Drucksache 17 / 13 161 Schriftliche Anfrage 17. Wahlperiode Schriftliche Anfrage des Abgeordneten Alexander Spies (PIRATEN) vom 27. Januar 2014 (Eingang beim Abgeordnetenhaus am 03. Februar 2014) und Antwort Wohnungslosenpolitik in Berlin (II): Housing-First-Ansätze in der Berliner Wohnungslosen- hilfe Die Drucksachen des Abgeordnetenhauses sind bei der Kulturbuch-Verlag GmbH zu beziehen. Hausanschrift: Sprosserweg 3, 12351 Berlin-Buckow · Postanschrift: Postfach 47 04 49, 12313 Berlin, Telefon: 6 61 84 84; Telefax: 6 61 78 28. Im Namen des Senats von Berlin beantworte ich Ihre Schriftliche Anfrage wie folgt: 1. Welche Rolle spielen Housing-First-Ansätze, also die möglichst schnelle Integration von Wohnungslosen in abgeschlossenen und dauerhaften Individualwohnraum mit – sofern erforderlich – wohnbegleitenden Hilfen, in der Berliner Wohnungslosenhilfe? 2. Wie bewertet der Senat Housing-First-Ansätze in der Wohnungslosenhilfe, die im Gegensatz zu den hier- zulande etablierten Sonderwohnformen im „zweiten Wohnungsmarkt“ (Notübernachtungen, Obdachlosenunterkünfte , betreute Wohngemeinschaften, Trainingswoh- nungen etc. mit eingeschränkten Rechten und einge- schränkter Wohnsicherheit für die Betroffenen) auf „normales “ Wohnen mit vollen Mieterrechten, Privatsphäre, eigener Schlüssel etc. setzen? 4. Werden Housing-First-Ansätze in den fortge- schriebenen Leitlinien für die Wohnungslosenpolitik eine Rolle spielen? Wenn ja, welche? Zu 1., 2. und 4.: Im Land Berlin ist seit 1996 ein Wohnungslosenhilfesystem etabliert, was u. a. persönli- che Hilfe in der eigenen Wohnung mit dem Ziel der Überwindung von besonderen sozialen Schwierigkeiten und des Erhalts der Wohnung ermöglicht. Die Annahme der Hilfe ist freiwillig, aber sozialhilferechtlich an Bedin- gungen wie eine Informations- und Mitwirkungspflicht gebunden. Wie auch im Housing-First-Ansatz werden gerade keine Sonderwohnformen sondern die Erlangung und der Erhalt einer eigenen Wohnung präferiert und als optimale Voraussetzung zur Integration wohnungsloser Menschen erachtet. Der Umfang und die Dauer der Hilfe richten sich nach dem individuellen Hilfebedarf. Gleich- wohl ist die Umsetzung des sozialpolitischen Vorsatzes insbesondere wegen der prekären Wohnungsmarktsitua- tion im Segment preiswerter und bezahlbarer Wohnungen schwer geworden. Damit einher geht eine zunehmend rückläufige Bereitschaft von Wohnungsvermieterinnen und Wohnungsvermietern, mit wohnungslosen Menschen in problematischen Lebensverhältnissen einen Haupt- mietvertrag abzuschließen. Auf die Probleme wurde auch in den Kleinen Anfragen zu den Themen „Obdachlosenunterkünfte in Berlin“ (17/12270), „Wie viele Wohnungslose und Wohnungsnotfälle gibt es in Berlin“ (17/12964), „Geschütztes Marktsegment“ (17/10210) hingewiesen. Der Senat teilt die Kritik des Housing-First- Programms an befristeten Untermietverträgen für woh- nungslose Menschen, die bei Hilfeende in der Regel einen Auszug aus der Wohnung zur Folge haben und das Prob- lem der Erlangung einer eigenen Wohnung nur auf einen späteren Zeitpunkt verlagern. Oberste Priorität hat des- halb weiterhin die Verhinderung von Wohnungsverlust unter Nutzung aller dazu vorhandenen rechtlichen Instru- mente. Im Falle nicht mehr zu verhindernden Wohnungs- verlustes ist es weiterhin Ziel, wohnungslosen Menschen den Zugang zu eigenem Wohnraum auf dem ersten Woh- nungsmarkt zu ermöglichen. Diese Zielstellung verfolgt seit Jahren das Angebot „Geschütztes Marktsegment“ für einen Personenkreis, der sich nicht (mehr) ohne Hilfe am Wohnungsmarkt mit einer Wohnung versorgen kann und für den sämtliche sozialhilferechtlichen Möglichkeiten zum Erhalt des bestehenden Mietvertragsverhältnisses erfolglos ausgeschöpft sind. Dem Instrument liegt der wesentliche Housing-First-Ansatz zu Grunde: Zugang zu Wohnraum für wohnungslose Menschen. Dennoch wird für einen Teil wohnungsloser Menschen u. a. weiterhin ein vorübergehendes stationäres Betreutes Wohnen eine hilfebedarfsgerechte Alternative sein oder auch eine schnelle Unterbringung in einer Einrichtung nach dem Allgemeinen Sicherheits- und Ordnungsgesetzes (ASOG) notwendig bleiben. Das stationäre Platzangebot für Betreutes Wohnen (Kriseneinrichtungen und Übergangshäuser) ist mit Ein- führung des ambulanten Betreuten Wohnens kontinuier- lich zurückgegangen und besteht heute nur noch im Ver- hältnis von einem stationären Platz zu ca. 18 Plätzen im ambulanten Bereich. Abgeordnetenhaus Berlin – 17. Wahlperiode Drucksache 17 / 13 161 2 Seit einigen Jahren wird auch in Europa der - aus Amerika stammende – Housing-First-Ansatz als mögliche Strategie gegen Wohnungslosigkeit diskutiert. Die Euro- päische Kommission förderte u. a. von 2011 bis 2013 ein Forschungs- und Evaluationsprojekt im Zusammenhang mit Housing-First-Ansätzen in fünf europäischen Groß- städten (Amsterdam, Kopenhagen, Glasgow, Lissabon, Budapest). In Deutschland existiert noch kein Projekt Housing-First. Der Bericht „Housing-First-Europe“ ist unter http://www.giss-ev.de/giss-ev/index.php?id=107 zu finden. Die grundlegende Kritik des Housing-First-Pro- gramms, dass wohnungslose Menschen zunächst zwin- gend ein abgestuftes System von Hilfen im sogenannten „zweiten Wohnungsmarkt“ durchlaufen müssten, bevor ein reguläres Wohnen beginnen könne, hat seine Berech- tigung. Sie trifft aber auf das Wohnungslosenhilfesystem im Land Berlin nicht zu. Ebenso sind weder Therapieteil- nahme noch Abstinenz eine Bedingung in der Woh- nungslosenhilfe. Allerdings ergeben sich nach deutschem Recht Bedingungen und Pflichten aus dem Miet- und Sozialrecht, die mit dem Housing-First-Ansatz der „absoluten Bedingungslosigkeit“, d. h. auch ohne „Wohnfähigkeit “, nicht kompatibel sind. Bei dem betreffenden Personenkreis handelt es sich in der Regel um Leistungs- berechtigte nach SGB II. Neben materiellen Schwierig- keiten können noch zusätzliche soziale, rechtliche und gesundheitliche Probleme bei den Personen dazu beitra- gen, dass ein Wohnungsnotfall eintritt. Der fachliche Ansatz der Berliner Wohnungslosenhilfe geht deshalb davon aus, dass zumindest Grundlagen zu einer eigen- ständigen und eigenverantwortlichen Lebens- und Haus- haltsführung vorhanden sein sollten, um die reale Chance, eine eigene Wohnung langfristig zu erhalten, zu erhöhen. Ohne diese Voraussetzungen steigt das Risiko des (er- neuten) Wohnungsverlustes. Eine umfassende Realisierung des Housing-First-An- satzes ist gegenwärtig aus miet- und sozialrechtlichen Gründen nicht realistisch, weshalb auch in Deutschland noch kein Projekt dieser Art besteht. Themen wie Kosten- Nutzen-Analysen des Housing-First-Ansatzes, ge- schlechts- und altersspezifische Anforderungen und Wir- kungen, innovative Methoden zur Finanzierung flexibler Hilfen sind derzeit noch weitestgehend unerforscht. Wei- tere Forschungsergebnisse bleiben abzuwarten. Für die Weiterentwicklung von Teilansätzen aus dem Housing- First in das Berliner Wohnungslosenhilfesystem ist und bleibt die zuständige Senatsfachverwaltung im Gespräch mit Leistungsanbietern und Wohlfahrtsverbänden. 3. Welche weiteren Ansätze zum Abbau der Woh- nungslosigkeit in Berlin plant der Senat wie die Nutzung und Neuschaffung von Belegungs- und Besetzungsrech- ten im sozialen Wohnungsbau, die Vereinbarung von Besetzungsrechten bei kommunalen Grundstücksverkäu- fen und die Ausweisung neuer Wohngebiete im Rahmen städtebaulicher Verträge (nach dem Beispiel von Ham- burg, München oder Bremen)? Zu 3.: Das Instrument der Belegungsrechte besteht in Berlin im Sozialen Wohnungsbau und bei Altbauten, deren umfassende Modernisierung in den Programmen Soziale Stadterneuerung, wohnungspolitische Selbsthilfe- projekte und städtebaulicher Denkmalschutz gefördert worden ist. Zusätzliche Belegungsrechte werden durch die Neubauförderung im Rahmen des in Vorbereitung befindlichen Wohnungsneubaufonds (siehe Einzelplan der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Umwelt, Kapitel 12 95 Titel 863 40) entstehen. Auch sind im Rahmen der in der Regel von den Bezirken abzuschlie- ßenden städtebaulichen Verträge Vereinbarungen zur Deckung des Wohnbedarfs von Bevölkerungsgruppen mit besonderen Wohnraumversorgungsproblemen möglich. Die mit den vorstehend genannten Instrumenten be- gründeten bzw. zusätzlich entstehenden Belegungsrechte können jeweils von allen Wohnungssuchenden genutzt werden, die über einen in Berlin gültigen Wohnberechti- gungsschein verfügen. Berlin, den 11. März 2014 In Vertretung Dirk G e r s t l e _____________________________ Senatsverwaltung für Gesundheit und Soziales (Eingang beim Abgeordnetenhaus am 14. Mrz. 2014)