Drucksache 17 / 13 592 Schriftliche Anfrage 17. Wahlperiode Schriftliche Anfrage des Abgeordneten Hakan Taş (LINKE) vom 09. April 2014 (Eingang beim Abgeordnetenhaus am 10. April 2014) und Antwort Mutmaßliche rechte Tötungsdelikte in Berlin Die Drucksachen des Abgeordnetenhauses sind bei der Kulturbuch-Verlag GmbH zu beziehen. Hausanschrift: Sprosserweg 3, 12351 Berlin-Buckow · Postanschrift: Postfach 47 04 49, 12313 Berlin, Telefon: 6 61 84 84; Telefax: 6 61 78 28. Im Namen des Senats von Berlin beantworte ich Ihre Schriftliche Anfrage wie folgt: 1. Wie viele Straftaten mit Todesfolge in Berlin seit 1990 sind aktuell der PMK-rechts zugeordnet (bitte Ein- zelaufstellung nach Tatzeit, Tatort, Straftathergang, De- likt, Verurteilung)? Zu 1.: Nachfolgende Fälle wurden als politisch moti- viert klassifiziert und dem Phänomenbereich Politisch motivierte Kriminalität (PMK) - rechts zugeordnet: a) Am 24. April 1992 kam es im Berliner Ortsteil Marzahn aufgrund der fremdenfeindlichen Einstel- lung des späteren Täters zu Streitigkeiten mit meh- reren vietnamesischen Zigarettenhändlern, unter denen sich auch das spätere Opfer befand. Um die Streitigkeiten zu klären, begaben sich das Opfer und weitere Personen aus der Gruppe der Vietna- mesen zum Täter und wollten ihn zur Rede stellen, wobei es zu einer körperlichen Auseinanderset- zung kam. Dabei stach der Täter das Opfer mit ei- nem Messer seitlich in die Brust und ergriff danach die Flucht. Das Opfer verstarb kurz darauf im Krankenhaus. Der Täter wurde zu vier Jahren und sechs Monaten Freiheitsentzug verurteilt. b) Im Zwischendeck des U-Bahnhofs Samariterstraße in Berlin-Friedrichshain kam es am 21. November 1992 zu einer Rangelei zwischen zwei Gruppen, die vorerst ohne Folgen beendet wurde. Jedoch empörte sich die Gruppe um die späteren Täter darüber, dass es sich bei den anderen Personen um „Linke“ gehandelt habe. Zwei Personen zogen ihre Messer und überlegten, ob sie der Gruppe auf den Bahnsteig folgen sollten. Zwischenzeitlich wollte die Gruppe um das spätere Opfer den U-Bahnhof wieder verlassen und traf somit erneut auf die an- dere Gruppe, die sich nunmehr entschloss, die „Linken“ körperlich anzugreifen. Während der Auseinandersetzungen wurde das Opfer gegen die Wand gedrückt und mit einem Messer mehrfach in den Brustbereich gestochen, so dass es verblutete. Die Täter waren nach eigenen Angaben der rech- ten Szene zuzurechnen. Sie wurden zu Freiheits- strafen zwischen acht Monaten und vier Jahren verurteilt. c) Am Morgen des 19. Februar 1997 begab sich der Täter mit einer geladenen Schrotflinte zur Ge- schäftsstelle der Partei des Demokratischen Sozia- lismus (PDS) in Berlin-Marzahn. Er hatte den Ent- schluss gefasst, sich für die Ausschreitungen we- nige Tage zuvor bei einer Demonstration der Jun- gen Nationalen (JN) zu rächen, die laut Medienbe- richterstattung durch die PDS initiiert worden sein sollen. Davon ausgehend, dass alle Personen in dem Gebäude der PDS angehören oder ihr zumin- dest nahe stehen, betrat er das Büro des Opfers, das einen Buchladen im Gebäude betrieb. Dort schoss er mindestens zweimal auf den Buchhänd- ler, der instinktiv die Hände hob und zu Boden fiel. Als der Täter bemerkte, dass das Opfer noch lebte, flüchtete er. Auf seiner Flucht erschoss er in Schleswig-Holstein einen Polizeibeamten und ver- letzte einen zweiten schwer. Der Täter wurde zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt. d) Der Geschädigte wurde am 22. April 2004 in Berlin -Prenzlauer Berg von hinten durch drei Männer zunächst zu Boden gestoßen. Dabei äußerten alle drei Täter rassistische Parolen. Einer der Männer verließ daraufhin den Tatort. Nachdem die beiden vor Ort gebliebenen Männer versucht hatten, das Opfer zu berauben, wirkten sie anschließend ge- meinsam und massiv auf den Geschädigten mit Tritten und Schlägen ein, so dass dieser mindes- tens einmal das Bewusstsein verlor. Dabei trugen beide Täter stahlkappenverstärkte Schuhe. Erst durch das Einwirken mehrerer Zeugen ließen die Täter vom Opfer ab. Das Urteil ist hier nicht be- kannt. Abgeordnetenhaus Berlin – 17. Wahlperiode Drucksache 17 / 13 592 2 e) Am 2. März 2008 befand sich die Beschuldigte gegen 06:45 Uhr in Begleitung zweier Personen am S-Bahnhof Frankfurter Allee in Berlin-Frie- drichshain (Verwaltungsbezirk Friedrichshain- Kreuzberg). Der dunkelhäutige Geschädigte pas- sierte die Personengruppe und wurde von der Be- schuldigten mit fremdenfeindlichen und rassisti- schen Äußerungen beleidigt und zweimal ins Ge- sicht geschlagen. Der Geschädigte begab sich da- nach auf den S-Bahnsteig, als gerade ein Zug am anderen Ende des Bahnhofs einfuhr. Die Beschul- digte war ihm gefolgt und stieß den Geschädigten mit den Worten „Dem zeig ich’s“ vor den einfahrenden Zug. Mit Hilfe von Zeugen konnte der Ge- schädigte noch rechtzeitig aus dem Gleisbett klet- tern. Die Beschuldigte wurde zu drei Jahren und acht Monaten Haft ohne Bewährung verurteilt. f) Am 20. April 2008 warfen zwei Personen der rechten Szene zwei mit Benzin gefüllte Glasfla- schen gegen ein von Deutschen mit Migrationshin- tergrund bewohntes Einfamilienhaus in Berlin- Rudow. Zum Tatzeitpunkt befanden sich die Be- wohner schlafend im Haus. Ein im Vorgarten be- findliches Partyzelt geriet in Brand. Im Monat zu- vor hatten beide Täter bereits versucht, das leerste- hende Haus einer bosnischen Familie in Brand zu setzen. Hier kam es nicht zur Umsetzung der Brandsätze. Die Beschuldigten, die aus fremden- feindlichen Motiven gehandelt hatten, wurden we- gen versuchter schwerer Brandstiftung und ver- suchten Mordes durch das Landgericht zu vier Jah- ren und acht Monaten bzw. zu drei Jahren und zehn Monaten Haft verurteilt. g) Am 13. Juli 2008 wurden drei Personen in BerlinBuch dabei beobachtet, wie sie auf einen dunkel- häutigen ausländischen Mitbürger einschlugen und eintraten. Alle drei Tatverdächtigen gehören der rechten Szene an. Erst als die Polizei eintraf, ließen sie von ihrem Opfer ab. Der Geschädigte erlitt schwere Kopfverletzungen und Rippenbrüche. Die Täter erhielten Haftstrafen bis zu vier Jahren und sechs Monaten. h) Am 12. Juli 2009 trafen vier Personen der rechten Szene im Bereich des S-Bahnhofs Frankfurter Al- lee in Berlin-Friedrichshain auf eine etwa zehn- köpfige, der linken Szene zuzurechnende Perso- nengruppe. Durch die Personen der linken Grup- pierung wurden die Personen der rechten Szene aufgrund ihrer szenetypischen Bekleidung ange- griffen, wodurch zunächst ein Angehöriger der rechten Szene verletzt wurde. Im Folgenden schlu- gen und traten die Personen der vierköpfigen rech- ten Gruppierung auf einen Angehörigen der linken Szene ein, so dass dieser lebensgefährliche Kopf- verletzungen erlitt. Erst durch das Eintreffen der Polizei wurden weitere Straftaten verhindert. Die Beschuldigten konnten noch am Tatort festge- nommen werden und erhielten Haftbefehl. Gegen die vier Personen wurde Anklage wegen versuch- ten Mordes und gefährlicher Körperverletzung er- hoben. Der Haupttäter wurde wegen versuchten Totschlags zu einer Haftstrafe von fünfeinhalb Jah- ren verurteilt. Zwei weitere Mittäter wurden wegen gefährlicher Körperverletzung zu einer Bewäh- rungsstrafe von jeweils zwei Jahren verurteilt, der vierte Angeklagte wurde freigesprochen. i) Das Opfer, ein 38-jähriger Libanese, befand sich am 9. Oktober 2011 in einem hinteren Raum der Pizzeria „Principessa Italia" in Berlin-Oberschöneweide . Bei der Rückkehr in den Küchen- und Verkaufsraum traf es völlig unerwartet auf den Täter, der sich im Personalbereich befand. Dieser stach dem Opfer wortlos und unvermittelt mit ei- nem Messer in den Bauch. Direkt im Anschluss verließ der Täter die Pizzeria fluchtartig, ohne bei der ganzen Tat ein Wort gesprochen zu haben. Weder der Geschädigte noch sein Bruder, der In- haber der Pizzeria, konnten Anhaltspunkte für die Motivation des Täters liefern. Auch eine Raubtat konnte ausgeschlossen werden, da die Kasse hinter dem Verkaufstresen leicht zugänglich und nicht gesichert war. Der Geschädigte wurde mit multip- len Stichverletzungen in ein Krankenhaus ver- bracht, wo die akute Lebensgefahr im Rahmen ei- ner Notoperation gebannt werden konnte. Im Zuge der Ermittlungen konnte der Täter, ein 23-jähriger Deutscher, bekannt gemacht und vom Opfer ein- wandfrei identifiziert werden. Im Rahmen seiner Vernehmung machte er keinen Hehl aus seiner rechten Gesinnung, wobei er sich als „nationaldenkenden Menschen" bezeichnete. Des Weiteren wurden von ihm fremdenfeindliche und antisemiti- sche Äußerungen getätigt. j) Am 8. Januar 2012 fragte der Geschädigte ausländischer Herkunft eine Deutsche in Berlin- Prenzlauer Berg nach dem Weg und lud sie zum Kaffeetrinken ein. Durch drei unbekannte männli- che Personen wurde das spätere Opfer angespro- chen und ausländerfeindlich beleidigt. Nach Zeu- genaussagen wurde er dann von einem der drei Männer mit der Faust ins Gesicht geschlagen und fiel zu Boden. Beim Aufstehen trat ihm ein zweiter Täter mit dem Fuß seitlich gegen den Kopf, so dass er bewusstlos liegen blieb. Der Geschädigte erlitt lebensbedrohliche Verletzungen. k) Der Tatverdächtige und das vietnamesische Opfer waren zum Tatzeitpunkt, am 24. Februar 2012, in der Justizvollzugsanstalt (JVA) Plötzensee in Ber- lin-Moabit im gleichen Zellentrakt untergebracht. Der Tatverdächtige, der nach Zeugenaussagen er- kennbar ausländerfeindlich eingestellt ist, fühlte sich nach eigenen Angaben durch den Geschädig- ten und zwei weitere vietnamesische Gefangene gestört. Am Tatabend saß das spätere Opfer in sei- ner Zelle. Der Täter betrat wortlos die Zelle und griff ihn ohne Vorwarnung mit einem Messer an. Dabei erlitt der Geschädigte lebensbedrohliche Verletzungen. Abgeordnetenhaus Berlin – 17. Wahlperiode Drucksache 17 / 13 592 3 l) Am 9. Juli 2013 wurde der dunkelhäutige Geschädigte durch einen der Täter zunächst mit dem Wort „Nigger“ beleidigt und anschließend mit Fäusten geschlagen. Im weiteren Verlauf wurde der am Boden liegende Geschädigte durch die Täter mit Schuhen gegen den Kopf getreten, in dessen Folge er lebensbedrohliche Kopfverletzungen erlitt. Die Täter konnten namhaft gemacht werden, wobei im Rahmen der Vernehmungen offenkundig wurde, dass die Täter aus rassistischen Motiven heraus gehandelt hatten. Beide erhielten Haftbefehle we- gen versuchten Mordes. Die Hauptverhandlung vor dem Landgericht Berlin hat am 14. Februar 2014 begonnen. Ein abschließendes Gerichtsurteil steht noch aus. Im Zusammenhang mit der Anwendungspraxis des „Definitionssystem Politisch motivierte Kriminalität (PMK)“ bei der Bewertung von politisch motivierten Straftaten, insbesondere auch bei Tötungsdelikten, wurde seitens der Polizei Berlin im September 2013 ein Prüfvor- gang angelegt. Diese Überprüfung dauert an und wird im abschließenden Ergebnis möglicherweise eine Neubewer- tung einzelner, bislang nicht als PMK-rechts bewerteter Fälle zur Folge haben (siehe hierzu wegen der Details Antwort zu Fragen 2 bis 7). Insofern gelten die obigen Ausführungen vorbehaltlich der Ergebnisse dieses Prüf- vorgangs. 2. Berlin hat sich am Abgleich ungeklärter Tötungs- delikte ohne Tatverdächtige mit möglicherweise politisch rechtem und/oder rassistischem Hintergrund für den Zeit- raum von 1990 bis 2011 beteiligt: Wie viele Delikte wel- cher Art wurden hierfür im Land Berlin in den Abgleich einbezogen (bitte auflisten nach Tatzeit, Tatort, Straftat- hergang, Delikt)? 3. In welcher Art und Weise fand der Abgleich für Berlin statt, durch wen und aufgrund welcher Kriterien wurden Fälle in die Überprüfung einbezogen, welche Unterlagen wurden beigezogen und welche Behörden waren innerhalb und außerhalb Berlins am Abgleich be- teiligt? 4. Nach welchen Kriterien stellten die prüfenden Be- hörden in Berlin fest, ob bei den ungeklärten Fällen ein rechtsextremer Anfangsverdacht vorliegt? 5. In wie vielen Fällen haben sich bei Tötungsdelik- ten aus Berlin Anhaltspunkte dafür ergeben, dass es sich um möglicherweise politisch rechts und/oder rechtsext- remistisch motivierte versuchte oder tatsächliche Tö- tungsdelikte handeln könnte (bitte nach Art der Delikte differenzieren und Datum, Ort sowie eine anonymisierte Kurzbeschreibung angeben)? 6. Welche Schlussfolgerungen zieht der Senat aus dem Abgleich? 7. Wie sieht der vom Senat und ggf. von weiteren in den Abgleich involvierten Akteuren anvisierte Zeitplan zum Umgang mit den Ergebnissen aus? Zu 2.- 7.: Die vom Bundesministerium des Innern unmittelbar nach Aufdeckung des „Nationalsozialistischen Untergrunds" (NSU) angestoßene und von der Ständigen Konferenz der Innenminister und -Senatoren (IMK) beschlossene Überprüfung bislang ungeklärter „Altfälle", die einen den NSU-Straftaten vergleichbaren Modus operandi aufweisen, erfolgt, unter Federführung des Bundeskriminalamts (BKA), im Rahmen des Ge- meinsamen Abwehrzentrums gegen Rechtsextremismus/ Rechtsterrorismus (GAR), das als Teilbereich in das neu gegründete Gemeinsame Extremismus- und Terrorismus- abwehrzentrum (GETZ) integriert worden ist. An diesem Vorhaben beteiligen sich neben dem Bundeskriminalamt (BKA) alle Länderpolizeien. Unter dortiger Anbindung (Arbeitsgruppe „Fallanalyse“) erfolgte zunächst die Erarbeitung einer entsprechenden Konzeption, die mehrere Überprüfungsschritte/ -phasen umfasst. Die Konzeption ist von der IMK beschlossen worden. Berlin ist, wie alle beteiligten Länder, an diesen Beschluss gebunden. In diesem Zusammenhang wird auf die Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abgeordne- ten Martina Renner u.a. und der Fraktion DIE LINKE zum Thema „Prüfung von weiteren ungeklärten Tötungsdelikten auf einen möglichen rechtsextremen und rassisti- schen Hintergrund zwischen den Jahren 1990 und 2011 durch die Bundesregierung“ (BT-Drucksache 18/193) hingewiesen. In der ersten Phase der Überprüfung im Rahmen des Konzeptes der Arbeitsgruppe (AG) „Fallanalyse“ werden zurückliegende ungeklärte Tötungsdelikte, spezifiziert auf Basis von Schlüsselzahlen der Polizeilichen Kriminalsta- tistik, betrachtet und aus diesen - nach gemeinsam von polizeiinternen und externen Wissenschaftlern entwickel- ten Indikatoren - Fälle für eine weiterführende Prüfung ausgewählt. Diese werden einem strukturierten Datenab- gleich zugeführt. Dieses Überprüfungsverfahren dauert an. Insgesamt hat die Polizei Berlin in der ersten Phase (Überprüfung ungeklärter Tötungsdelikte, auch versuchte, gemäß §§ 211, 212 Strafgesetzbuch) 78 Fälle an das BKA gemeldet. Eine gegebenenfalls erforderliche Neubewertung der rechtsextremistisch oder fremdenfeindlich motivierten vollendeten und versuchten Tötungsdelikte kann erst nach Abschluss der laufenden Überprüfungen erfolgen. Eine abschließende Aussage hinsichtlich einer eventuell erfor- derlich werdenden Neubewertung der Anzahl der Opfer rechtsextremer Gewalt in Berlin seit 1990 bzw. einer Revision der bisher statistisch nicht als rechtsextremis- tisch motiviert erfassten Tötungsdelikte ist daher derzeit noch nicht möglich. Berlin, den 23. April 2014 Frank Henkel Senator für Inneres und Sport (Eingang beim Abgeordnetenhaus am 05. Mai 2014)