Drucksache 17 / 14 179 Schriftliche Anfrage 17. Wahlperiode Schriftliche Anfrage der Abgeordneten Stefanie Remlinger (GRÜNE) vom 03. Juli 2014 (Eingang beim Abgeordnetenhaus am 08. Juli 2014) und Antwort Früheinschulungen Die Drucksachen des Abgeordnetenhauses sind bei der Kulturbuch-Verlag GmbH zu beziehen. Hausanschrift: Sprosserweg 3, 12351 Berlin-Buckow · Postanschrift: Postfach 47 04 49, 12313 Berlin, Telefon: 6 61 84 84; Telefax: 6 61 78 28. Im Namen des Senats von Berlin beantworte ich Ihre Schriftliche Anfrage wie folgt: 1. Wie lauten die Ergebnisse der vom Senat in Auf- trag gegebenen Früheinschulungsstudie im Wortlaut? Zu 1.: Die Studie ist mit Datum vom 9. Juli 2014 der Öffentlichkeit über die Internetseite des Instituts für Schulqualität ( www.isq-bb.de ) zugänglich. 2. Welche Konsequenzen zieht der Senat aus den Er- gebnissen über die Studie zur Früheinschulung? Zu 2.: Die Studie legt dar, dass es aus wissenschaftli- cher Sicht keinen Handlungsbedarf gibt, und bestätigt Ergebnisse, die bereits in der BERLIN-Studie von Prof. Baumert und Prof. Maaz beschrieben wurden: Eine Rela- tion zwischen Einschulungsalter und Bildungserfolg ist nicht herleitbar und es gibt auch keine migrations- oder geschlechtsbezogenen Unterschiede. 3. Wie viele Eltern haben für das kommende Schul- jahr 2014/2015 einen Antrag auf Rückstellung ihres Kin- des gestellt und sich somit gegen die Früheinschulung entschieden? (sortiert nach Bezirk) Zu 3.: Anträge auf eine Zurückstellung von der Schul- besuchspflicht werden im Rahmen der Schulanmeldung in der zuständigen Grundschule eingereicht und von der regional zuständigen Schulaufsicht bearbeitet. In der jährlichen Statistik der Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Wissenschaft, die jeweils Ende September des Jahres veröffentlicht wird, werden die Zahlen der tatsäch- lich zurückgestellten Schülerinnen und Schüler erfasst. 4. Welche Schlüsse zieht der Senat auf die zuneh- mende Anzahl von Anträgen auf Rückstellung? Zu 4.: Das Schulgesetz eröffnet seit Januar 2010 ab- sichtsvoll die Möglichkeit der Zurückstellung von der Schulpflicht. Seitdem können gem. § 42 Abs. 3 Schulge- setz (SchulG) schulpflichtige Kinder auf Antrag der Er- ziehungsberechtigten von der Schulbesuchspflicht um ein Jahr zurückgestellt werden, wenn der Entwicklungsstand des Kindes eine bessere Förderung in einer Einrichtung der Jugendhilfe erwarten lässt. Eine Zurückstellung kann nur dann erfolgen, wenn eine angemessene Förderung des Kindes in einer Einrichtung der Jugendhilfe erfolgt. Der Antrag der Erziehungsberechtigten ist zu begründen und soll mit einer schriftlichen Stellungnahme der von ihrem Kind zuletzt besuchten Einrichtung der Jugendhilfe oder Kindertagespflegestelle eingereicht werden. Die Schul- aufsichtsbehörde entscheidet auf der Grundlage gutachter- licher Stellungnahmen der/des zuständigen Schulärz- tin/Schularztes oder des schulpsychologischen Dienstes. Eine Rückstellung nach dem Beginn des Schulbesuchs ist ausgeschlossen. Seit dem Anmeldezeitraum 2013 wurde das Antragsverfahren transparenter gestaltet und entbüro- kratisiert. Grundsätzlich spiegelt sich in den Zahlen die Ände- rung des Verfahrens in 2010 wider, mit der der Elternwil- le gestärkt und eine Wahlmöglichkeit eingeräumt wurde. Im Gegensatz zur Praxis in der Mehrzahl der anderen Länder ist in Berlin eine Zurückstellung nicht ausschließ- lich aus medizinischen Gründen möglich. Der Senat be- wertet es positiv, dass mit Bezug auf den Entwicklungs- stand des Kindes der bestmögliche Förderort ausgewählt wird und dass die Entscheidung auf Grundlage multipro- fessioneller Expertise erfolgt, denn es werden die Ein- schätzungen der Eltern, der Erzieherinnen und Erzieher der Kita, die das Kind in seiner Entwicklung begleitet haben, ebenso wie die der Schulärztinnen und Schulärzte und der regional zuständigen Schulaufsicht, die die schu- lischen Lernanforderungen kennen, herangezogen. 5. Wie bewertet der Senat den Umstand, dass Berlin das einzige Bundesland ist, dass am Verfahren der Früheinschulung festhält? Abgeordnetenhaus Berlin – 17. Wahlperiode Drucksache 17 / 14 179 2 Zu 5.: In der Fachwissenschaft wird seit mehreren Jahrzehnten hervorgehoben, dass Schulfähigkeit nicht eine Frage des Alters und auch nicht des Geburtsmonats ist, sondern dass Schulbereitschaft in der Kombination aus Kind, Familie, Schule und Kita zu entwickeln ist. Die individuelle Entwicklung ist eine Folge des Zu- sammenspiels von persönlichen Voraussetzungen und Kontextbedingungen. Die Entwicklung von Kindern vari- iert in Wechselwirkung mit den Lernbedingungen. Die Absenkung des durchschnittlichen Einschulungs- alters von 6,7 auf 6,2 Jahre wurde zum Schuljahr 2005/2006 im Rahmen eines Gesamtpakets (Start des Bildungsprogramms an den Kitas, Inkraftsetzen der neuen Rahmenlehrpläne für die Grundschule, Verlagerung der Horte an die Schulen und Einführung der verlässlichen Halbtagsgrundschule und der Ganztagsgrundschule, Ver- zicht auf 1. und 2. Klassen an Sonderschulen „Lernen“, Mitwirkung von Sonderpädagoginnen und Sonderpäda- gogen sowie Erzieherinnen und Erzieher in der Schulan- fangsphase und Einführung der flexiblen Lernzeit von 1 - 3 Jahren) mit dem Ziel beschlossen, die schulische Förde- rung und Bildung für alle Kinder so früh wie möglich beginnen zu lassen. Es geht darum, den bestmöglichen Förderort ganz gezielt mit Blick auf die individuellen Voraussetzungen und den spezifischen Förderbedarf des jeweiligen Kindes zu wählen. Nationale und internationale Studien zu Auswirkun- gen des Einschulungsalters auf den schulischen Bildungs- erfolg zeigen ein uneinheitliches Bild und der Senat be- wertet bildungspolitische Entscheidungen anderer Länder grundsätzlich nicht. 6. Inwiefern hat sich die mit der Früheinschulung ver- bundene Zielsetzung tatsächlich verwirklicht? 7. Welche Ziele, die mit der Früheinschulung ver- bunden waren, konnten nicht erreicht werden? Zu 6. und 7.: Mit der früheren Einschulung im Land Berlin sollte erreicht werden, dass die schulische Förde- rung, Bildung und Erziehung für alle Kinder so früh wie möglich beginnen kann. Seit dem Schuljahr 2005/2006 werden Kinder nunmehr frühestens mit 5,7 Jahren schul- pflichtig. Weder das Alter der Kinder noch ihr (individuell sehr unterschiedlicher) Entwicklungsstand erlauben allein eine Entscheidung über den besten Zeitpunkt der Einschulung: Es kommt auf die konkrete Passung von Lernangebot und Entwicklungstand des einzelnen Kindes an. Dieser kann sich aber bei gleichaltrigen Schulanfängerinnen und Schulanfängern um 3 bis 4 Jahre unterscheiden (vgl. hier- zu z.B. R. Largo/M. Beglinger, Schülerjahre, München 2009). In diesem Zusammenhang hat es sich bewährt, den ursprünglich verfolgten Ansatz einer Aufnahme aller Kinder - unter vollständigem Verzicht auf die Möglich- keit einer Zurückstellung - ab dem Jahr 2010 zugunsten einer auf das Kind, seinen Entwicklungsstand und spezifi- schen Förderbedarf bezogenen Wahl des Förderortes (Kita oder Schule) aufzugeben. Die Flexibilisierung der Einschulungsregelung und die Struktur der flexiblen Schulanfangsphase ermöglichen es, die spezifischen individuellen Lernvoraussetzungen der Schulanfängerinnen und Schulanfänger zu berücksichti- gen. Die Studie des Instituts für Schulqualität der Länder Berlin und Brandenburg (ISQ) zeigt nun, dass es gelun- gen ist, Kinder früher schulisch zu fördern, ohne dass es zu Einbußen hinsichtlich ihrer Bildungskarrieren oder ihrer Leistungen gekommen ist. 8. Inwiefern sieht der Senat einen Zusammenhang zwischen einem verlängerten Verweilen in der Schulein- gangsphase und der Früheinschulung? Zu 8.: Die ersten Schuljahre, die Kinder durchlaufen, die Entwicklungsunterschiede von bis zu 3 Jahren aufwei- sen, reagieren auf eine vergrößerte Heterogenität in Bezug auf Leistungsfähigkeit, Motivation, soziale Herkunft, kulturellen Hintergrund, Familiensprache und Risikobe- lastung. Dies führt zu einem erhöhten Individualisie- rungsanspruch in Bezug auf die Lernangebote und die Lernzeit, die Kindern zur Verfügung gestellt werden müssen. Die Flexibilisierung der Lernzeit ist demzufolge ein Kernelement der flexiblen Schulanfangsphase, deren pädagogisch-fachliche Konzeption - als Doppeljahrgangs- stufe 1/2 - vorsieht, dass Lerninhalte und Ziele der Dop- peljahrgangsstufe in einem Zeitfenster von 1 bis 3 Jahren zu bearbeiten und zu erreichen sind. Entscheidungskrite- rien über die Verweildauer in der Schulanfangsphase sind die in den Rahmenlehrplänen formulierten Anforderun- gen, insbesondere beim Schriftspracherwerb und in Ma- thematik. Die Einführung der flexiblen Schulanfangsphase er- folgte - nicht nur in Berlin, sondern bundesweit - vor dem Hintergrund pädagogischer, fachlich-didaktischer und lernpsychologischer Erkenntnisse zur Lernentwicklung und individuellen Förderung von Kindern zu Beginn der Schulzeit. Diese zeigen auf, dass es eine lineare, ver- schiedene Kompetenzbereiche integrierende Kompetenz- entwicklung entsprechend dem Lebensalter nicht gibt. Nicht nur der Entwicklungsstand gleichaltriger Kinder unterscheidet sich. Auch der Entwicklungsstand eines Kindes ist in verschiedenen Kompetenzbereichen unter- schiedlich fortgeschritten - z. B. im mathematischen, schriftsprachlichen, sozial-emotionalen Bereich. Auch Kinder gleicher Geburtsmonate können somit nicht gleichzeitig mit gleichen Anforderungen zielführend gefördert und herausgefordert und auch nicht im gleichen Zeitraum zu gleichen Lernergebnissen geführt werden. Für Schülerinnen und Schüler, die im Schuljahr 2013/2014 die 3. Jahrgangsstufe an öffentlichen und pri- vaten Grundschulen, Grundstufen von Integrierten Se- kundarschulen sowie Sonderschulen besuchten war in einer Auswertung nach Geburtsmonaten vor bzw. nach dem 1.8. kein statistisch signifikanter Zusammenhang zwischen Einschulungsalter und Verweilen in der Schul- anfangsphase feststellbar: 21,5 % der jüngeren (Geburts- datum nach dem 1.8.) und 18,3 % der älteren Schülerin- Abgeordnetenhaus Berlin – 17. Wahlperiode Drucksache 17 / 14 179 3 nen und Schüler (Geburtsdatum vor dem 1.8.) lernten ein drittes Jahr in der Schulanfangsphase. 0,7 % der jüngeren und 0,7 % der älteren Kinder rückten bereits nach einem Jahr in die Jahrgangsstufe 3 auf. Das Ergebnis, das sich in dieser Auswertung abbildet, deckt sich mit der durch wissenschaftliche Untersuchun- gen begründeten Fachdiskussion um Fragen der Schulfä- higkeit, des Einschulungsalters sowie der Zurückstellun- gen: Die Entscheidung, ob ein Kind eingeschult werden sollte oder nicht, hängt in besonderem Maße vom Ent- wicklungsstand des Kindes ab. Nicht das biologische Alter entscheidet über den Lernerfolg eines Kindes, son- dern sein Entwicklungsstand, sein kognitives Potenzial, seine vorschulischen Lernerfahrungen sowie die Ausge- staltung und fachliche Qualität der schulischen Förde- rung. 9. Welche Vor- bzw. Nachteile sieht der Senat bei ei- ner Änderung des § 42 SchulG, die in Absatz 1 eine Wahlfreiheit für Kinder, die das sechste Lebensjahr nach dem 30. September bis zum 31. Dezember vollenden und schulpflichtig werden? Zu 9.: Da ein Einschulungsjahrgang stets Kinder um- fasst, die 12 Geburtsmonate aufweisen, werden - unge- achtet des Stichtags des Beginns der Schulpflicht - in jeder Klasse jüngere und ältere Kinder gemeinsam lernen. Die Altersspreizung wird stets 12 Monate ausweisen. Da sich - wie in der Antwort zu Frage 8 dargelegt, insbeson- dere am Schulanfang der Entwicklungsstand gleichaltri- ger Kinder um bis zu 3 Jahre unterscheidet und auch der Entwicklungsstand eines Kindes nicht in jedem Kompe- tenzbereich gleichermaßen ausgeprägt ist, bleibt Hetero- genität der Lerngruppe ungeachtet des Stichtags für den Beginn der Schulpflicht bestehen, die einen individuali- sierenden Unterricht bei flexiblen Lernzeiten erfordert. Die Chance, dass jedes Kind - ungeachtet seiner fami- liären, kulturellen oder sozialen Herkunft - eine frühe schulische Förderung erhalten kann, lässt sich nur über die bestehende Einschulungsregelung realisieren. Bei der Frage einer regulären oder späteren Einschulung ist der individuelle Entwicklungsstand eines jeden Kindes zu berücksichtigen - die geltenden gesetzlichen Regelungen zur Zurückstellung von der Schulbesuchspflicht ermögli- chen das. 10. Was würde eine Rücknahme der Früheinschulung für Folgen haben? a.) für die Schulträger und die Verwaltung b.) für die Kita c.) für die Schulanfangsphase d.) für das Lehrpersonal (Lehrkräfte und ErzieherIn- nen) 11. Welche Kostenersparnis ist mit der Rücknahme der Früheinschulung verbunden? a.) für die Bezirke b.) für die Schulverwaltung Zu 10. und 11.: Ich verweise hierzu auf die Antworten auf die identischen Fragen des Abgeordneten Özcan Mut- lu in der Kleinen Anfrage Nr. 17/12106 vom 8. Juni 2013. Berlin, den 14. Juli 2014 In Vertretung Dr. Knut Nevermann Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Wissenschaft (Eingang beim Abgeordnetenhaus am 23. Juli 2014)