Drucksache 17 / 12 538 Kleine Anfrage 17. Wahlperiode Kleine Anfrage der Abgeordneten Jasenka Villbrandt (GRÜNE) vom 08. August 2013 (Eingang beim Abgeordnetenhaus am 15. August 2013) und Antwort Sieht der Senat im Wahlrechtsausschluss einen Verstoß gegen die Menschenrechte? Die Drucksachen des Abgeordnetenhauses sind bei der Kulturbuch-Verlag GmbH zu beziehen. Hausanschrift: Sprosserweg 3, 12351 Berlin-Buckow · Postanschrift: Postfach 47 04 49, 12313 Berlin, Telefon: 6 61 84 84; Telefax: 6 61 78 28. Im Namen des Senats von Berlin beantworte ich Ihre Kleine Anfrage wie folgt: 1. Wie viele Berlinerinnen und Berliner wurden von der Wahl des Abgeordnetenhauses von Berlin im Jahr 2011 nach § 2 Landeswahlgesetz ausgeschlossen, bitte gegliedert nach Personen, die 1. infolge Gerichtsent- scheids das Wahlrecht nicht besitzen, 2. für die zur Be- sorgung aller ihrer Angelegenheiten ein Betreuer nicht nur durch einstweilige Anordnung bestellt ist, 3. sich nach § 63 in Verbindung mit § 20 des Strafgesetzbuchs in einem psychiatrischen Krankenhaus befinden? Zu 1.: Die genaue Zahl der am Tag der Wahl zum Ab- geordnetenhaus von Berlin im Jahr 2011 nach § 2 des Landeswahlgesetzes (LWG) vom aktiven Wahlrecht aus- geschlossenen Berlinerinnen und Berliner, wie auch die erfragte Aufschlüsselung, lassen sich aus technischen Gründen zum jetzigen Zeitpunkt nicht mehr ermitteln. Zur Beantwortung der Frage kann daher nur auf die jeweils zum 31. Dezember und 30. Juni jeden Jahres erstellten Statistikabzüge des Melderegisters zurückgegriffen wer- den. Danach waren am 30. Juni 2011 insgesamt 679 mit Hauptwohnung in Berlin melderechtlich registrierte Deut- sche vom aktiven Wahlrecht ausgeschlossen, am 31. De- zember 2011 waren es insgesamt 666. Die Zahl der am 18. September 2011, dem Tag der letzten Abgeordneten- hauswahl, vom Wahlrecht ausgeschlossenen Berlinerin- nen und Berliner dürfte daher zwischen 666 und 679 gelegen haben. Die im Rahmen der Beantwortung der Kleinen Anfra- ge Nr. 17/10390 seitens der Senatsverwaltung für Justiz und Verbraucherschutz vorgenommene Auswertung der Strafverfolgungsstatistik der Jahre 2001 bis 2010 legt nahe, dass der Anteil der Personen, die aufgrund einer strafgerichtlichen Aberkennung des aktiven Wahlrechts im Sinne des § 2 Nr. 1 LWG von der Wahl zum Abge- ordnetenhaus im Jahr 2011 ausgeschlossen waren, an diesen 666 bis 679 Wahlrechtsauschlüssen verschwindend gering war – sofern es diese Fälle des Wahlrechtsausschlusses bei der Wahl 2011 überhaupt gegeben haben sollte. Auf die diesbezüglichen Ausführungen zu 2. wird ergänzend verwiesen. 2. Wie viele Berlinerinnen und Berliner werden vo- raussichtlich von der diesjährigen Bundestagswahl nach § 13 Bundeswahlgesetz ausgeschlossen, bitte gegliedert nach Personen, die 1. infolge Gerichtsentscheids das Wahlrecht nicht besitzen, 2. für die zur Besorgung aller ihrer Angelegenheiten ein Betreuer nicht nur durch einst- weilige Anordnung bestellt ist, 3. sich nach § 63 in Ver- bindung mit § 20 des Strafgesetzbuchs in einem psychiat- rischen Krankenhaus befinden? Zu 2.: Nach dem Berliner Melderegister, auf dem die Wählerverzeichnisse für die Bundestagswahl beruhen, waren am 20. August 2013 702 mit Hauptwohnung in Berlin melderechtlich registrierte Deutsche vom aktiven Wahlrecht ausgeschlossen. Da im Melderegister ausschließlich die Tatsache des Wahlrechtsausschlusses sowie der Verweis auf das dies- bezügliche Beweismittel gespeichert werden darf (in der Praxis sind dies der Name des Gerichts, auf dessen Ent- scheidung der Wahlrechtsausschluss beruht sowie das Geschäftszeichen des zugrunde liegenden Verfahrens und das Datum der Entscheidung), ist die erfragte Aufschlüs- selung nach den einzelnen Tatbeständen des § 13 des Bundeswahlgesetzes (BWahlG) nur durch Auswertung der Verfahrensgeschäftszeichen möglich. Diese Auswer- tung des Melderegisters erlaubt allerdings lediglich eine Unterscheidung zwischen zivilgerichtlichen und strafge- richtlichen Entscheidungen, die zum Wahlrechtsaus- schluss nach § 13 Nr. 2 BWahlG einerseits und nach § 13 Nr. 1 und 3 BWahlG andererseits führen. Eine weitere Differenzierung nach strafgerichtlichen Entscheidungen im Sinne des § 13 Nr. 1 und Nr. 3 BWahlG anhand der Verfahrensgeschäftszeichen ist nicht möglich. Die Aus- wertung der Verfahrensgeschäftszeichen zum 20. August 2013 ergibt, dass den voraussichtlichen Wahlrechtsaus- schlüssen bei der diesjährigen Bundestagswahl in 378 Fällen zivilgerichtliche (Betreuungs-) Entscheidungen und in 317 Fällen strafgerichtliche Entscheidungen zu- grunde liegen. In den übrigen Fällen war eine Zuordnung nicht zweifelsfrei möglich. Abgeordnetenhaus Berlin – 17. Wahlperiode Drucksache 17 / 12 538 2 Auf der Grundlage der o. g. Auswertung der Strafver- folgungsstatistik der Jahre 2001 bis 2010 durch die Se- natsverwaltung für Justiz und Verbraucherschutz kann davon ausgegangen werden, dass die 317 Wahlrechtsaus- schlüsse aufgrund strafgerichtlicher Entscheidungen na- hezu ausschließlich Fälle der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus (§ 13 Nr. 3 BWahlG) be- treffen. Im Land Berlin wurde in diesem Zeitraum näm- lich in keinem Fall ein Entzug des aktiven Wahlrechts als strafrechtliche Nebenfolge (§ 13 Nr. 1 BWahlG) ausge- sprochen. 3. Welche Schlussfolgerung zieht der Senat aus der Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention in Bezug auf das Landeswahlgesetz (speziell Artikel 29 Teilhabe am politischen und öffentlichen Leben)? Sieht der Senat die Teilhabe am politischen und öffentlichen Leben von Menschen mit Behinderungen durch das Lan- deswahlgesetz gewährleistet? 4. Inwieweit hält der Senat den Wahlrechtsausschluss von Menschen mit Behinderungen, für die zur Besorgung aller ihrer Angelegenheiten ein Betreuer nicht nur durch einstweilige Anordnung bestellt ist oder die im Rahmen des Maßregelvollzugs in einem psychiatrischen Kranken- haus untergebracht sind, völkerrechts- und verfassungs- konform? Zu 3. und 4.: Der Ausschluss von Menschen mit Be- hinderungen vom Wahlrecht aufgrund einer Betreuung in allen Angelegenheiten oder aufgrund der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus auf Anordnung nach dem Strafgesetzbuch im Europa-, Bundes- wie Lan- deswahlrecht bedarf nach Ansicht des Senats einer politi- schen Überprüfung. Im Rahmen der Erarbeitung des Nationalen Aktions- plans zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskon- vention hat die Bundesregierung beschlossen, in einer Studie zur aktiven und passiven Beteiligung von Men- schen mit Behinderungen an Wahlen die reale Praxis in diesem Bereich zu untersuchen und Handlungsempfeh- lungen zu entwickeln. Erst auf der Grundlage der Ergeb- nisse dieser Studie von bundesweiter Bedeutung, die derzeit noch nicht abgeschlossen ist, kann eine belastbare rechtliche wie politische Bewertung der derzeitigen Rege- lungen über Wahlrechtsausschlüsse im Wahlrecht vorge- nommen werden. Diesem Prozess der wissenschaftlichen Bewertung der wahlrechtlichen Bedingungen der Partizi- pation von Menschen mit Behinderungen will der Senat nicht vorgreifen. 5. Strebt der Senat eine Novellierung des Landes- wahlgesetzes durch das Abgeordnetenhaus von Berlin an, wenn ja wann und mit welchem Inhalt und wenn nein, warum nicht? Zu 5.: Der Senat beabsichtigt, Landeswahlgesetz und Landeswahlordnung noch in der laufenden Wahlperiode punktuell zu novellieren und wird zu gegebener Zeit einen diesbezüglichen Gesetzentwurf vorlegen. Dabei sollen in erster Linie Anpassungen des Landeswahlrechts an zwi- schenzeitlich erfolgte Änderungen des Bundeswahlrechts erfolgen, die auf das Landeswahlrecht übertragbar sind und eine Verbesserung des Wahlverfahrens zum Ziel haben. Ob Gegenstand dieser Novellierung auch § 2 LWG sein wird, hängt zunächst vom Zeitpunkt der Vorlage der zu 4. erwähnten Studie und sodann von ihren Ergebnissen und deren rechtlicher wie politischer Bewertung ab. 6. Befürwortet der Senat ein inklusives Wahlrecht? Zu 6.: Das Wahlrecht sowohl auf Bundes- wie auch Landesebene muss mit höherrangigem Recht in Einklang stehen; es muss daher insbesondere diskriminierungsfrei sein. In diesem Sinne befürwortet der Senat ein inklusives Wahlrecht. 7. Inwieweit wird der Senat sich für eine Änderung des Bundeswahlgesetzes sowie des Europawahlgesetzes einsetzen? Zu 7.: Das Land Berlin hat den zu 4. erwähnten Be- schluss des Bundesrats vom 22. März 2013 (Bundesrats- Drucksache 49/13 (Beschluss)) unterstützt. Im Lichte der Ergebnisse der von der Bundesregierung im Nationalen Aktionsplan zur Umsetzung der UN- Behindertenrechtskonvention angekündigten Studie zur aktiven und passiven Beteiligung von Menschen mit Be- hinderungen an Wahlen wird der Senat zu gegebener Zeit entscheiden, ob Berlin im Bundesrat auf eine Änderung von Bundeswahlgesetz und Europawahlgesetz hinwirken soll. Berlin, den 16. September 2013 Frank Henkel Senator für Inneres und Sport (Eingang beim Abgeordnetenhaus am 15. Okt. 2013)