Drucksache 17 / 12 692 Kleine Anfrage 17. Wahlperiode Kleine Anfrage des Abgeordneten Dirk Behrendt (GRÜNE) vom 26. September 2013 (Eingang beim Abgeordnetenhaus am 27. September 2013) und Antwort Haftraumgrößen vor Gericht Die Drucksachen des Abgeordnetenhauses sind bei der Kulturbuch-Verlag GmbH zu beziehen. Hausanschrift: Sprosserweg 3, 12351 Berlin-Buckow · Postanschrift: Postfach 47 04 49, 12313 Berlin, Telefon: 6 61 84 84; Telefax: 6 61 78 28. Im Namen des Senats von Berlin beantworte ich Ihre Kleine Anfrage wie folgt: 1. Wie viele Klagen sind bei den Berliner Gerichten in den letzten fünf Jahren eingegangen, in denen die Grö- ße der Hafträume bzw. deren Zustand als rechtswidrig kritisiert wurden? Zu 1.: In den letzten fünf Jahren sind insgesamt 388 Amtshaftungsklagen beim Landgericht Berlin rechtshän- gig gewesen, in denen die Größe der Hafträume bzw. deren Zustand als rechtswidrig kritisiert wurde. 2. Auf welche Justizvollzugsanstalten bzw. Teilan- stalten beziehen sich die Klagen? Zu 2.: Die Klagen beziehen sich hauptsächlich auf die Justizvollzugsanstalten (JVA) Tegel (Teilanstalten I, II und III) und Moabit (Teilanstalten I, II und III). In einem Fall ist wegen der Haftbedingungen in der JVA Plötzen- see Klage erhoben worden. 3. In wie vielen Urteilen wurde den Klägern Scha- densersatz zugesprochen? Zu 3.: Das Landgericht Berlin (Zivilkammer 86) hat das Land Berlin in 296 Fällen zu Schadensersatz verur- teilt. In einem Fall bezog sich die Verurteilung auf die Haftbedingungen in der JVA Moabit (Teilanstalt II), in den übrigen Fällen sind die Verurteilungen wegen der Haftbedingungen in der JVA Tegel (Teilanstalt I) erfolgt. Das Land Berlin hat in allen Fällen Berufung gegen die Verurteilungen eingelegt. Das Kammergericht hat bislang in allen ergangenen Berufungsurteilen die Klagen abge- wiesen. Diese Rechtsprechung des Kammergerichts ist in drei Musterverfahren vom Bundesgerichtshof mit Urteilen vom 4. Juli 2013 (Aktenzeichen III ZR 338/12, III ZR 339/12, III ZR 342/12) bestätigt worden. 4. Auf welche Summe belaufen sich die Schadenser- satzforderungen und in wie vielen Fällen wurden bereits Geldbeträge gezahlt? Zu 4.: Die Gesamtsumme der Schadensersatzforde- rungen wird statistisch nicht erfasst. Das Land Berlin ist bislang erstinstanzlich zu insgesamt 722.435,00 € (Hauptforderungen ) verurteilt worden. Im Umfang von insge- samt 21.946,00 € sind diese Verurteilungen vom Kammergericht rechtskräftig aufgehoben worden. Da die übri- gen Verurteilungen nicht rechtskräftig sind, ist in keinem Fall Geld gezahlt worden. 5. Wie beurteilt der Senat die Klagen? Welche aktu- ellen baulichen Veränderungen werden vorgenommen, um den Beschwerden abzuhelfen, und welche sind noch in Planung? Zu 5.: Der Senat hält die Klagen für unbegründet. In vielen Fällen waren die Haftbedingungen tatsächlich nicht menschenunwürdig. Auch sonst liegen die Voraussetzun- gen eines Amtshaftungsanspruchs (§ 839 BGB i.V.m. Art. 34 GG) nach der Rechtsprechung des Kammergerichts, die vom Bundesgerichtshof bestätigt worden ist, nicht vor. Es war bis zum Beschluss des Verfassungsgerichts- hof des Landes Berlin vom 3. November 2009 zu VerfGH 184/07 nicht schuldhaft, anzunehmen, dass die Haftbe- dingungen in der Teilanstalt I der JVA Tegel nicht men- schenunwürdig waren, weil es keine eindeutige oberge- richtliche Rechtsprechung zur Frage, unter welchen Vo- raussetzungen die Unterbringung in einem Einzelhaft- raum als menschenunwürdig anzusehen ist, gab. In der Zeit nach dem 3. November 2009 scheitern Amtshaf- tungsansprüche in der Regel jedenfalls daran, dass die Inhaftierten es unterlassen haben, geeignete Rechtsbehelfe gegen die Art ihrer Unterbringung (Beschwerde an den Anstaltsleiter gemäß § 108 Abs. 1 Strafvollzugsgesetz (StVollzG), Antrag auf gerichtliche Entscheidung gemäß § 109 StVollzG) einzulegen, § 839 Abs. 3 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB). Ansprüche aus Artikel 5 Abs. 5 Eu- ropäische Menschenrechtskonvention (EMRK) bestehen nach der Rechtsprechung des Kammergerichts und des Abgeordnetenhaus Berlin – 17. Wahlperiode Drucksache 17 / 12 692 2 Bundesgerichtshofs ebenfalls nicht, da sich die Garantie des Art. 5 EMRK nur auf die Freiheitsentziehung als solche (das „Ob“ der Freiheitsentziehung), nicht aber auf die Modalitäten des Vollzugs der Haft (das „Wie“ der Freiheitsentziehung) bezieht. Der Senat sieht sich aufgrund der seit Juni 2013 mit der neuen JVA Heidering zur Verfügung stehenden zeit- gemäßen Haftplatzkapazitäten und im Zusammenwirken mit zurückgegangenen Inhaftiertenzahlen in der Lage, die aufgrund verfassungsrechtlicher Vorgaben bereits seit Februar 2012 geschlossene Teilanstalt I sowie nunmehr auch die Teilanstalt III der JVA Tegel nicht mehr mit Gefangenen belegen zu müssen. Erstmals seit Jahrzehnten sind Möglichkeiten eröffnet, nicht mehr den Anforderun- gen an menschenwürdige Unterbringung entsprechende Hafthäuser und Haftbereiche zu schließen und grundle- gende strukturelle Veränderungen baulicher und vollzug- licher Natur im Gebäude- und Haftraumbestand des Ber- liner Justizvollzuges vorzunehmen. Die Teilanstalt I und die Teilanstalt III der JVA Tegel betreffend hat der Senat dazu dem Hauptausschuss des Abgeordnetenhauses be- richtet (rote Nummer 0178 C). Diesem zugrundeliegend hatten die Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Umwelt und die Senatsverwaltung für Justiz und Ver- braucherschutz im Herbst 2012 eine Machbarkeitsstudie mit dem Ziel aufgelegt, die Schaffung verfassungsgemä- ßer und rechtskonformer Einzelunterbringungsmöglich- keiten für Gefangene im geschlossenen Männervollzug in den Teilanstalten I und III der JVA Tegel unter Betrach- tung verschiedener Varianten und auch unter nachhaltigen wirtschaftlichen Gesichtspunkten zu betrachten. Die Teilanstalt I der JVA Tegel kann in der vorhande- nen Struktur aufgrund der verfassungsgerichtlich festge- stellten Mängel nicht mehr als Unterkunftsbereich für Gefangene genutzt werden. Sinnvolle alternative und vor allem wirtschaftliche Nutzungsszenarien für eine akzep- table Nutzung dieses Gebäudes in der JVA Tegel sind nicht gegeben, die Bestandserhaltung verursacht hohe Leerstands-, Überwachungs- und Sicherungskosten. Not- wendige Investitionen für bautechnische Maßnahmen im Bestand lägen deutlich über den ermittelten Kosten für einen Abriss und Neubau. Die verfahrensbeteiligten Se- natsverwaltungen halten deshalb perspektivisch den Ab- riss der Teilanstalt I für inhaltlich und wirtschaftlich zweckmäßig und sinnvoll. Aufgrund einer zwar ver- gleichbar schlechten Gebäudestruktur der Teilanstalt III, dort aber etwas geräumigerer Hafträume hält der Senat diesen Bereich als Rückfallebene und Haftplatzreserve für jederzeit mögliche Belegungszuwächse vorerst für unver- zichtbar. Langfristig ist aber auch hier ggf. ein Abriss oder eine bauliche Umgestaltung zu prüfen. Im Bereich der Untersuchungshaft für erwachsene Männer in der Justizvollzugsanstalt Moabit wird ebenfalls verfassungswidrige Unterbringung behauptet und gericht- lich geltend gemacht. Rechtskräftige Hauptsachenent- scheidungen liegen noch nicht vor, sodass gesicherte Erkenntnisse über künftig geltende Maßstäbe der Recht- sprechung noch nicht bestehen. Gleichwohl erarbeitet die Anstalt gegenwärtig gemeinsam mit der Senatsverwaltung für Justiz und Verbraucherschutz ein strategisches Ge- samtkonzept zur Optimierung der Haftbedingungen. An- gestrebt werden unter Einbeziehung von baulichen und vollzuglichen Aspekten nachhaltige Veränderungen mit dem Ziel flächendeckender Einzelunterbringung in aus- reichend großen Hafträumen sowie eine Erweiterung der Aufschlusszeiten einhergehend mit Angeboten sinnvoller Beschäftigung und Freizeitgestaltung. Um diese Ziele verwirklichen zu können, ist geplant, die Zahl der in der JVA Moabit inhaftierten Strafgefangenen zu reduzieren bzw. deren Verweildauer zu verkürzen. 6. Wie wirken sich die Urteile auf die Belegungska- pazitäten der Vollzugsanstalten aus und welche weiteren Umbaumaßnahmen folgen daraus? Zu 6.: Die Entwicklung der Belegungszahlen im ge- schlossenen Männervollzug sowie der geschaffene Zu- wachs rechts- und verfassungskonformer Haftplätze im Land Berlin insbesondere durch Inbetriebnahme der neu- en JVA Heidering rechtfertigen die Reduzierung der Be- legungsfähigkeit durch Schließung und Rückbau zur menschenwürdigen Unterbringung nicht mehr geeigneten Altbaubestandes. Allerdings verbleibt auch mit den neuen 648 Haftplätzen der JVA Heidering immer noch fast die Hälfte der erwachsenen männlichen Gefangenen des geschlossenen Vollzuges in Altbaubereichen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Es ist deshalb beabsichtigt, vor- bereitende Planungsschritte einzuleiten und eine geprüfte und belastbare Haushaltsunterlage zur Schaffung von ca. 200 verfassungsgemäßen und rechtskonformen Einzel- hafträumen für Gefangene im geschlossenen Männervoll- zug auf dem Gelände der JVA Tegel (Standort Teilanstalt I) zu den Beratungen über den Haushalt ab 2016 vorzule- gen. Aufgrund der Erfahrungen der vergangenen Jahr- zehnte wird der Senat dafür Sorge tragen, zur Vorberei- tung auf jederzeit mögliche Belegungszuwächse eine ausreichend bemessene Haftplatzreserve nach verfas- sungsrechtlichen Maßstäben wie in der Antwort zu Frage 5 beschrieben einzurichten und vorzuhalten. Berlin, den 25. Oktober 2013 Thomas Heilmann Senator für Justiz und Verbraucherschutz (Eingang beim Abgeordnetenhaus am 04. Nov. 2013)