem Beikonsum die notwendigen Teilentgiftungen durchgeführt. 9. Wie, auf welcher Grundlage und durch wen wird entschieden, welche Behandlungs- und Unterstützungsan- gebote (im Sinne der Fragen 3-8) suchtkranken Personen in der U-Haft im Land Berlin gewährt werden? Zu 9.: Insoweit es sich um medizinische Behand- lungsentscheidungen handelt, werden diese durch die Ärzte des Berliner Justizvollzuges entschieden. Hier gel- ten die medizinischen Standards und rechtlichen Grundlagen . Psychologische und/oder sozialpädagogische Behand- lungen und Interventionen werden im Rahmen der Zu- gangsdiagnostik vorgeschlagen und in den Unterbrin- gungsbereichen durch das Fachpersonal in Abstimmung mit der/dem betreffenden Inhaftierten umgesetzt. Einzelne Justizvollzugsanstalten verfügen über eigene Unterbrin- gungsbereiche für suchtkranke Inhaftierte mit dem ent- sprechend erfahrenen Fachpersonal. Die darüber hinaus- gehenden suchttherapeutischen Maßnahmen werden durch die externen Drogenberatungsstellen angeregt. Eine Arbeitsgruppe aus Vertreterinnen und Vertretern aller Berliner Justizvollzugsanstalten tauscht sich regel- mäßig über die fachlichen Standards in der Arbeit mit drogenabhängigen Inhaftierten aus und verfolgt die aktu- ellen Entwicklungen in der außervollzuglichen Suchthilfe. Auch besteht eine enge Zusammenarbeit und ein regel- mäßiger fachlicher Austausch zwischen der Senatsverwaltung für Justiz und Verbraucherschutz, den Trägern der Suchthilfe und der Berliner Landesdrogenbeauftragten. Berlin, den 16. Mai 2013 In Vertretung Straßmeir Senatsverwaltung für Justiz und Verbraucherschutz (Eingang beim Abgeordnetenhaus am 23. Mai 2013)