Drucksache 17 / 12 309 Kleine Anfrage 17. Wahlperiode Kleine Anfrage der Abgeordneten Clara Herrmann (GRÜNE) vom 21. Juni 2013 (Eingang beim Abgeordnetenhaus am 24. Juni 2013) und Antwort „Reichsbürger“ in Berlin? Die Drucksachen des Abgeordnetenhauses sind bei der Kulturbuch-Verlag GmbH zu beziehen. Hausanschrift: Sprosserweg 3, 12351 Berlin-Buckow · Postanschrift: Postfach 47 04 49, 12313 Berlin, Telefon: 6 61 84 84; Telefax: 6 61 78 28. Im Namen des Senats von Berlin beantworte ich Ihre Kleine Anfrage wie folgt: 1. Wie groß ist das Personenpotenzial, welches unter dem Schlagwort „Diskursorientierter Rechtsextremismus“ im Berliner Verfassungsschutzbericht 2012 genannt wird? Zu 1.: Ein Gesamt-Personenpotenzial des „Diskursorientierten Rechtsextremismus“ ist in Berlin aktuell schwer zu quantifizieren, da die dieser - nach Verboten und Selbstauflösungen weitgehend marginalisierten - Szene zugehörigen Einzelpersonen in Berlin nicht öffentlich in Erscheinung treten. 2. Welche Organisationen, Zusammenschlüsse, Dis- kussionskreise, Publikationen und Internetadressen fallen unter den Begriff „Diskursorientierter Rechtsextremismus “? Zu 2.: Der Begriff „Diskursorientierter Rechtsextremismus “ orientiert sich an der zuletzt im aktuellen Teil des Verfassungsschutzberichtes 2008 verwandten Defini- tion. Danach setzt sich der „Diskursorientierte Rechtextremismus “ aus Personen zusammen, die in den verbotenen Organisationen „Verein zur Rehabilitierung des wegen Bestreitens des Holocaust Verfolgten“ (VRBHV) und „Heimattreue Deutsche Jugend“ (HDJ) sowie dem selbstaufgelösten „Kampfbund Deutscher Sozialisten“ (KDS) aktiv waren. Hinzu kommen Einzelpersonen, die die Exis- tenz der Bundesrepublik Deutschland nicht anerkennen und sich in Netzwerken wie dem der „Reichsbürger“, Holocaustleugnern oder auch so genannten „Kommissarischen Reichsregierungen“ bewegen. Über organisatorische Strukturen dieser Szene liegen in Berlin aktuell keine Erkenntnisse vor. 3. Wie groß ist der Anteil von sogenannten „Reichsbürgern “, „Reichsbewegung(en)“ „Reichsregierungen“ beim „Diskursorientierten Rechtsextremismus“? Zu 3.: Siehe Antworten zu Fragen 1 und 4. Weitere Erkenntnisse liegen dem Senat nicht vor. 4. Welche Organisationen und Zusammenschlüsse aus dem Spektrum der „Reichsbürger“ bzw. „Reichsbewegung “ sind in Berlin aktiv? Zu 4.: Die Begriffe „Reichsbürgerbewegung“, „Reichsbewegung“ oder „Reichsbürger“ sind definitorisch nicht festgelegt. Allerdings gibt es Kriterien, unter deren Zuhilfenahme verschiedene Gruppierungen und Personen unter diesen Oberbegriffen subsummiert werden können. Unter Berufung auf das Deutsche Reich leugnen diese Gruppierungen und Personen aus verschiedensten Gründen die Existenz der Bundesrepublik Deutschland bzw. negieren deren Staatlichkeit. Angehörige derartiger Gruppierungen weisen sich teilweise mit Phantasiepapie- ren wie „Reichsausweisen“ und „Reichsführerscheinen“ aus. Auch werden Pseudo-Ämter wie das des „Reichskanzlers “ oder „Reichsministers“ vergeben. Häufig agieren die Personen bzw. mutmaßlichen Gruppen oder Netzwerke aus der Anonymität heraus. Aufgrund der Verschleierung ihrer Identität durch die Nutzung von Providern im Ausland ist eine Strafverfol- gung bzw. Namhaftmachung der Autoren stark erschwert oder nicht möglich. Andererseits fallen einzelne Angehörige dieser Szene unter Angabe ihrer vollen Identität mit querulatorischen Schreiben an Ämter und Behörden auf, in denen sie die Legitimität der Amtshandlungen bzw. der Existenz der angeschriebenen Dienststelle oder der gesamten Verwal- tung in Frage stellen. Teilweise werden den Adressaten im Falle einer Wiedererlangung der Handlungsfähigkeit des angeblich formal noch existierenden Deutschen Reichs Strafmaßnahmen angedroht. Anhand dieser Kriterien können aktuell folgende in Berlin agierende oder in Bezug zu Berlin thematisierte Organisationen genannt werden: Abgeordnetenhaus Berlin – 17. Wahlperiode Drucksache 17 / 12 309 2 o „Reichsbewegung – Neue Gemeinschaft von Philosophen “ o „Deutsches Polizei Hilfswerk“ (DPHW) o „Kommissarische Reichsregierung“ o „Deutsches Amt für Menschenrechte“ 5. Welche Kenntnisse hat der Senat über Treffpunkte, die von diesen Organisationen oder Zusammenschlüssen genutzt werden? (Bitte mit Adresse, Bezirk und Art des Treffpunktes (z.B. Kneipe) angeben) Zu 5.: Dem Senat liegen keine Erkenntnisse zu Treff- orten dieser Organisationen oder Zusammenschlüsse vor. 6. Werden Treffpunkte von „Reichsbürgern“ bzw. der „Reichsbewegung“ von anderen Rechtsextremisten genutzt ? Wenn ja, welche von wem genau? Zu 6.: Entfällt. 7. Welche Kenntnis hat der Senat über Verbindungen zwischen der im Verfassungsschutzbericht 2012 genann- ten „Reichsbewegung“ und anderen Akteuren der rechtsextremen Szene in Berlin, insbesondere zum „Aktionsorientiertem “ bzw. „Parlamentsorientiertem Rechtsextremismus “? Zu 7.: Bei der „Reichsbewegung – Neue Gemeinschaft von Philosophen“ handelt es sich um eine Gruppe oder Einzelpersonen, die in einer Mischszene zwischen Holocaustleugnern und den so genannten Kommissari- schen Reichsregierungen anzusiedeln sind. Zu Zielen und Ideologie dieser heterogenen Szene wird auf die Antwort zu Frage 4 verwiesen. Zu der Identität der Betreiberinnen oder Betreiber der Homepage der „Reichsbewegung“ liegen dem Senat keine Erkenntnisse vor (siehe Antwort zu Frage 4). Diese Szene, und somit auch die „Reichsbewegung“, wurde in der Vergangenheit mit ihren kruden Theorien im rechtsextremistischen Spektrum kaum wahrgenommen. Ebenso hält man in weiten Teilen des Rechtsextremismus einen zu offensichtlichen Antisemitismus oder Fremden- feindlichkeit für gefährlich, da derartige Äußerungen strafrechtlich geahndet werden können und insbesondere Teilen der Wählerschaft in dieser Schärfe als nicht ver- mittelbar gelten. 8. Beziehen sich andere Rechtsextremisten auf die Ideologie der „Reichsbürger“ bzw. „Reichsbewe-gung“? Wenn ja, wer und wie sieht diese Bezugnahme genau aus? Zu 8.: Siehe Antwort zu Frage 7. 9. Nehmen vorher nicht als Rechtsextremisten bzw. Sympathisanten der „Reichsbewegung“ aufgefallene Personen die Argumentation des Spektrums der „Reichsbürger “ bzw. der „Reichsbewegung“ auf? Wenn ja, wie sieht das genau aus und wie groß ist der Umfang? Zu 9.: Nach Einschätzung des Senats übernehmen auch solche Personen die Argumentation des Spektrums der „Reichsbürger“, die sich eher durch Verwirrung und unnötige Belastung der Verwaltungsbehörden einen per- sönlichen Vorteil in eigenen Angelegenheiten (Gebühren, Steuern, Bußgelder), z.B. durch die Nutzung von pseudo- amtlichen Dokumenten oder Provokation von Formfeh- lern, versprechen. 10. Welche Kenntnisse hat der Senat über Versuche der „Reichsbürger“ bzw. „Reichsbewegung“ durch öffentlich und nicht-öffentliche Veranstaltung neue Interessen- ten anzuwerben?" Wenn ja, wie erfolgreich sind die Ver- suche? Zu 10.: Öffentliche oder nicht-öffentliche Veranstal- tungen in Berlin von so genannten „Reichsbürgern” wurden dem Senat in der Vergangenheit nicht bekannt. 11. Wie schätzt der Senat die Organisation „Deutsches Polizei Hilfswerk“ ein? Wie viele Personen sind in diesem Zusammenschluss organisiert? Sind dem Senat Akti- vitäten dieser Organisation oder von Mitgliedern, die sich dieser Organisation zurechnen in Berlin bekannt? Wenn ja, welche? Zu 11.: Die Organisation „Deutsches Polizei Hilfswerk “ (DPHW) ist eine Gruppierung, die mit Namensund Erscheinungsähnlichkeiten eine Nähe zur Polizei bzw. zu Polizeigewerkschaften suggerieren möchte. Während eines Polizeieinsatzes im Juli 2012 anläss- lich einer Durchsuchung in Neukölln bei einer als „Reichsbürger“ einzuschätzenden Person wurde eine weitere männliche Person festgestellt, die einen blauen Einsatzoverall mit dem Schriftzug „DPHW – DEUTSCHE POLIZEI“ trug und sich als Vertreter der „einzig wahren Deutschen Polizei“ ausgab. Es wurde ein Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts der Amtsanmaßung eingeleitet. Laut der Internetpräsenz des DPHW hat sich das DPHW zum 29. Juni 2013 aufgelöst. Erkenntnisse über die Stärke des in Berlin dem DPHW zuzurechnenden Personenkreises sowie der angeblichen Auflösung des DPHW liegen dem Senat nicht vor. 12. Welche Kenntnisse hat der Senat über einen qua- litativen bzw. quantitativen Zuwachs der Aktivitäten des sogenannten „Reichsbürger“ bzw. „Reichsbewegung“ Spektrums? Zu 12.: Dem Senat liegen dazu keine Erkenntnisse vor. Abgeordnetenhaus Berlin – 17. Wahlperiode Drucksache 17 / 12 309 3 13. Wie oft haben sich in Berlin Personen mit Doku- menten von „Reichsregierungen“ in den Jahren 2011 und 2012 versucht auszuweisen bzw. gegenüber Ämtern und Behörden auf „Reichsregierungen“ und ähnlichen „Organisationen “ und „Staaten“ bezogen? Zu 13.: Zu den Versuchen von so genannten „Reichsbürgern “, „Reichsbewegungen“ oder „Reichsregierungen “, sich gegenüber Ämtern oder Amtspersonen als Angehörige eines Phantasiestaatswesens auszuweisen, werden keine gesonderten Statistiken erhoben. Daher kann der Senat hierzu keine validen Angaben machen. 14. Wie viele Straftaten wurden von „Reichsbürgern“ im Zuge ihrer Tätigkeiten in den Jahren 2010, 2011 und 2012 für ihre Organisationen begangen? Welche waren dies? Zu 14.: Zu eventuellen Straftaten von so genannten „Reichsbürgern“, „Reichsbewegungen“ oder „Reichsregierungen “ werden ebenfalls keine gesonderten Statistiken erhoben. Siehe Antwort zu Frage 13. 15. Wie viele Schulen, Kindergärten und Jugend- und Glaubenseinrichtungen haben im Jahr 2012 Post von Reichsbürgern bekommen? (Bitte auflisten) Was unter- nimmt der Senat zur Betreuung von Adressaten entspre- chender Post aus dem Milieu der „Reichsbürger“? Zu 15.: Im Jahr 2012 wurde durch die Gruppierung "Reichsbewegung - Neue Gemeinschaft von Philosophen" ein acht Seiten umfassender Brief unter der Überschrift "Ausweisung aus Deutschland" verbreitet. In diesem Schreiben werden in Deutschland lebende Ausländer und Deutsche mit Migrationshintergrund unter Androhung ihrer Ermordung zur Ausreise aus Deutschland aufgefor- dert. Dem Senat wurden im Jahr 2012 folgende 12 Schulen, Jugend- und Glaubenseinrichtungen bekannt, bei denen ein Schreiben der Reichsbürgerbewegung "Reichsbewe- gung - Neue Gemeinschaft von Philosophen" einging: o Israelitische Synagogen-Gemeinde zu Berlin o Jüdische Gemeinde zu Berlin o Zentralrat der Juden in Deutschland o Türkische Gemeinde in Deutschland o Türkisch-Islamische Gemeinschaft Berlin-Tegel o Sehitlik-Moschee o Haci Bayram Moschee o Deutsch-Türkische Gesellschaft e. V. Berlin o Türkischer Elternverein Berlin e. V. o Loyal e. V. o Wilhelm-Busch-Schule o Taxischule „Royal“ Grundlage für die Beantwortung der Anfrage bildet der „Kriminalpolizeiliche Meldedienst in Fällen Politisch motivierter Kriminalität“ (KPMD-PMK). Dabei handelt es sich entgegen der „Polizeilichen Kriminalstatistik“ (PKS) um eine Eingangsstatistik. Die Fallzählung erfolgt tatzeitbezogen, unabhängig davon, wann das Ermittlungs- verfahren an die Staatsanwaltschaft abgegeben wurde. Ein Fall bezeichnet jeweils einen Lebenssachverhalt in einem engen räumlichen und zeitlichen Zusammenhang mit identischer oder ähnlicher Motivlage, unabhängig von der Zahl der Tatverdächtigen, Tathandlungen, Anzahl der verletzten Rechtsnormen oder der eingeleiteten Ermitt- lungsverfahren. Adressatinnen und Adressaten derartiger Hetzschriften können sich an die Polizei wenden. 16. Wie schätzt der Senat den Fund von Chemikalien und Feuerwerkskörpern auf dem Gelände eines „Reichsbürgers “ in Berlin-Neukölln ein? Sind die dort aufgefundenen Chemikalien zum Bau von Sprengkörpern geeig- net? Ist mit Anschlägen von Personen aus diesem Milieu zu rechnen? Zu 16.: Am 8. Januar 2013 wurde aufgrund eines Amts- und Vollzugshilfeersuchens des Landesamtes für Arbeitsschutz, Gesundheitsschutz und technische Sicher- heit (La-GetSi) sowie zur Vollstreckung eines verwal- tungstechnischen Durchsuchungs- und Sicherstellungsbe- schlusses gegen einen Betroffenen durch die Polizei Ber- lin eine ordnungsbehördliche Überprüfung in Berlin- Neukölln durchgeführt. Anlass war die widerrufene Erlaubnis nach § 7 des Gesetzes über explosionsgefährliche Stoffe (SprengG), wonach die betroffene Person seit dem 7. Dezember 2012 die tatsächliche Gewalt über die erlaubnispflichtigen pyrotechnischen Gegenstände nicht mehr ausüben durfte. Diese Person hat sich gegenüber dem LAGetSi in ih- rer Korrespondenz auf ihre Staatsangehörigkeit einer sogenannten „Republik Freies Deutschland“ bezogen, ohne dass hierbei der Begriff „Reichsbürger“ verwendet wurde. Möglicherweise handelt es sich bei dem ehemals Gewerbetreibenden um die in der Anfrage gemeinte Per- son. Der illegale Besitz der aufgefundenen erlaubnispflich- tigen pyrotechnischen Gegenstände - nach Widerruf der Erlaubnis - stellt einen Verstoß gegen das Sprengstoffge- setz dar und schließt eine abstrakte Gefahr zum Bau von Sprengkörpern grundsätzlich nicht aus. Dem Senat liegen keine konkreten Anhaltspunkte vor, nach denen der Bau von anschlagsgeeigneten „Sprengkörpern “ beabsichtigt gewesen wäre oder mit Anschlägen aus dem Personenfeld der „Reichsbewegung“ bzw. „Reichsbürger“ zu rechnen ist. Berlin, den 21. August 2013 Frank Henkel Senator für Inneres und Sport (Eingang beim Abgeordnetenhaus am 01. Okt. 2013)