Drucksache 17 / 14 011 Schriftliche Anfrage 17. Wahlperiode Schriftliche Anfrage des Abgeordneten Dr. Klaus Lederer (LINKE) vom 17. Juni 2014 (Eingang beim Abgeordnetenhaus am 18. Juni 2014) und Antwort Aktueller Umsetzungsstand der ISV: Geschichtsdokumentation und Forschung Die Drucksachen des Abgeordnetenhauses sind bei der Kulturbuch-Verlag GmbH zu beziehen. Hausanschrift: Sprosserweg 3, 12351 Berlin-Buckow · Postanschrift: Postfach 47 04 49, 12313 Berlin, Telefon: 6 61 84 84; Telefax: 6 61 78 28. Im Namen des Senats von Berlin beantworte ich Ihre Schriftliche Anfrage wie folgt: 1. Welche Haushaltsmittel wurden in welchem Umfang herangezogen, um das Zeitzeug*innen-Interview- Projekt im Rahmen des „Archivs der anderen Erinnerungen “ zu fördern? 2. Hält der Senat die bisher im Rahmen des in Frage 1 genannten Projekts beauftragten drei biographischen Interviews mit Zeitzeug*innen für ausreichend, um die Vielzahl der individuellen Erfahrungen und Lebensge- schichten der Repression, strafrechtlicher Verfolgung und Diskriminierung ausgesetzten LSBTI* zu dokumentieren? 3. Plant der Senat weitere Zeitzeug*innen-Interviews zu beauftragen? Erkennt der Senat die angesichts des fortgeschrittenen Alters der Betroffenen hohe Dringlich- keit einer raschen Durchführung weiterer Interviews an? Wenn ja: Wann soll dies geschehen? Wenn nein: Warum nicht? Zu 1., 2. und 3.: Der Senat hat im Zuge der Umset- zung des Senatsbeschlusses zur Geschichtsdokumentation und -bildung vom 17.4.2012 in Kooperation mit der Bun- desstiftung Magnus Hirschfeld und weiteren Akteurinnen und Akteuren unter anderem das Zeitzeugnis-projekt „Archiv der anderen Erinnerungen“ initiiert. In einem Video-Archiv sollen Interviews mit Zeitzeuginnen und Zeitzeugen zu individuellen Erfahrungen und Erinnerun- gen zu Lebensgeschichten von Lesben, Schwulen, Bise- xuellen, trans- und intergeschlechtlichen Menschen (LSBTI) seit den 1950er und 1960er Jahren dokumentiert werden. Im 4. Quartal 2013 hat die Landesstelle für Gleichbehandlung - gegen Diskriminierung zum Start des Projektes die Durchführung der ersten drei Interviews mit einer Lesbe, einem Schwulen und einer transgeschlechtli- chen Frau beauftragt (Kosten: 15.000 €). Das Projekt sowie die Vereinbarung weiterer Kooperationen wurde am 28.3.2014 der Öffentlichkeit vorgestellt. (Pressemittei- lung: http://www.berlin.de/sen/aif/presse/archiv/20140328.0900 .395844.html) Eine zügige Durchführung weiterer lebensgeschichtli- cher Interviews ist dem Senat – gerade angesichts des hohen Alters der Zeitzeuginnen und Zeitzeugen ein be- sonderes Anliegen. Im laufenden Haushaltsjahr wird hierzu ein Teilprojekt zur Durchführung weiterer drei Interviews mit einer Zuwendungssumme i. H. von 10.000 € gefördert. 4. Welchen Umfang an noch nicht vernichteten relevanten Akten zur Verfolgung von LSBTI* ergab die in der Antwort auf die Kleine Anfrage 17/13077 genannte Bestandsaufnahmen der AG „Akten sichten und sichern“ (bitte aufgliedern nach den Archiven, in denen die Akten derzeit gelagert sind)? In welchem Zustand befinden sich diese Dokumente jeweils? Welche Bearbeitungsschritte sind erforderlich, um die Akten dauerhaft zu erhalten und der wissenschaftlichen Forschung und Aufarbeitung zu- gänglich zu machen? Zu 4.: Im Zuge der Arbeit der Arbeitsgruppe „Akten sichern“ des Koordinierungsgremiums LSBTI-Geschichte hat das Landesarchiv recherchiert und festgestellt, dass die Strafakten zum § 175 in West-Berlin nicht mehr vor- handen sind. Für den Bereich der Justiz besteht ein guter Überblick über vorhandene Bestände. Als weitere mögli- che Quellen werden die Strafregisterbände genannt. Das Landesarchiv hat 2013 Strafregisterbände aus der Zeit bis 1959/60 übernommen, womit perspektivisch eine statisti- sche Auswertung bezüglich der Strafverfolgung Homose- xueller in Berlin möglich ist. Diese Unterlagen müssen zuerst erschlossen werden, wofür es noch keine gesicherte Finanzierung gibt. Die polizeihistorische Sammlung ist öffentlich zugänglich und sollte somit auch für wissen- schaftliche Forschung verfügbar sein. Eine Zusammen- stellung der momentan im Landesarchiv vorhandenen schriftlichen Quellen ist erstellt worden. Eine vorläufige Liste an möglichen anderen Archiven/ Kooperationspart- nerinnen und -partnern liegt vor. Abgeordnetenhaus Berlin – 17. Wahlperiode Drucksache 17 / 14 011 2 5. Wie soll aus Sicht des Senats eine angemessene Berücksichtigung der Diskriminierungsgeschichte lesbi- scher Frauen in der Dokumentations- und Forschungsar- beit sichergestellt werden? Zu 5.: Die Dokumentation und Erforschung der Le- bens- und Diskriminierungserfahrungen lesbischer Frauen erfordert eine besondere spezifische Herangehensweise. Dies ist ein Ergebnis der Fachrunde zu „besonderen Aspekten der Erforschung lesbischen Lebens in beiden deut- schen Staaten in der Zeit von 1945 bis 1968/ 1969“, die am 17.1.2013 auf Einladung der Landesstelle für Gleich- behandlung - gegen Diskriminierung (LADS) stattfand. Erforderlich ist einerseits eine kontinuierliche Berück- sichtigung lesbenspezifischer Aspekte bei allen Vorhaben zur LSBTI-Geschichte und andererseits eigenständige, spezifische Forschung. 6. Wurde der Zwischenbericht des Koordinierungsgremiums zur Geschichte von Lesben, Schwulen und transgeschlechtlichen Menschen wie geplant am 10. Feb- ruar 2014 beschlossen? Wenn ja: Warum wurde er noch nicht, wie in der Antwort auf die Kleine Anfrage 17/13077 angekündigt, auf der Internetseite der Landes- stelle für Gleichbehandlung – gegen Diskriminierung veröffentlicht? Welche nächsten Schritte benennt der Bericht konkret für künftiges Handeln im Bereich der Geschichtsdokumentation und Forschung und was wird der Senat tun, um diese Schritte umzusetzen? Zu 6.: Der Zwischenbericht des Koordinierungsgre- miums wurde zwischenzeitlich auf der Internetseite der Landesstelle für Gleichbehandlung - gegen Diskriminie- rung veröffentlicht: http://www.berlin.de/lb/ads/gglw/themen/index.html#gesc hichte. Als offene Fragen und perspektivische Ideen wer- den benannt: Ausbau der Zusammenarbeit zwischen ver- schiedenen Akteuren wie Gedenkorten und Museen; Er- stellen eines Verschlagwortungskatalogs zu LSBTI- As- pekten; Erstellen eines Archivleitfadens; Initiativen zur Erschließung vorhandener, aber nicht erschlossener Do- kumente in verschiedenen Archiven. Das Koordinie- rungsgremium hat sich am 10.2.2014 auf folgende nächs- te Schritte verständigt: den Fortbestand des Gremiums mit halbjährlichen Treffen; das Weiterarbeiten und Vernetzen in den konkreten Projekten „Archiv der anderen Erinnerungen “ und „Queer History Month“ unter Leitung der jeweils federführenden Institutionen; die Erweiterung des Auftrags, Akten zu sichern und zu sichten, auf weiteres historisches Quellenmaterial; zeitnahe Information und Austausch über relevante Vorhaben der Mitglieder des Koordinierungsgremiums; die Teilnehmenden formulier- ten die Forderung nach Forschungsbereichen für LSBTI- Geschichte, u.a. durch die Etablierung von entsprechen- den Instituten, nach der politischen Sichtbarmachung sowie nach der Berücksichtigung von trans- und interge- schlechtlichen Menschen. 7. Was hat der Senat unternommen, um die Sichtbarkeit der Geschichte nicht-heterosexueller Emanzipations- bewegungen im Berliner Stadtbild zu erhöhen? Welche weiteren Schritte sind in welchem Zeitrahmen in diesem Bereich geplant? Zu 7.: In der Kreuzberger Kommandantenstraße 62 wurde im September 2011 eine Gedenkstele für den Rechtsanwalt Dr. Fritz Flato (1895-1949) in Kooperation zwischen Senat und dem Bezirk Friedrichshain- Kreuzberg eingeweiht. Der Landesverband des Deutschen Roten Kreuzes übernahm die Pflege der Stele. Flato engagierte sich in den 1920er Jahren in der Ber- liner Homosexuellenbewegung. In seiner Kanzlei bot er Rechtsberatung für Homosexuelle an und verteidigte sie vor Gericht. Verlage und Autoren vertrat er in Zensurver- fahren zum Schutz der Jugend vor der sogenannten ‚Schundliteratur‘. Wegen seiner jüdischen Herkunft musste er 1935 emigrieren. In diesem Zusammenhang wurden sowohl die Bezirke als auch die Mitglieder des Bündnisses gegen Homopho- bie über die Maßnahmen in diesem Bereich informiert. Der Senat hält weitere Vorschläge für Gedenken an und Sichtbarmachung von LSBTI-Persönlichkeiten vor und stellt diese den Bezirken zur weiteren Prüfung zur Verfü- gung. 8. Hält der Senat an der im Februar 2014 in seiner Antwort auf die Frage nach der möglichen Gründung eines Magnus-Hirschfeld-Instituts (in der Kleinen Anfra- ge 17/13077) geäußerten Ansicht fest, „dass die vielfältigen Aktivitäten zahlreicher Träger und Institutionen der- zeit durch Kooperation und Transparenz in Berlin keiner zentralen Einrichtung bedürfen“? Zu 8.: Es ist dem Senat ein Anliegen, an die Tradition des sexualmedizinischen Instituts von Magnus Hirschfeld anzuknüpfen und einen Beitrag zur kollektiven Wider- gutmachung des Unrechts zu leisten, das durch die Zer- störung des Instituts durch die Nationalsozialisten 1933 der Sexualwissenschaft und der homo- und transsexuellen Emanzipationsbewegungen zugefügt wurde. In Berlin und bundesweit gibt es derzeit etliche Institutionen, die ver- schiedene Aufgaben des damaligen Instituts übernommen haben. Einige führen den Namen des Sexualwissenschaft- lers im Titel ihrer Institution. Eine Klärung, ob die Schaf- fung einer gemeinsamen oder zusätzlichen zentralen Ein- richtung für das o.g. Anliegen zielführend ist, kann in einem gemeinsamen Prozess der in Frage kommenden Akteure und Akteurinnen herbeigeführt werden. 9. Hält der Senat an der im Februar 2014 in seiner Antwort auf die Kleine Anfrage 17/13075 geäußerten Absicht fest, momentan keine weiteren Studien zur Erfor- schung der Lebens- und Diskriminierungssituation von LSBTI* in Auftrag geben zu wollen? Abgeordnetenhaus Berlin – 17. Wahlperiode Drucksache 17 / 14 011 3 10. Wie steht der Senat zum Vorschlag, eine „Studie zur aktuellen Lebenssituation von lesbischen, schwulen, bisexuellen, trans- und intergeschlechtlichen Jugendlichen in Berlin“ unter Berücksichtigung der „verschiedenen Dimensionen der Mehrfachdiskriminierung“ zu beauftragen (Antrag der Fraktionen der SPD und CDU, Drs. 17/1683)? Welcher Aufwand – personell, zeitlich und finanziell – wäre nach Ansicht des Senats erforderlich, um die Fragestellung einer solchen Studie adäquat bear- beiten zu können? Zu 9. und 10.: Zu dem in Frage 10 genannten The- menbereich liegt für Berlin lediglich eine Studie aus dem Jahr 1999 vor, die u.a. auf die alarmierend hohe Suizidge- fährdung homo- und bisexueller junger Menschen auf- merksam machte (Sie liebt sie. Er liebt ihn. Eine Studie zur psychosozialen Situation junger Lesben, Schwuler und Bisexueller in Berlin. Senatsverwaltung für Schule, Jugend und Sport Berlin [Hg.], 1999), Der Aspekt der Mehrfachdiskriminierung ist für lesbische, schwule, bise- xuelle, trans- und intergeschlechtliche (lsbti) Jugendliche bislang gar nicht untersucht. Aufgrund der unvollständi- gen und überholten Datenlage im Bereich lsbti- Jugendliche in Berlin hält der Senat eine Studie mit dem genannten Schwerpunkt für notwendig. Der Aufwand wird ähnlich hoch eingeschätzt wie für die im Rahmen der Initiative „Berlin tritt ein für Selbstbestimmung und Akzeptanz sexueller Vielfalt (ISV) bereits durchgeführten Studien, hängt aber vom jeweils geplanten Studiendesign ab. Bezüglich weiterer Forschungsaufträge zu Lebenssitu- ationen und Diskriminierungserfahrungen ist meine Ant- wort auf die Kleine Anfrage 17/13075, Frage 1, weiterhin gültig. Berlin, den 07. Juli 2014 In Vertretung Barbara L o t h Senatsverwaltung für Arbeit, Integration und Frauen (Eingang beim Abgeordnetenhaus am 08. Juli 2014)