Drucksache 17 / 12 616 Kleine Anfrage 17. Wahlperiode Kleine Anfrage der Abgeordneten Clara Herrmann (GRÜNE) vom 03. September 2013 (Eingang beim Abgeordnetenhaus am 04. September 2013) und Antwort Soziale Kriterien in der Vergabe Die Drucksachen des Abgeordnetenhauses sind bei der Kulturbuch-Verlag GmbH zu beziehen. Hausanschrift: Sprosserweg 3, 12351 Berlin-Buckow · Postanschrift: Postfach 47 04 49, 12313 Berlin, Telefon: 6 61 84 84; Telefax: 6 61 78 28. Im Namen des Senats von Berlin beantworte ich Ihre Kleine Anfrage wie folgt: 1. Welche Senatsverwaltungen sind für die Umset- zung der sozialen Kriterien (u.a. ILO Kernarbeitsnormen) in der Beschaffung nach dem BerlAVG zuständig und in welcher Form sind sie an der Umsetzung beteiligt? Zu 1.: Das Berliner Ausschreibungs- und Vergabege- setz (BerlAVG) richtet sich an alle öffentlichen Auftrag- geber, die dem Land Berlin zuzurechnen sind. Dazu gehö- ren insbesondere die Senatsverwaltungen. Das BerlAVG macht den öffentlichen Auftraggebern detaillierte Vorga- ben zur Leistungsbeschreibung, zu Vertragsbedingungen und zu Wertungskriterien sowie zur Vertragskontrolle. D.h., dass das Gesetz von jedem öffentlichen Auftragge- ber Berlins umgesetzt wird. 2. Die Erfahrung anderer Bundesländer zeigt, dass kla- re und verbindliche Vorgaben zur Berücksichtigung öko- logischer und sozialer Kriterien bei der öffentlichen Auf- tragsvergabe für eine umfassende Beachtung aller Krite- rien grundlegend sind. Welche Kenntnisse/Erfahrungen hat in diesem Zusammenhang Berlin? a) Bisher gibt es für die Beachtung der Vorgaben aus dem BerlAVG für die Einhaltung der sozialen Kriterien in der Vergabe lediglich Rundschreiben, keine vergleichbare Verwaltungsvorschrift, wie sie für die ökologischen Kri- terien in Form der VwVBU bereits existiert. Aus welchen Gründen gibt es keine vergleichbare Verwaltungsvor- schrift für die Berücksichtigung sozialer Kriterien im Einkauf? Ist eine solche für Beschaffungsverantwortliche zur Einhaltung sozialer Kriterien geplant, wenn ja in wel- cher Form, wenn nein warum nicht? Zu 2.: Die Vorgabe verbindlicher Kriterien bei der Be- rücksichtigung ökosozialer und anderer Aspekte wird durch das Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB) vorgeschrieben; unbestimmte Kriterien wären vergaberechtswidrig. Dies wurde bereits im Rechtsset- zungsverfahren berücksichtigt. Zu 2. a): Die rechtlichen Vorgaben im BerlAVG sind grundsätzlich ausreichend. Nur bei Änderungen des Ge- setzes, in den erläuterungsbedürftigen Fällen, z.B. bei unbestimmten Rechtsbegriffen, oder der Herausgabe von Formularen wird ein entsprechendes Rundschreiben her- ausgegeben. Ausgenommen hiervon sind die Regelungen für die umweltfreundliche Beschaffung und die Liste der Produkte und Produktgruppen, bei denen die Maßnahmen zur Einhaltung der ILO-Kernarbeitsnormen (ILO: Interna- tionale Arbeitsorganisation) zu ergreifen sind. Das Ber- lAVG enthält lediglich eine Ermächtigungsgrundlage für den Erlass von Verwaltungsvorschriften für die umwelt- freundliche Beschaffung, bzw. für die Veröffentlichung der Produktliste. Um möglichst schnell auf Innovationen im Bereich umweltfreundlicher Produkte und Verfahren reagieren zu können und wegen der technischen Details der Regelungen wäre eine Verankerung im Gesetz un- praktikabel gewesen. Vergleichbar verhält es sich mit der Produktliste. 3. Wie stellt der Senat sicher, dass beim Einkauf mit öffentlichen Mitteln keine Waren beschafft werden, bei deren Herstellung menschenunwürdige und menschen- rechtsverletzende Arbeitsbedingungen herrschen? a) Welche Nachweise werden in der Praxis zur Einhal- tung ökologischer und sozialer Kriterien erbracht? (bitte aufschlüsseln) b) Wie hoch ist der Anteil der unabhängigen Nach- weise und Zertifikate, die von Bietern vorgelegt werden? (bitte Anteil jeweils für Nachweise/Zertifikate einzeln aufschlüsseln) c) Wie werden Eigenerklärungen zur Einhaltung der sozialen Kriterien (ILO Kernarbeitsnormen) für die ge- samte Lieferkette überprüft? d) Wie beurteilt der Senat die Aussagekraft der einge- reichten Eigenerklärungen zur Einhaltung der sozialen Kriterien? Zu 3.: Die öffentlichen Auftraggeber sind grundsätz- lich verpflichtet, die vertragsgemäße Einhaltung eines öffentlichen Auftrags nach Maßgabe des BerlAVG zu prüfen. Gemäß Nr. 10.3.2 der Ausführungsvorschriften zu Abgeordnetenhaus Berlin – 17. Wahlperiode Drucksache 17 / 12 616 2 § 55 Landeshaushaltsordnung (LHO) übernimmt inner- halb der unmittelbaren Landesverwaltung der Beauftragte bzw. die Beauftragte für den Haushalt oder der Titelver- walter bzw. die Titelverwalterin die Verantwortung dafür, dass bei einem öffentlichen Auftrag alle sonstigen im Zusammenhang mit dem Auftrag stehenden Vorschriften eingehalten worden sind. Hierzu gehört u.a. auch die Einhaltung der im Berliner Ausschreibungs- und Verga- begesetz (BerlAVG) vorgesehenen Auflagen und Pflich- ten der Auftragnehmer sowie Nachauftragnehmer. Zu 3. a) und b): Der Senat kann aufgrund der dezent- ralen Fach- und Ressourcenverantwortung keine konkre- ten Angaben machen; Statistiken werden hierüber nicht geführt. Beispielsweise kann der Nachweis zur Einhal- tung von Umweltschutzanforderungen gemäß Verwal- tungsvorschrift Beschaffung und Umwelt durch die Vor- lage eines Umweltzeichens (z.B. Blauer Engel, Europäi- sches Umweltzeichen) oder durch gleichwertige techni- sche Unterlagen dokumentiert werden. Es wird davon ausgegangen, dass der so genannte Kompass Nachhaltig- keit, in dem detaillierte Angaben zu Produkten und zur Beurteilung von Wertschöpfungsketten und zur Beach- tung von Standards und Normen enthalten sind, von den Vergabestellen zu Rate gezogen wird. Der Kompass Nachhaltigkeit wird von der GIZ – der Deutschen Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit – einer Vorfeldorganisation des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) fachkundig betreut. Zu 3. c): Aufgrund der grundsätzlichen Organisations- freiheit der öffentlichen Auftraggeber können keine An- gaben zu einzelnen Arbeitsschritten gemacht werden. Zu 3. d): Zweifel an Erklärungen von Bietern können nur in der Einzelfallbetrachtung vom jeweiligen Auftrag- geber entschieden werden. 4. Wie beurteilt der Senat die Möglichkeit bei der Vergabe nach ökologischen und sozialen Kriterien, einen niedrigeren Schwellenwert zu verwenden, als die im Vergabegesetz vorgesehenen 10.000 €? a) In welchen Bezirken und Verwaltungen wird dies bereits angewandt und welche Erfahrungen liegen dort vor? Zu 4. und 4 a): § 97 Absatz 4 des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB) unterscheidet zwi- schen „zusätzlichen Anforderungen“ an Auftragnehmer, die insbesondere soziale, umweltbezogene oder innovati- ve Aspekte betreffen, „wenn sie im sachlichen Zusammenhang mit dem Auftraggegenstand stehen“ und so genannten „weitergehenden Anforderungen“. Letztere dürfen nur auf der Grundlage eines Bundes- oder Landes- gesetzes an Auftragnehmer gestellt werden. Hierzu gehö- ren alle Anforderungen des BerlAVG, ausgenommen die Regelungen des § 7 BerlAVG in Verbindung mit der Verwaltungsvorschrift für die Anwendung von Umwelt- schutzanforderungen bei der Beschaffung von Liefer-, Bau- und Dienstleistungen (Verwaltungsvorschrift Be- schaffung und Umwelt – VwVBU). Basierend auf den Vorgaben des novellierten Berliner Ausschreibungs- und Vergabegesetzes gilt diese Verwaltungsvorschrift erst ab einem geschätzten Auftragswert von 10.000 € netto. Entsprechend der öffentlichen Vorbildfunktion haben sich neben den Bezirksämtern wie Spandau und Friedrichs- hain-Kreuzberg auch die Senatsverwaltung für Stadtent- wicklung und Umwelt sowie die Senatsverwaltung für Wirtschaft, Technologie und Forschung verpflichtet, diese Vorschrift schon ab einem Auftragswert von 500 € netto anzuwenden, um eine größere Umweltentlastung sowie durch die Anwendung von Lebenszykluskosten (inkl. Folgekosten) eine höhere Wirtschaftlichkeit zu erreichen. Aufgrund der Komplexität des Regelwerkes und der Viel- zahl der Beschaffungsstellen im Land Berlin ist eine be- lastbare Aussage zur Umsetzung der Verwaltungsvor- schrift erst zwei Jahre nach Inkrafttreten möglich. Dazu ist eine externe Evaluierung über die erreichten ökologi- schen und ökonomischen Effekte sowie zur weiteren Optimierung der Verwaltungsvorschrift beabsichtigt. 5. In den Antworten zu der Frage 7 der Kleinen An- fragen Nr. 17/10453, Nr. 17/10454, und Nr. 17/10455 schreibt die Senatsverwaltung: „Parallel nehmen auch die fachlichen und kapazitären Erfordernisse für die Umset- zung des allgemeinen Vergaberechts im Hinblick auf die gewachsenen und laufend weiter entwickelten Anforde- rungen der in immer kürzeren Zeitabständen neu formu- lierten EU-Richtlinien und ihrer Umsetzung in nationale und landesrechtliche Bestimmungen sowie Rechtspre- chung zur VOL tendenziell zu.“ a) Wie gewährleistet der Senat die Qualifizierung und Unterstützung der Beschafferinnen und Beschaffer hin- sichtlich der sozialen Kriterien, wie die Einhaltung der ILO-Kernarbeitsnormen? Zu 5. und 5 a): Die erforderlichen Qualifizierungsan- gebote wurden insbesondere bei der Verwaltungsakade- mie eingerichtet. Auch hat die Kompetenzstelle für nach- haltige Beschaffung beim Bundesbeschaffungsamt ihre Tätigkeit aufgenommen. Vor Inkrafttreten der Verwal- tungsvorschrift Beschaffung und Umwelt wurden an der Verwaltungsakademie mehrere Ganztagsschulungen für die Berliner Beschaffungsstellen durchgeführt. Zudem wurde ab Anfang Dezember 2012 eine neue Internetplatt- form zur umweltverträglichen Beschaffung auf der Homepage der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Umwelt eingerichtet. Dort sind u.a. die Verwaltungs- vorschrift mit ihren spezifischen Leistungsblättern, ein umfangreicher Handlungsleitfaden, eine FAQ-Liste (FAQ: häufig gestellte Fragen) und entsprechende Kon- taktdaten eingestellt. In den ersten Monaten des Jahres gab es von Berliner Beschaffungsstellen eine Vielzahl von Verständnisfragen zur Umsetzung der Verwaltungs- vorschrift (rund 20 pro Woche), die innerhalb von zwei Tagen beantwortet werden konnten. Die relevantesten Fragen/Antworten wurden umgehend in die FAQ-Liste aufgenommen. Zur weiteren Steigerung der Kompetenz hinsichtlich Anwendung der Vorschrift bei den Berliner Beschaffungsstellen fanden bzw. finden weitere Schulun- gen statt. Abgeordnetenhaus Berlin – 17. Wahlperiode Drucksache 17 / 12 616 3 Es ist im Übrigen im Rahmen der dezentralen Fach- und Ressourcenverantwortung Angelegenheit der jeweili- gen Stelle, etwaigen Unterstützungs- oder Schulungsbe- darf ihrer Beschäftigten festzustellen und dem abzuhelfen. Die Einhaltung der ILO-Kernarbeitsnormen durch die Hersteller der zu liefernden Produkte wird von den Zerti- fizierern geprüft. Die Vergabestellen kontrollieren ledig- lich, ob für die Produkte, die geliefert werden, entspre- chende Zertifikate vorhanden sind. Hierfür dürfte eine besondere Schulung nicht erforderlich sein. 6. In der Antwort auf Frage 4 der Kleinen Anfrage Nr. 17/10453 spricht der Senat von der beratenden Rolle der nationalen Kompetenzstelle für Nachhaltige Beschaffung, die im Beschaffungsamt des Bundesministerium des Inne- ren angesiedelt ist, und schreibt: „Die Kernaufgaben der Kompetenzstelle sollen sein: Beraten, Informieren, Ver- netzen und Schulen.“ a) Inwieweit finden Schulungen, Beratung oder ein Austausch mit der nationalen Kompetenzstelle hinsicht- lich der Berücksichtigung sozialer Kriterien beim Einkauf statt? (bitte aufschlüsseln nach Veranstaltungsart mit jeweiliger Angabe der TeilnehmerInnenanzahl) Zu 6. und 6 a): Der Senat kann aufgrund der dezentra- len Fach- und Ressourcenverantwortung keine Angaben machen, Statistiken werden hierüber nicht geführt. . 7. In welchem Maße haben öffentliche Auftraggeber die Möglichkeiten gemäß dem Berliner Ausschreibungs- und Vergabegesetz bisher genutzt, öffentliche Aufträge nach ökosozialen Kriterien zu vergeben? (bitte aufschlüs- seln) a) Welche Best Practice-Beispiele gibt es in Berlin be- reits für einen Einkauf, der ökologische und soziale Krite- rien berücksichtigt? Zu 7. und 7 a): Das BerlAVG bietet keine „Möglichkeiten “ zur ökosozialen Auftragsvergabe, sondern ist eine gesetzliche Verpflichtung für alle öffentlichen Einrich- tungen, dies umfassend und nach den gesetzlichen Bedin- gungen zu tun. Daher gibt es auch keine best-practice- Beispiele. 8. Gibt es einen Erfahrungsaustausch mit anderen Bundesländern über die Berücksichtigung der sozialen Kriterien in der Beschaffung? Wenn ja, mit welchen Bun- desländern und wie gestaltet sich dieser genau? Wenn nein, warum nicht? a) Welche Maßnahmen müssten aus Sicht des Senats eingeleitet werden um landesweit eine möglichst weitge- hende Einhaltung der sozialen Kriterien in der Beschaf- fung zu erreichen? Zu 8.: Zu der Thematik findet ein ständiger und breit angelegter Erfahrungsaustausch statt, der nicht nur Bund und Länder umfasst, sondern alle öffentlichen Auftragge- ber, wissenschaftliche Institutionen und Verbände. Die durch das BMZ geförderte Servicestelle Kommunen in der Einen Welt (SKEW) informiert regelmäßig über das faire Beschaffungswesen und Projekte sowie Aktivitäten einzelner Bundesländer. Hier werden auch Projekte, die durch die Berliner Landessstelle für Entwicklungszu- sammenarbeit gefördert werden, dargestellt. Informatio- nen aus dem Netzwerk faires Beschaffungswesen wie auch von Projekten z.B. „Jede Kommune zählt: Sozial gerechter Einkauf jetzt“ werden zur Verfügung gestellt. Eine unterstützende Funktion kann der Wettbewerb „Hauptstadt des Fairen Handels“, mit dem auch Aktivitäten bei der fairen Beschaffung belohnt werden sollen, entfalten. Die Landesstelle für Entwicklungszusammen- arbeit in der Senatsverwaltung für Wirtschaft, Technolo- gie und Forschung beteiligt sich an bzw. führt EU- Projekte durch und unterstützt damit auch die Themen fairer Handel und fair trade town. Indirekt wird dadurch auch das Engagement für die faire Beschaffung positiv beeinflusst. Zu 8. a): Siehe Antwort zu 1. Berlin, den 04. Oktober 2013 In Vertretung Guido B e e r m a n n ................................................................. Senatsverwaltung für Wirtschaft, Technologie und Forschung (Eingang beim Abgeordnetenhaus am 11. Okt. 2013)