Drucksache 17 / 11 998 Kleine Anfrage 17.17. Wahlperiode Kleine Anfrage des Abgeordneten Christopher Lauer (PIRATEN) vom 24. April 2013 (Eingang beim Abgeordnetenhaus am 29. April 2013) und Antwort Medikamenten- und Drogenrückstände im Berliner Wasser Die Drucksachen des Abgeordnetenhauses sind bei der Kulturbuch-Verlag GmbH zu beziehen. Hausanschrift: Sprosserweg 3, 12351 Berlin-Buckow · Postanschrift: Postfach 47 04 49, 12313 Berlin, Telefon: 6 61 84 84; Telefax: 6 61 78 28. Im Namen des Senats von Berlin beantworte ich Ihre Kleine Anfrage wie folgt: 1. Welche Mengen an Medikamenten (Antibiotika etc.) werden nach Kenntnis des Senats jährlich in Berlin entsorgt? Zu 1.: Die gewünschten Daten zur Medikamentenent- sorgung werden nicht erhoben und können daher nur ge- schätzt werden. Die Apotheken sind seit 2009 nicht mehr verpflichtet, Altmedikamente zurückzunehmen. In Berlin bietet die Berliner Stadtreinigung (BSR) in Kooperation mit der Berliner Apothekerkammer die „MEDITonne “ an. Diese wird derzeit von 230 Apotheken in Berlin genutzt. Sie dient der Rücknahme von Altmedika- menten, aber auch von nichtinfektiösen medizinischen Abfällen (z. B. Verbände, Einwegkleidung) und haus- müllähnlichen Abfällen. Die BSR kann keine genauen Angaben dazu machen, wie viele Altmedikamente über die „MEDI-Tonne“ entsorgt werden. Zusätzlich wurden auf den Schadstoffannahmestellen der BSR-Recycling- höfe 2012 rund 8 Tonnen Altmedikamente aus Haushal- ten abgegeben. 2. Welche Mengen an Medikamenten (Antibiotika etc.) werden nach Kenntnis des Senats jährlich über das Abwassersystem in Berlin entsorgt? Zu 2.: Hierzu liegen keine Daten vor. 3. Wie hoch schätzt der Senat die Belastung des Trinkwassers und der Gewässer im Stadtraum Berlin mit Rückständen von Medikamenten und Drogen ein? Zu 3.: Zur Belastung des Berliner Trinkwassers und des Oberflächengewässers mit Drogenrückständen liegen der Senatsverwaltung für Gesundheit und Soziales sowie der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Umwelt keine Kenntnisse vor. Die Einschätzung der Belastung von Oberflächenge- wässern hinsichtlich des Umweltrisikos für Flora und Fauna erfolgt anhand der für verschiedene Arzneistoffe auf der Grundlage von ökotoxikologischen Wirkungstests nach standardisierten Verfahren abgeleiteten Umweltqua- litätsnorm-Vorschlägen (UQN-V). Im Mittelpunkt der Diskussionen um eine Regelung von Arzneistoffen in Gewässern stehen seit einigen Jahren die Arzneistoffe Diclofenac (Antiphlogistika = Entzündungshemmer), Carbamazepin (Antiepileptikum) und Sulfamethoxazol (Antibiotikum). Alle nachfolgenden Ausführungen zur Gewässerbelastung beziehen sich auf diese drei Wirk- stoffe. Diese Stoffe haben grundsätzlich auch eine Indi- katorfunktion für die Belastungssituation mit weiteren Arzneistoffen. Die Arzneistoffkonzentrationen in Berliner Oberflä- chengewässern variieren in Abhängigkeit des Abwasser- anteils vom Gesamtabfluss. Der Vergleich der vorliegen- den Untersuchungsdaten mit den UQN-V zeigt, dass in den Gewässern bzw. Gewässerabschnitten mit erhöhten Abwasseranteilen (z.B. Vorstadtspree, Tegeler See, Tel- towkanal) die Normvorschläge erreicht und teilweise deutlich überschritten werden. Entsprechend dieses Be- wertungsansatzes ist in stark exponierten Gewässerab- schnitten eine Schädigung der aquatischen Ökosysteme aufgrund erhöhter Arzneistoffkonzentrationen als wahr- scheinlich anzusehen. In Gewässern mit geringen bis mitt- leren Abwasseranteilen liegen die Konzentrationen unter- halb der analytischen Bestimmungsgrenzen bzw. der Normvorschläge. Bezüglich der Einschätzung der Belastung des Trink- wassers siehe Antwort zu Frage 5. 4. Wie häufig werden das Trinkwasser und die Gewässer im Stadtraum Berlin durch welche Stellen auf welche Medikamenten- und Drogenrückstände hin be- probt? Abgeordnetenhaus Berlin – 17. Wahlperiode Drucksache 17 / 11 998 2 Zu 4.: Die Trinkwasserverordnung (TrinkwV 2001) dient der Umsetzung der EU-Trinkwasserrichtlinie. In § 6 Absatz 3 der Trinkwasserverordnung wird gefordert, dass Konzentrationen von chemischen Stoffen, die das Trink- wasser verunreinigen oder seine Beschaffenheit nachteilig beeinflussen können, so niedrig wie dies technisch mög- lich ist gehalten werden sollen (Minimierungsgebot). Ein- zelne chemische Wirkstoffe z. B. aus Medikamenten sind nach Vorgaben der TrinkwV 2001 nicht zu untersuchen. Im Rahmen der freiwilligen Eigenüberwachung der Trinkwasserqualität wurden im Labor der Berliner Was- serbetriebe (BWB) von 2008 bis 2011 mindestens 4x jähr- lich Untersuchungen auf Medikamente und seit 2012 mindestens 2x jährlich im Trinkwasser aus jedem Was- serwerk durchgeführt. Die Untersuchungsergebnisse zum Trinkwasser sind der Antwort zu Frage 5 zu entnehmen. Im Rahmen des Oberflächenwassermonitorings der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Umwelt wur- den zuletzt in den Jahren 2009 und 2010 an Messstellen in Dahme, Spree, Oberhavel und Teltowkanal für ausge- wählte Arzneistoffe Sonderuntersuchungen durchgeführt. Es erfolgten 6 - 12 Beprobungen pro Messstelle und Jahr. Eine gesetzliche Verpflichtung zu regelmäßigen Arz- neistoffuntersuchungen besteht derzeit nicht. Ergänzend liegen der Senatsverwaltung Untersuchungsergebnisse der Berliner Wasserbetriebe aus dem Zeitraum 2007 - 2012 für weitere Messstellen und Gewässer vor, die im Rah- men verschiedener Forschungsprojekte erhoben wurden. 5. In welcher Größenordnung wurden in den letzten fünf Jahren im Trinkwasser sowie in Gewässern im Stadt- raum Berlin Medikamenten- und Drogenrückstände ge- funden, um welche Wirkstoffgruppen handelte es sich dabei, und in welchen Trinkwasserproben sowie Gewäs- sern wurden sie jeweils gefunden? Zu 5.: In messbaren, aber sehr geringen, Konzentrati- onen gelangen einige Einzelsubstanzen wie iodierte Röntgenkontrastmittel und einige Medikamente wie Carbamazepin (Antiepileptikum), Diclofenac, Phenazone (Schmerzmittel), Sulfamethoxazol (Antibiotikum), Pri- midon (Antikonvulsivum) u. a. als sog. „Spurenstoffe“ in die Oberflächengewässer. Nur wenige der genannten Arzneistoffe werden in den Brunnen der Wasserwerke im unteren µg/l-Bereich gefunden. Die naturnahe Aufberei- tung des Rohwassers zu Trinkwasser durch Uferfiltration führt in einigen Fällen zur Eliminierung von Spurenstof- fen, andere wie das Carbamazepin können die Aufberei- tung passieren und werden im Trinkwasser in niedrigen Konzentrationen bis 0,12 µg/l nachgewiesen. Der ent- sprechende Gesundheitliche Orientierungswert (s. Ant- wort zu Frage 6) liegt bei 0,3 µg/l. Zum Vergleich: Um die Konzentration von einer Tablette Carbamazepin mit 200 mg zu erreichen, müssten 1 666 667 Liter Trinkwas- ser mit einer Konzentration von 0,12 µg/l getrunken wer- den. Die in Oberflächenwasserproben gemessenen Kon- zentrationen lagen in den Gewässern mit geringem bis mittlerem Abwasseranteil im Mittel unter 0,1 µg/l (Dicl- ofenac, Sulfamethoxazol) bzw. unter 0,5 µg/l (Carbama- zepin). Im Tegeler See wurden mittlere Konzentrationen von rd. 0,1 µg/l für Diclofenac, rd. 0,2 µg/l für Sulfame- thoxazol und rd. 0,6 µg/l für Carbamazepin festgestellt. Im Unterlauf des Teltowkanals, der insbesondere in den Sommermonaten durch extrem hohe Abwasseranteile gekennzeichnet ist, wurden im Untersuchungszeitraum 2009 und 2010 zeitweise Konzentrationen zwischen 1 und 2 µg/l gemessen. 6. Kann der Senat ausschließen, dass die unkontrollierte Aufnahme von Medikamenten und Drogen über das Trinkwasser gesundheitliche Auswirkungen auf Men- schen haben kann? Zu 6.: Das Trinkwasser wird durch die freiwillige Ei- genüberwachung der BWB regelmäßig auf Spurenstoffe kontrolliert. Zur gesundheitlichen Bewertung der Spuren- stoffe hat die Trinkwasserkommission beim Umweltbun- desamt einen Gesundheitlichen Orientierungswert (GOW) eingeführt. Dieser wird verwendet bei Anwesenheit von Stoffen im Trinkwasser, deren humantoxikologisch be- wertbare Datenbasis nicht gegeben oder unvollständig ist und deren mögliche Anwesenheit nicht durch einen Grenzwert in der Trinkwasserverordnung geregelt ist. Eine Höhe von 0,1 µg/l dient als erste Bewertungsbasis. Eine Einstufung im Bereich größer 0,1 µg/l bis kleiner / gleich 3 µg/l wird dann empfohlen, wenn wissenschaft- lich belastbare Aussagen zum toxikologischem Potential vorliegen. Die Untersuchungsergebnisse der BWB zeigen, dass diese toxikologischen Vorgaben zurzeit im Berliner Trinkwasser eingehalten werden. Daher ist mit hinrei- chender Sicherheit davon auszugehen, dass das Berliner Trinkwasser keine gesundheitlich schädliche Auswirkung auf die Gesundheit der Menschen hat. Aufgrund der demographischen Entwicklung, des da- mit verbundenen zunehmenden Anteils an älteren Men- schen, ist ein steigender Humanarzneimittelkonsum wahr- scheinlich und damit einhergehend mit einem Anstieg der Freisetzung in die Gewässer zu rechnen. Im Sinne des Vorsorgeprinzips sollte daher der heute gegebene Hand- lungsspielraum genutzt werden, um den Übergang von Medikamenten in das Trinkwasser zu verringern. 6a.: Welche Wirkstoffgruppen von Medikamenten und Drogen werden dabei als besonders problematisch eingeschätzt? Zu 6. a.: Vgl. Antwort zu Frage 5. 7. Wie bewertet der Senat die Notwendigkeit der rechtlichen Verankerung von Umweltqualitätsnormen und Grenzwerten für wichtige Wirkstoffe und wird er sich dafür auf Bundesebene einsetzen? Abgeordnetenhaus Berlin – 17. Wahlperiode Drucksache 17 / 11 998 3 Zu 7.: Auf europäischer Ebene ist im Rahmen der Fortschreibung der Richtlinie 2008/105/EG über Um- weltqualitätsnormen im Bereich der Wasserpolitik eine Verabschiedung von verbindlichen Umweltqualitätsnor- men für Arzneistoffe in Oberflächengewässern vorerst gescheitert. Aufgrund einer unzureichenden Datengrund- lage haben sich die Mitgliedsstaaten darauf verständigt, zunächst ein umfassendes europaweites Monitoring auf- zulegen. Zudem wird die EU-Kommission bis 2014 eine grundsätzliche Strategie zum Umgang mit Arzneistoffen vorlegen. Auf nationaler Ebene steht aktuell eine Überar- beitung der Verordnung zum Schutz der Oberflächenge- wässer (Oberflächengewässerverordnung vom 20. Juli 2011 - OGewV) einschließlich der darin deutschlandweit geregelten Stoffe an. In diesem Prozess wird von Seiten des Umweltbundesamtes eine Aufnahme von Arzneistof- fen mit besonderer Gewässerrelevanz in Deutschland an- gestrebt. Der Senat wird eine einheitliche nationale Re- gelung mit gesetzlich festgeschriebenen Umweltqualitäts- normen befürworten und unterstützen. 8. Sieht der Senat die Notwendigkeit, Maßnahmen zu ergreifen, um die Eintragungen von Medikamenten- und Drogenrückständen zu reduzieren? a. Wenn ja, welche konkreten Maßnahmen ergreift der Senat bereits oder wird er ergreifen? b. Wenn nein, warum ergreift er keine Maßnahmen? Zu 8.: Die Trinkwasserverordnung fordert für Spuren- stoffe ein Minimierungsgebot (s. Antwort zu Frage 4). Dieses wird zurzeit von den BWB eingehalten. Dennoch ist es erforderlich, die Situation zu beobach- ten und durch regelmäßige Untersuchungen und wissen- schaftliche Forschungen zu begleiten. Derzeit werden im Rahmen verschiedener Forschungsprojekte die Möglich- keiten der Entfernung organischer Spurenstoffe im All- gemeinen und Arzneistoffe im Besonderen aus Kläranla- genabläufen der Berliner Wasserbetriebe untersucht. Hierzu zählen die Projekte ASKURIS („Anthropogene Spurenstoffe und Krankheitserreger im urbanen Wasser- kreislauf: Bewertung, Barrieren und Risikokommunika- tion“) und IST4R („Vergleich verschiedener Verfahrensvarianten der weitergehenden Abwasserreinigung zur Entlastung der Berliner Gewässer – Integration der Spurenstoffentfernung in Technologieansätze der 4. Reini- gungsstufe bei Klärwerken“). Das Projekt IST4R wird durch das Berliner Umweltentlastungsprogramm cofinan- ziert. Der Senat wird sich in Abstimmung mit dem Land Brandenburg und den Berliner Wasserbetrieben dafür einsetzen, dass mit Hilfe der Ergebnisse der Forschungs- projekte eine für die spezifische Berliner Abwasserzu- sammensetzung und besondere Belastungssituation ge- eignete, kosteneffiziente Strategie zum Schutz der Ge- wässer entwickelt und umgesetzt wird. Darüber hinaus sind auf der Homepage der Senats- verwaltung für Gesundheit und Soziales http://www.berlin.de/imperia/md/content/sen-gesund- heit/notfallvorsorge/umweltbezogener_gesundheitsschutz/ 09_01_16_arzneimittel_entsorgen.pdf?start&ts=1233319 848&file=09_01_16_arzneimittel_entsorgen.pdf Informa- tionen für die Öffentlichkeit zum Umgang mit alten Me- dikamenten „Alte Arzneimittel richtig entsorgen“ eingestellt . Um den Eintrag von Medikamenten über die Klär- anlagen in das Oberflächengewässer zu reduzieren, ist es erforderlich, dass alte Arzneimittel nicht über die Toilette oder das Waschbecken entsorgt werden. Eine Entsorgung kann über die Sammelstellen der BSR oder über Apothe- ken, die eine Rücknahme anbieten, erfolgen. Da eine me- dizinisch notwendige Medikamenteneinnahme erforder- lich ist, kann somit ein zusätzlicher Eintrag in die Umwelt verhindert werden. 9. Welche Kosten sind durch die Beantwortung dieser Kleinen Anfrage entstanden? Zu 9.: Die Höhe der entstandenen Kosten wurde nicht erfasst. 10. Aufgrund welcher Datensätze bzw. Unterlagen wurden oben stehende Fragen beantwortet und inwieweit wäre es möglich, diese (ggf. in aufbereiteter Form) auf dem Berliner Open-Data-Portal einzustellen und fortlau- fend zu aktualisieren? Zu 10.: Die Fragen wurden teilweise aufgrund von In- formationen, die bereits auf anderen Internetseiten z. B. des Umweltbundesamtes oder der BSR veröffentlicht sind, beantwortet. Die Ergebnisse von Untersuchungen auf Medikamente werden durch die BWB gemeinsam mit den Analysenergebnissen im Rahmen der Eigenüberwa- chung regelmäßig an das Landesamt für Gesundheit und Soziales (LAGeSo) übermittelt. Das LAGeSo ist für die zentrale Trinkwasserüberwachung und die EU-Berichter- stattung nach der Trinkwasserverordnung zuständig. Die Ergebnisse der Untersuchungen auf Medikamente sind jedoch nicht berichtspflichtig. Bei Bedarf werden sie vom LAGeSo oder den BWB auf konkrete Anfragen z. B. im Rahmen von wissenschaftlichen Arbeiten (Studenten, Doktoranden) weitergegeben. Die für die Beschreibung der Gewässerbelastung ver- wendeten Daten des Oberflächengewässermonitorings der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Umwelt kön- nen über das Internet zur Verfügung gestellt werden. Berlin, den 30. Mai 2013 In Vertretung Emine D e m i r b ü k e n - W e g n e r _____________________________ Senatsverwaltung für Gesundheit und Soziales (Eingang beim Abgeordnetenhaus am 05. Jun. 2013)