Drucksache 17 / 14 300 Schriftliche Anfrage 17. Wahlperiode Schriftliche Anfrage des Abgeordneten Gerwald Claus-Brunner (PIRATEN) vom 21. Juli 2014 (Eingang beim Abgeordnetenhaus am 30. Juli 2014) und Antwort Wie schützt der Senat Menschen jüdischen Glaubens in Berlin vor Gewalt und Hass? Die Drucksachen des Abgeordnetenhauses sind bei der Kulturbuch-Verlag GmbH zu beziehen. Hausanschrift: Sprosserweg 3, 12351 Berlin-Buckow · Postanschrift: Postfach 47 04 49, 12313 Berlin, Telefon: 6 61 84 84; Telefax: 6 61 78 28. Im Namen des Senats von Berlin beantworte ich Ihre Schriftliche Anfrage wie folgt: 1. Stellt das Land Berlin die körperliche und psychische Unversehrtheit seiner jüdischen Einwohner sicher? Wenn ja, mit welchen Maßnahmen? Wenn nein, warum nicht? Zu 1.: Es ist Verpflichtung des Senats, Gefahren für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung abzuwehren. Ein wichtiger Bestandteil dieser Verpflichtung ist, die körper- liche Unversehrtheit der Einwohnerinnen und Einwohner sowie Besucherinnen und Besucher Berlins unvoreinge- nommen und damit unabhängig von Geschlecht, Ab- stammung, Herkunft, religiösen und politischen Einstel- lungen sowie sexuellen Orientierungen sicherzustellen. Die Sicherheitslage Berlins ist daher Gegenstand einer stetigen Gefahrenanalyse. Sollten im Ergebnis gefähr- dungsrelevante Aspekte ein Handeln erfordern, werden durch die Polizei, auch in Abstimmung mit anderen Be- hörden und Institutionen, lageangepasste Maßnahmen präventiver und repressiver Art initiiert bzw. durchge- führt. Bei Gefährdungen einzelner Personen oder Personen- gruppen aus politischer Motivation wird ein auf den Ein- zelsachverhalt abgestimmtes Maßnahmenpaket zum Schutz der jeweiligen Person bzw. Personengruppe ent- wickelt. Da sich Art und Umfang von Schutzmaßnahmen am individuellen Gefährdungsgrad und der persönlichen Lebenssituation orientieren, lässt sich dazu keine generel- le Aussage treffen. Die Maßnahmen reichen von der Be- ratung über die Sicherung von Objekten bis zur Betreuung durch den polizeilichen Personenschutz. Die Maßnahmen können im Hinblick auf die Sicherheit zu schützender Personen oder Einrichtungen nicht im Detail dargestellt werden. Die Gewährleistung der psychischen Unversehrtheit der Einwohnerinnen und Einwohner Berlins oder einzel- ner Personengruppen ist durch die Sicherheitsbehörden nur bedingt beeinflussbar. Die Präsenz bei bzw. die Siche- rung von Veranstaltungen, die enge Zusammenarbeit mit Verantwortlichen aus Gemeinden, Vereinen und Einrich- tungen sowie die Gewährleistung einer schnellen Erreich- barkeit von Ansprechpartnerinnen und Ansprechpartnern auf Seiten der Polizei werden jedoch als notwendige Vo- raussetzungen betrachtet, um die subjektive Sicherheit zu erhöhen und somit zu einem angstfreien Lebensgefühl beizutragen. Der enge Kontakt zur Polizei soll dabei auch die Anzeigebereitschaft bei antisemitischen Übergriffen fördern. Gegen Antisemitismus setzt die Polizei Berlin neben einer konsequenten Repression besonders auf die Stär- kung potenzieller Opfer und vielfältiger Lebensweisen. Vertreterinnen und Vertreter der Polizei Berlin nehmen an öffentlichen Diskussionsveranstaltungen zum Thema Antisemitismus teil und es wird in Gremien und Bündnis- sen mitgewirkt, wie z. B. der „Charta der Vielfalt“ oder am „Jugendkongress des Bündnisses für Demokratie und Toleranz – gegen Extremismus und Gewalt“ teilgenommen . In der lokalen Netzwerkarbeit mit Migrantenorganisa- tionen sind die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Ar- beitsgebiete Integration und Migration der örtlichen Poli- zeidirektionen fest institutionalisiert und zu einem integ- ralen Bestandteil der polizeilichen Arbeit geworden. Über das zuständige Referat der polizeilichen Aus- und Fort- bildung bestehen seitens der Polizei Berlin enge Kontakte u. a. zur Jüdischen Gemeinde zu Berlin, zum Zentrum Judaicum, zum American Jewish Committee sowie zum Zentrum für Antisemitismusforschung an der Techni- schen Universität. Neben der Beratung in Fragen des Opferschutzes gehört auch die Empfehlung von Verhal- tens- und Sicherungstipps zur polizeilichen Arbeit. Zusätzlich wurde mit Einrichtung der „Ansprechpartner der Polizei Berlin für interkulturelle Aufgaben“ eine zentrale Stelle geschaffen, die u. a. ein niedrigschwelliges Angebot für potenzielle oder tatsächliche Opfer von Anti- semitismus darstellt. Abgeordnetenhaus Berlin – 17. Wahlperiode Drucksache 17 / 14 300 2 2. Wie häufig kam es in den letzten zehn Jahren zu Übergriffen ggü. Menschen jüdischen Glaubens und ggü. jüdischen Einrichtungen? (nach Jahren aufgeschlüsselt) Wenn in diesem Zeitraum eine Zunahme von Fällen zu verzeichnen ist, wie erklärt sich diese? Was wurde zur Einschränkung antisemitischer Gewalt unternommen? Zu 2.: Die nachfolgende Darstellung umfasst nur die Straftaten, die nach dem Definitionssystem Politisch mo- tivierte Kriminalität (PMK) in der Statistik des Kriminal- polizeilichen Meldedienstes (KPMD) erfasst wurden. Ausgenommen sind Fälle, die aus der aktuellen Aus- einandersetzung im Zusammenhang mit dem Nahost- Konflikt resultieren. Deren Erfassung ist im KPMD noch nicht erfolgt (gilt analog für die Antwort zu Frage 3). In der folgenden Übersicht werden Sachverhalte dar- gestellt, in denen eine Person direkt betroffen war, gleich- gültig um welches Delikt es sich hierbei handelt. Nicht aufgeführt werden Übergriffe auf Gegenstände, auch wenn sich die Motivation im Grunde gegen die Person richtete. Personen, die mehrfach durch Straftaten geschädigt wurden, werden entsprechend auch mehrfach als Opfer in der Statistik aufgeführt. 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 (Stichtag 31.05.) 8 10 10 12 14 7 15 12 8 1 Aufgrund der geringen absoluten Fallzahlen haben die Schwankungen keine statistische Aussagekraft. In der folgenden Übersicht werden nur Sachverhalte dargestellt, bei denen das Gebäude einer jüdischen Ein- richtung unmittelbares Angriffsziel war. Gedenkstätten und Mahnmale sind hiervon nicht umfasst. Gegen jüdi- sche Einrichtungen gerichtete Briefe, Telefonanrufe oder E-Mails sind ebenfalls nicht berücksichtigt. Gemäß der Zählweise werden Sachverhalte, die zu ei- nem Vorgang zusammengefasst wurden, nur einmal ge- zählt. 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 (Stichtag 31.05.) Synagogen 0 0 0 1* 0 0 0 0 0 0 Jüdische Einrichtungen 3 5 0 3 1 1 0 2 0 0 *zerstörte Fensterscheibe Aufgrund der geringen absoluten Fallzahlen haben die Schwankungen keine statistische Aussagekraft. Aus präventiver Sicht ergreift die Polizei Berlin ver- schiedene Maßnahmen, u.a.  die Durchführung von Informationsveranstaltungen an Schulen zum Thema „Wissen und Bildung als Schutzfaktor gegen Rechtsextremismus“,  die Veröffentlichung von Hinweisen im Bereich Opferschutz/ Opferschutzhilfe auf der Internetseite der Polizei Berlin zu den Themen Prävention/ Ext- remismus/ Rechtsextremismus,  die Erarbeitung und Verteilung von Handzetteln für Zeugen/ Opfer rechtsextremistischer Straftaten und  die Vermittlung der Opfer an Opferhilfeeinrichtungen wie beispielsweise Reach Out, Antidiskri- minierungswerk Berlin (ADNB), Weißer Ring e.V., Opferhilfe Berlin. Darüber hinaus wird derzeit in der Polizei Berlin eine Gesamtstrategie zur Bekämpfung des Rechtsextremismus erarbeitet, die sowohl die Bereiche Repression und Prä- vention als auch die Zusammenarbeit mit Opferschutzor- ganisationen umfasst. 3. Wie viele Vorfälle von öffentlich propagiertem Antisemitismus (z.B. Publikationen, Flugblätter, Vor- träge) sind in diesem Zeitraum aktenkundig geworden? Ist eine Tendenz der Entwicklung dokumentierter Juden- feindlichkeit in der deutschen Öffentlichkeit zu beobach- ten? Zu 3.: In der folgenden Übersicht werden nur Sach- verhalte dargestellt, in denen „Druckerzeugnisse“ (Plakate , Aufkleber oder Flugblätter) als Tatmittel verwandt wurden, unabhängig davon ob sie in der Öffentlichkeit verteilt oder an Personen bzw. Organisationen versandt wurden. Eine gesonderte statistische Erfassung zu „Vorträgen “ erfolgt nicht. 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 (Stichtag 31.05.) antisemitisch 9 19 8 10 13 4 9 9 5 1 Aufgrund der geringen absoluten Fallzahlen ergibt sich aus den Schwankungen keine statistische Aussage- kraft. Öffentlich propagierter Antisemitismus findet sich insbesondere im islamistischen und rechtsextremistischen Spektrum. Abgeordnetenhaus Berlin – 17. Wahlperiode Drucksache 17 / 14 300 3 Bei allen islamistischen Organisationen und Gruppie- rungen in Deutschland ist Antisemitismus verbreitet und ein konstitutiver Bestandteil ihrer Ideologie. Erweitert um häufig pseudoreligiös begründete Stereotype finden sich bei Islamistinnen und Islamisten sämtliche Ausprägungen des religiösen, politischen und sozialen Antisemitismus sowie des sekundären Antisemitismus in Form der Holo- caustleugnung. Im Zentrum der antisemitischen Agenden von Islamis- tinnen und Islamisten steht vor allem die Delegitimierung des Existenzrechts Israels. Entsprechend propagieren fast sämtliche Gruppen Gewaltanwendung gegen Israel und seine Staatsbürgerinnen und Staatsbürger und verlangen die Auslöschung des jüdischen Staates. Einige Gruppie- rungen, wie das Terrornetzwerk „al-Qa‘ida“, fordern darüber hinaus, Juden weltweit zu bekämpfen und zu töten. Die weitgehend nicht offen agierenden islamistischen Gruppen in Deutschland wirken hauptsächlich im Ideolo- gie-Transfer, der vor allem über moderne Kommunikati- onsmittel und islamistische Satellitensender erfolgt und einige arabisch- und türkischstämmige Jugendliche zu mobilisieren vermag. So ist generell in Deutschland zu Zeiten im Nahen Osten ausgetragener militärischer Aus- einandersetzungen zwischen Israel und den Palästinensern ein Anstieg antisemitischer Straf- und Gewalttaten zu verzeichnen. Im rechtsextremistischen Spektrum ist Antisemitismus bei nahezu allen Organisationen und Personenzusammen- hängen ein mehr oder minder bedeutsames Ideologie- fragment. 4. Stehen Demonstrationen, die den Staat Israel zum Thema haben unter besonderem Schutz oder Auf- sicht der staatlichen Behörden? Wenn ja, wie sind diese gestaltet und wie verteilen sich die Zuständigkeiten zwi- schen den Behörden des Landes und/oder Bundes? Wenn nein, warum nicht? Zu 4.: Bei der Wahrnehmung der Versammlungsfrei- heit handelt es sich um eine direkte Grundrechtsausübung. Der Staat ist dazu verpflichtet, diese weitestgehend zu ermöglichen. Insofern stehen jeder Aufzug und jede Ver- sammlung unabhängig vom Thema unter demselben staat- lichen Schutz. Bei Versammlungen unter freiem Himmel sind Be- schränkungen ausschließlich bei zu besorgenden Gefah- ren, die sich gegen Schutzgüter der öffentlichen Sicher- heit oder Ordnung richten, zulässig. Wegen der direkten Grundrechtseinschränkung ist hierbei regelmäßig ein strenger Maßstab anzulegen. In Berlin werden die Aufgaben der Versammlungsbe- hörde vom Polizeipräsidenten in Berlin wahrgenommen. Eine Zuständigkeit von Bundesbehörden ist nicht gege- ben. Bei der Versammlungsbehörde handelt es sich um eine Ordnungsbehörde, die bei „Demonstrationen“ als Anmeldebehörde für Versammlungen unter freiem Him- mel die ordnungsrechtlichen Maßnahmen nach dem Ver- sammlungsgesetz trifft. Die Begleitung der Versammlung und damit der direkt „sichtbare“ Versammlungsschutz wird von der Schutzpolizei wahrgenommen. Diese trifft ihre Maßnahmen eigen- ständig in Abhängigkeit von der Beurteilung der Lage während der Versammlung. Sollten ordnungsrechtliche Eingriffe bei der direkten Versammlungsbegleitung erfor- derlich sein, nimmt die Schutzpolizei zudem die Aufga- ben der Versammlungsbehörde „vor Ort“ wahr. Besonderheiten, die eine erhöhte Polizeipräsenz erfor- dern, können sich, auch in Abhängigkeit des Versamm- lungsthemas, aus der Bewertung der Gesamtsituation zum Zeitpunkt der Versammlung ergeben und damit einen höheren Kräfteeinsatz initiieren. 5. Kam es in den zurückliegenden zehn Jahren zu nicht erfolgten Genehmigungen von Demonstrationen dieser Thematik aufgrund der beabsichtigten Demonstra- tionsinhalte oder Ziele der Anmeldenden? Wenn ja, wel- che anmeldenden Organisationen waren davon betroffen? Zu 5.: Versammlungen und Aufzüge unter freiem Himmel sind erlaubnisfrei, können aber von bestimmten Auflagen abhängig gemacht oder verboten werden, wenn nach den erkennbaren Umständen die öffentliche Sicher- heit oder Ordnung bei Durchführung der Versammlung oder des Aufzuges unmittelbar gefährdet ist (vgl. § 15 Abs. 1 Versammlungsgesetz (VersG)). Zu Versamm- lungsverboten derartiger Demonstrationen kam es in den letzten 10 Jahren nicht. Aufgrund der dreijährigen Auf- bewahrungsfrist von Versammlungsvorgängen können valide Aussagen allerdings lediglich für die letzten drei Jahre getroffen werden. 6. Wie verhält sich der Senat in Reaktion auf spontan unangemeldete Demonstrationen zu diesem Thema? Gibt es Maßnahmen zur Prävention? Zu 6.: Spontanversammlungen bzw. -demonstrationen sind Versammlungen oder Aufzüge unter freiem Himmel, die nicht längerfristig vorbereitet sind, sondern aus einem aktuellen Anlass entstehen. Man unterscheidet hierbei zwischen den (mangels Möglichkeit) nicht anmeldepflich- tigen Sofortversammlungen (Spontanversammlungen im engeren Sinne) und den anmeldepflichtigen Eil- bzw. Blitzversammlungen (Spontanversammlungen im weite- ren Sinne). Nicht anmeldepflichtige Sofortversammlun- gen haben in der Regel keine bzw. keinen anmeldefähigen und damit auch –pflichtige Veranstalterin bzw. – pflichtigen Veranstalter. Sie zeichnen sich dadurch aus, dass sie aus aktuellem Anlass augenblicklich entstehen, der unmittelbare Beschluss sich zu versammeln mit der tatsächlichen Ausführung also unmittelbar zeitlich zu- sammenfällt. Abgeordnetenhaus Berlin – 17. Wahlperiode Drucksache 17 / 14 300 4 Eine Anmeldung ist dann, ohne dem Sinn und Zweck der Versammlung zu widersprechen, nicht mehr möglich, denn die Versammlung müsste aufgeschoben werden, um der Anmeldepflicht nachzukommen. Stellt die Polizei eine solche Versammlung fest und kommt es dadurch zu keinen Verstößen gegen die öffent- liche Sicherheit, wird die Durchführung im Rahmen des gesetzlichen Auftrags weitestgehend ermöglicht. Die Spontaneität ist dabei kein Auflösungsgrund i.S.d. § 15 Abs. 3 VersG. Diese Norm ist generell grundrechts- freundlich auszulegen. Sind Verstöße gegen die öffentli- che Sicherheit und Ordnung unabhängig von der fehlen- den Anmeldung zu besorgen, ist mithin zunächst als Min- dermaßnahme eine Beauflagung zu prüfen. Eine solche kann sich allerdings auch aus der Spontaneität ergeben, wenn z. B. erhebliche Verkehrsmaßnahmen notwendig wären und sich die dafür erforderlichen Einsatzkräfte (noch) nicht vor Ort befinden. Die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Glaubensrichtung oder die Staatsangehörig- keit der Versammlungsteilnehmerinnen und Versamm- lungsteilnehmer ist unerheblich. Aus dem präventiven Ansatz heraus werden bei De- monstrationen gezielt Kommunikationsteams eingesetzt, um Einfluss auf die Teilnehmerinnen und Teilnehmer auszuüben und einen gewaltfreien Einsatzverlauf zu ge- währleisten. Durch die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der örtlichen Arbeitsgruppen für Integration und Migrati- on wurden in der Vergangenheit im Vorfeld von De- monstrationen mit Konfliktparteien, Netzwerkpartnerin- nen bzw. Netzwerkpartnern oder Migrantenorganisatio- nen persönliche Gespräche geführt und Hinweise gege- ben, wie mit Provokationen beispielweise von Gegende- monstranten umgegangen werden sollte. Dadurch verlie- fen die Demonstrationen erfahrungsgemäß ruhig und friedlich. Berlin, den 14. August 2014 Frank Henkel Senator für Inneres und Sport (Eingang beim Abgeordnetenhaus am 18. August 2014)