Drucksache 17 / 14 369 Schriftliche Anfrage 17. Wahlperiode Schriftliche Anfrage des Abgeordneten Christopher Lauer (PIRATEN) vom 11. August 2014 (Eingang beim Abgeordnetenhaus am 13. August 2014) und Antwort Schmerzensschreie hallen durch die Straßen – Räumung von Sitzblockaden im Land Berlin (II) Die Drucksachen des Abgeordnetenhauses sind bei der Kulturbuch-Verlag GmbH zu beziehen. Hausanschrift: Sprosserweg 3, 12351 Berlin-Buckow · Postanschrift: Postfach 47 04 49, 12313 Berlin, Telefon: 6 61 84 84; Telefax: 6 61 78 28. Im Namen des Senats von Berlin beantworte ich Ihre Schriftliche Anfrage wie folgt: 1. Was genau sind die Inhalte der Ausbildung zur Räumung von Sitz(-Blockaden) bei der Berliner Polizei und wie viele Stunden umfasst diese Lehreinheit? (Bitte Schulungsunterlagen im Originalwortlaut beifügen.) Zu 1.: Theorie und Praxis zur Räumung von Sitzblo- ckaden werden den Auszubildenden in der Zentralen Serviceeinheit (Abteilung IV - Aus- und Fortbildung) der Polizei Berlin vermittelt. In der Theorie ist das Thema Sitzblockaden Bestand- teil der Lehrgebiete „Sicherheits- und Ordnungslehre“ sowie „Besonderes Ordnungsrecht“. Der Schutzbereich des Artikels 8 Grundgesetz (Grundrecht auf Versamm- lungsfreiheit) wird im Zusammenhang mit Sitzblockaden erörtert und ist wesentlicher Inhalt des Versammlungs- rechts. Diesem versammlungsrechtlichen Theorieteil werden zwei Unterrichtseinheiten im 1. und 2. Ausbil- dungsabschnitt eingeräumt. Dort werden auch die rechtli- chen Voraussetzungen für das generelle Einschreiten, bis hin zur Anwendung des unmittelbaren Zwanges, vermit- telt. Das zu vermittelnde Wissen zur „Anwendung unmittelbaren Zwangs“ (60 Unterrichtseinheiten) ist nicht spezifisch auf das Thema Sitzblockaden ausgerichtet. In diesem Kontext richtet sich der Fokus besonders auf den „Grundsatz der Verhältnismäßigkeit“, welcher zugleich ein zentraler Bestandteil aller Themen in der Ausbildung darstellt und bei allen grundrechtseinschränkenden Maß- nahmen der Polizei besondere Beachtung findet. In der Praxis sind insgesamt 6 Unterrichtseinheiten für die Thematik Sitzblockaden vorgesehen. Diese sind Aus- bildungsinhalt des Konzepts “Beweissicherung und Freiheitsentziehung der Einsatzeinheiten im Land Berlin“, das als Verschlusssache - nur für den Dienstgebrauch (VS- NfD) eingestuft ist. Das Konzept bildet zusammen mit dem „Handbuch Einsatztraining“ den inhaltlichen Rahmen für die Schulung der Auszubildenden. Das „Handbuch Einsatztraining “ enthält keine konkreten Inhalte zur Räumung von Sitzblockaden, sondern beinhaltet allgemeine Beschrei- bungen zur Anwendung der Technik bei der einsatzbezo- genen Selbstverteidigung. Auf Grund des bestehenden Geheimhaltungsinteresses ist es nicht möglich, Schu- lungsunterlagen zu diesem Themenfeld zu veröffentli- chen. 2. Ist es zulässig, Sitz(-Blockaden) durch Boxschläge von Polizist*innen zu räumen und wenn ja, wird dies extra in der Ausbildung der Berliner Polizei trainiert? In welchen inhaltlichen Zusammenhängen werden gezielte Boxschläge im Einsatz trainiert? Zu 2.: Die Zulässigkeit der Anwendung von polizeili- chen Zwangsmaßnahmen, hier der Anwendung körperli- cher Gewalt durch Boxschläge, kann nicht allgemeingül- tig und losgelöst vom konkreten Sachverhalt festgestellt werden. Polizeiliche Zwangsmaßnahmen orientieren sich grundsätzlich an dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Die Wahl des Mittels, das zur Durchsetzung der rechtmä- ßigen polizeilichen Maßnahme erforderlich wird, ist folg- lich abhängig von der Intensität des geleisteten Wider- standes. Boxtechniken werden im Rahmen der Einsatzbezoge- nen Selbstverteidigung (ESV) im Sportunterricht trainiert. In diesem Zusammenhang werden sportmotorische Fer- tigkeiten und Techniken gelehrt. Hiervon werden folgen- de Themenbereiche umfasst: - Grundstellungen - Bewegung in der Schutzhaltung - Falltechniken - Techniken (Schlag-, Stoß-, Tritttechniken) im Stand und in der Bewegung - Wurftechniken - Lösetechniken - Festlege-, Aufhebe-, Transport-, Hebeltechniken Abgeordnetenhaus Berlin – 17. Wahlperiode Drucksache 17 / 14 369 2 Boxtechniken werden im Rahmen der Einsatzbezoge- nen Selbstverteidigung losgelöst von einzelnen Einsatzsi- tuationen trainiert. Ein festgelegtes Training zur Auflö- sung von Sitzblockaden mittels Boxschlägen gibt es in der Ausbildung für die Einsatzbezogene Selbstverteidi- gung nicht. 3. Bei welchen der 25 aufgelösten Sitz(-Blockaden) ist die Berliner Polizei vom generellen Verfahren zur Auflösung von Sitz(-Blockaden) abgewichen und warum jeweils? (vgl. Antworten auf die Fragen 2 und 5 der Schriftlichen Anfrage Nr. 17/14174.) (Bitte eine tabellari- sche Auflistung mit jeweils einer kurzen Begründung.) Zu 3.: Eine Abweichung vom generellen Verfahren hat in den genannten 25 Fällen von Sitzblockaden nicht stattgefunden. Dabei wird darauf hingewiesen, dass in zwei Fällen (Nr. 10 und 20 der Antwort auf Frage 2 der Schriftlichen Anfrage 17/17174) aus Gründen der Verhältnismäßigkeit keine Auflösung erfolgte. 4. Welche Art der körperlichen Gewalt (Wegtragen, Schmerzgriffe, Boxschläge, Tritte etc.) wurde beim Auf- lösen der in der Antwort auf Frage 5 aufgeführten Sitz(- Blockaden)der Schriftlichen Anfrage Nr. 17/14174 durch Polizist*innen jeweils ausgeübt? (Bitte eine tabellarische Auflistung wie in der Antwort auf Frage 5 der Schriftli- chen Anfrage Nr. 17/14174.) Zu 4.: Eine statistische Aufbereitung in der gewünsch- ten Form liegt nicht vor. Im Zusammenhang mit den dargestellten Sachverhalten sind Ermittlungsverfahren anhängig. Daher können diese Detailinformationen nicht veröffentlicht werden. 5. Teilt der Senat die Auffassung, dass der Einsatz von Boxschlägen, Schmerzgriffen und insbesondere von Schlagstöcken (Rettungsmehrzweckstöcke) und Pfeffer- spray in den überwiegenden Fällen zu Verletzungen bei Teilnehmer*innen von Sitz(-Blockaden) führt und wie definiert der Senat in diesem Zusammenhang Verletzun- gen? 6. Ist nach Ansicht des Senats davon auszugehen, dass Teilnehmer*innen von Sitz(-Blockaden) gegen die Schlagstöcke und Pfefferspray eingesetzt wurden, Verlet- zungen erlitten haben? Zu 5. und 6.: Es ist nicht das polizeiliche Ziel, von po- lizeilichen Zwangsmaßnahmen Betroffene zu verletzen, sondern im Rahmen und unter Beachtung des Grundsat- zes der Verhältnismäßigkeit eine polizeiliche Verfügung durchzusetzen oder – unter den gleichen Voraussetzungen – Widerstand zu brechen. Dass – je nach ausgeübtem Widerstand und Einzelfall – auch Verletzungen möglich sind, liegt im Wesen der Ausübung unmittelbaren Zwan- ges durch dafür legitimierte Hoheitsträger. 7. Wie kann die Frage 7 der Schriftlichen Anfrage Nr. 17/14174, ob Teilnehmer*innen von Sitz(-Blockaden) im Zuge der Auflösung von Sitz(-Blockaden) durch die Polizei verletzt wurden, dahingehend beantwortet werden, dass nicht bekannt sei, ob Teilnehmer*innen verletzt wur- den, wenn zwei Fragen zuvor angegeben wurde, dass es im Rahmen der Auflösung auch zum Einsatz von Schlag- stöcken und Pfefferspray gekommen ist? Zu 7.: Wie bereits bei der Schriftlichen Anfrage Drucksache 17/14174 in der Frage 7 beantwortet wurde, ist der Polizei Berlin nicht bekannt geworden, dass Ver- sammlungsteilnehmerinnen oder Versammlungsteilneh- mer verletzt wurden. 8. Inwiefern wird der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gewahrt, wenn Sitz(-Blockaden) mit körperlicher Gewalt und insbesondere mit Hilfsmitteln (Pfefferspray und Schlagstöcken) lediglich zum Freihalten von Durch- fahrmöglichkeiten für die Polizei und dem Freihalten von Rettungswegen geräumt werden, ohne dass diese wirklich im konkreten Einzelfall gebraucht werden? Zu 8: Die Anwendung unmittelbaren Zwanges bezieht sich nicht ausschließlich auf die Gefahrenabwehr (z.B. Freihalten der Rettungswege), sondern gilt für alle im Bundes- bzw. Landesrecht geregelten Fälle. So auch bei Widerstandshandlungen (gem. § 113 Strafgesetzbuch (StGB)) von Personen, die zuvor mehrmals aufgefordert wurden, einen Rettungsweg/Gefahrenbereich zu verlas- sen, um dann bei der folgenden Anwendung körperlicher Gewalt durch die Polizeikräfte mit Gewalt drohen, Gewalt anwenden oder diese tätlich angreifen. Die Prüfung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit findet dabei unabhängig davon statt, auf welchem Rechts- gebiet (Gefahrenabwehr/Strafverfolgung) die Polizei ihre Amts-/Vollstreckungshandlungen stützt. Ihr obliegt dabei immer die situationsbedingte Einzelfallprüfung. Diese Prüfung wird durch den jeweiligen Einsatzverantwortli- chen vorgenommen, der unter Berücksichtigung aller bekannten Gegebenheiten und Voraussetzungen die not- wendigen Maßnahmen auswählt. 9. Kann der Senat ausschließen, dass lediglich in den in der Tabelle ausgewiesenen Fällen Schlagstöcke und Pfefferspray zur Räumung von Sitz(-Blockaden) eingesetzt wurden? Zu 9.: Die Ausübung unmittelbaren Zwanges, auch unter Einsatz von Hilfsmitteln der körperlichen Gewalt, ist ein meldepflichtiges Verhalten jeder Polizistin und jedes Polizisten, so dass hier davon auszugehen ist, dass die Tabelle die vollständige Darstellung der Schlagstock- und Pfeffersprayeinsätze im Kontext der Blockadeaktio- nen abbildet. a) Wenn ja, aufgrund welcher Kontrollmechanismen kann der Senat dies ausschließen? Abgeordnetenhaus Berlin – 17. Wahlperiode Drucksache 17 / 14 369 3 Zu 9a: Während des Einsatzgeschehens wird durch ein dichtes Netz an Dienstaufsicht durch die jeweiligen Vor- gesetzten bis hin zur Polizeiführerin bzw. zum Polizeifüh- rer eine Kontrolle gewährleistet. Des Weiteren dient die strukturierte Einsatznachbereitung der Berliner Polizei ebenfalls dem Ziel einer möglichst lückenlosen Kontrolle einsatzrelevanter Sachverhalte. Die fehlende Meldung der Anwendung unmittelbaren Zwanges kann im Einzelfall zu disziplinarrechtlichen und auch strafrechtlichen Konsequenzen führen. Letztlich erfolgt die Kontrolle der Anwendung von Zwangsmitteln sowohl auf dem Gebiet der Gefahrenabwehr als auch in Fällen der Ordnungswidrigkeiten- und Strafverfolgung durch die Judikative. b) Wenn nein, in welchen Fällen wurde es nicht dokumentiert ? Zu 9b: Entfällt. 10. Wird der Einsatz von Hilfsmitteln unabhängig von der Fertigung einer Strafanzeige dokumentiert und wenn nein, warum nicht? Zu 10.: Ja. 11. Wird der Einsatz von Hilfsmitteln durch jede einzelne Polizist*in oder nur insgesamt für eine Einsatzsi- tuation (z.B. Räumung der Sitzblockade) dokumentiert? Zu 11.: Die Dokumentation des Einsatzes von Hilfs- mitteln erfolgt einzelfallbezogen entweder durch die Poli- zeidienstkraft selbst (z.B. im Einzeldienst bzw. Täglichen Dienst) oder durch das Vorliegen einer Straftat in der Strafanzeige. Im geschlossenen Einsatz (z.B. Sitzblocka- de) wird der Einsatz von Hilfsmitteln in die Gesamtdo- kumentation des Einsatzgeschehens aufgenommen. Berlin, den 28. August 2014 In Vertretung Andreas Statzkowski Senatsverwaltung für Inneres und Sport (Eingang beim Abgeordnetenhaus am 03. Sep. 2014)