Drucksache 17 / 14 397 Schriftliche Anfrage 17. Wahlperiode Schriftliche Anfrage des Abgeordneten Fabio Reinhardt (PIRATEN) vom 19. August 2014 (Eingang beim Abgeordnetenhaus am 21. August 2014) und Antwort Protestierende Flüchtlinge vom Oranienplatz und aus der ehemaligen Gerhart- Hauptmann-Schule: Zwischenbilanz zum „Einigungspapier Oranienplatz“ Die Drucksachen des Abgeordnetenhauses sind bei der Kulturbuch-Verlag GmbH zu beziehen. Hausanschrift: Sprosserweg 3, 12351 Berlin-Buckow · Postanschrift: Postfach 47 04 49, 12313 Berlin, Telefon: 6 61 84 84; Telefax: 6 61 78 28. Im Namen des Senats von Berlin beantworte ich Ihre Schriftliche Anfrage wie folgt: 1. Welche konkreten Zusagen beinhaltet die Einigung des Senats mit den „Oranienplatzflüchtlingen“ hinsichtlich der ausländerrechtlichen Verfahren, ihrer materiellen Versorgung sowie hinsichtlich des Angebots von Deutschkursen und Berufsberatung? Welche Verbindlich- keit haben die jeweiligen Zusagen aus Sicht des Berliner Senats? Zu 1.: Das genannte Einigungspapier sichert den Flüchtlingen vom Oranienplatz nach Abbau der Zelte und dem Auszug der namentlich in einer Liste genannten Flüchtlingen aus der Gerhart-Hauptmann-Schule auf Antrag eine umfassende Prüfung der Einzelfallverfahren im Rahmen aller rechtlichen Möglichkeiten (Beantragung einer Aufenthaltsgenehmigung, Anträge auf Umvertei- lung nach § 51 Asylverfahrensgesetz - AsylVfG, etc.) zu. In diesem Sinne unterstützt die Ausländerbehörde die Antragstellerinnen und Antragsteller während des Verfah- rens beratend. Die auf der Liste benannten Personen erhalten bei ih- ren Einzelverfahren außerdem Unterstützung durch den Unterstützungspool, der von den Wohlfahrtsverbänden Caritas und Diakonie sowie der Integrationsbeauftragten des Landes Berlin sichergestellt wird. Für die Zeit der Prüfung der jeweiligen Einzelverfahren bleibt die Ab- schiebung ausgesetzt, soweit der Berliner Senat hierauf Einfluss nehmen kann. Bei Beantragung eines Aufent- haltstitels verbleiben sämtliche von einem anderen Schengenstaat ausgestellten gültigen Ausweisdokumente nach Fertigung beglaubigter Kopien bei den Antragstelle- rinnen und Antragstellern. Die Ausländerbehörde wird keine Ausreiseverweigerung aussprechen. Darüber hinaus erhalten die Flüchtlinge Unterstützung und Begleitung bei der Entwicklung ihrer beruflichen Perspektiven. Dazu gehören insbesondere der Zugang zu Deutschkursen, die Anerkennung ihrer beruflichen Kom- petenzen und Beratungen zur beruflichen Entwicklung sowie der Zugang zur Berufsausbildung, zum Studium und zum Arbeitsmarkt im Rahmen der gesetzlichen Mög- lichkeiten. Das Papier enthält dem Wortlaut nach keine Aussagen zur materiellen Versorgung der Flüchtlinge. Das genannte Einigungspapier wird im Rahmen der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung, das heißt, unter Beach- tung der geltenden aufenthalts- und asylrechtlichen Vor- schriften durch den Senat von Berlin umgesetzt und die Zusagen mit dieser Maßgabe eingehalten. 2. Wie ist das „Oranienplatz-Verfahren“ konkret ausgestaltet und auf welcher Rechtsgrundlage findet dies statt? 3. Nach Punkt 4 des „Einigungspapiers Oranienplatz“ wird die Ausländerbehörde die Antragsteller*innen bera- tend unterstützen. Wie sieht diese Unterstützung konkret aus? Zu 2. und 3.: Die Betroffenen erhalten eine Einladung zur Vorsprache, bei der sie ggf. unter Beiziehung von Dolmetscherinnen bzw. Dolmetschern ausführlich ange- hört und unterstützend beraten werden. Rechtsgrundlage für die aufenthaltsrechtliche Prüfung sind das Aufent- haltsgesetz und andere ausländer- und asylverfahrens- rechtliche Bestimmungen in anderen Gesetzen sowie das Berliner Verwaltungsverfahrensgesetz. Abgeordnetenhaus Berlin – 17. Wahlperiode Drucksache 17 / 14 397 2 4. Gelten für die aus der ehemaligen Gerhart- Hauptmann-Schule ausgezogenen und durch das Landes- amt für Gesundheit und Soziales (LAGeSo) untergebrach- ten Personen ebenfalls die Zusagen des „Einigungspapiers Oranienplatz“? Zu 4.: Ja. 5. Wie viele Personen haben eine sogenannte Orani- enplatzkarte erhalten, die sie als Teilnehmer*innen der „Oranienplatz-Vereinbarung“ ausweist? Zu 5.: Insgesamt wurden für 265 Personen „Oranienplatzkarten “ ausgestellt. 6. Wie viele „Oranienplatz-Verfahren“ von Flüchtlingen vom Oranienplatz und der ehemaligen Gerhart- Hauptmann-Schule laufen derzeit? Zu 6.: Es gibt derzeit 223 Verfahren von Flüchtlingen vom Oranienplatz und aus der ehemaligen Gerhart- Hauptmann-Schule. 7. Welche Rechte und Pflichten gelten für die Flücht- linge vom Oranienplatz und der Gerhart-Hauptmann- Schule im Rahmen eines „Oranienplatz-Verfahren“? Auf welcher Rechtsgrundlage gelten diese und wo sind sie festgeschrieben (vgl. Innensenator Frank Henkel in der Berliner Morgenpost vom 13. August 2014)? Zu 7.: Die genannten Flüchtlinge haben das Recht, auf Antrag ihre aufenthaltsrechtlichen Verfahren und rechtli- chen Perspektiven durch die Ausländerbehörde überprü- fen zu lassen. Hierbei unterliegen sie auch der Mitwir- kungspflicht gemäß § 82 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) bzw. § 15 Asylverfahrensgesetz (AsylVG). 8. Wie viele Aufenthaltserlaubnisse wurden Flücht- lingen vom Oranienplatz sowie aus der ehemaligen Gerhart-Hauptmann-Schule bislang erteilt? Falls dies statistisch so nicht erfasst werden sollte: Wie viele Perso- nen mit Oranienplatzkarte haben bisher eine Aufenthalts- erlaubnis erhalten? Zu 8.: Bis zum 25. August 2014 konnte zwei Personen aus dem genannten Personenkreis eine Aufenthaltserlaub- nis erteilt werden. 9. Unter welchen Voraussetzungen wird ein Antrag von Teilnehmer*innen der „Oranienplatz-Einigung“ auf länderübergreifende Umverteilung bewilligt? Zu 9.: Auch für Umverteilungsanträge im Sinne der § 15 a AufenthG und § 51 AsylVfG finden die geltenden aufenthalts- und asylrechtlichen Vorschriften wie für alle anderen Ausländerinnen und Ausländer Anwendung. Gemäß § 61 AufenthG kann von der räumlichen Be- schränkung des Aufenthaltes eines vollziehbar Ausreise- pflichtigen abgewichen werden, wenn der Ausländer zur Ausübung einer Beschäftigung ohne Zustimmung durch die Bundesagentur für Arbeit berechtigt ist oder wenn dies zum Zwecke des Schulbesuchs, der betrieblichen Aus- und Weiterbildung, oder des Studiums an einer staatlichen oder staatlich anerkannten Hochschule oder vergleichbaren Ausbildungseinrichtung erforderlich ist. Das gleiche gilt, wenn dies der Aufrechterhaltung der Familieneinheit dient. Auch § 58 AsylVfG sieht Ausnahmen von der räumli- chen Beschränkung für Asylbewerberinnen und Asylbe- werber vor. Danach kann die Ausländerbehörde einer Ausländerin bzw. einem Ausländer, der nicht oder nicht mehr verpflichtet ist, in einer Aufnahmeeinrichtung zu wohnen, erlauben, den Geltungsbereich der Aufenthalts- gestattung vorübergehend zu verlassen oder sich allge- mein in dem Bezirk einer anderen Ausländerbehörde aufzuhalten. Diese Erlaubnis ist zu erteilen, wenn hieran ein dringendes öffentliches Interesse besteht, zwingende Gründe es erfordern oder die Versagung der Erlaubnis eine unbillige Härte bedeuten würde. § 58 Abs.1 Satz 3 AsylVfG sieht eine Reihe von Regelfällen vor, in denen die Erlaubnis zu erteilen ist, so z.B. wenn eine erlaubte Beschäftigung ausgeübt werden soll oder wenn dies zum Zwecke des Schulbesuchs der betrieblichen Aus- und Weiterbildung erforderlich ist. 10. Wie viele Anträge auf länderübergreifende Umver- teilung wurden für die Flüchtlinge vom Oranienplatz sowie aus der ehemaligen Gerhart-Hauptmann-Schule bislang bewilligt? Zu 10.: Bislang konnte auch nach sorgfältiger Prüfung aller Umstände der Einzelfälle durch die Berliner Auslän- derbehörde keinem Umverteilungsantrag entsprochen werden, da die rechtlichen Voraussetzungen dafür nicht vorlagen. 11. Für wie viele Teilnehmer*innen der „Oranienplatz -Einigung“ erging seit dem 8. April 2014 eine Verteilentscheidung nach § 15a Aufenthaltsgesetz für ein anderes Bundesland? Zu 11.: Es sind gemäß § 15 a AufenthG bisher drei Verteilentscheidungen für ein anderes Bundesland getrof- fen worden. 12. Wie viele Abschiebestopps gemäß § 60 a Aufent- haltsgesetz wurden durch die Senatsverwaltung für Inne- res und Sport für die Flüchtlinge, die unter das „Einigungspapier Oranienplatz“ fallen, bislang angeordnet? Zu 12.: Die Senatsverwaltung für Inneres und Sport hat keinen Abschiebestopp für den genannten Personen- kreis angeordnet. Abgeordnetenhaus Berlin – 17. Wahlperiode Drucksache 17 / 14 397 3 13. Besteht nach Ansicht des Senats ein Anspruch auf Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz ein- schließlich medizinischer Versorgung nur für Personen, die einen Asylantrag gestellt haben, wie es das LAGeSo in Antwort auf entsprechende Anträge auf medizinische Versorgung durch Teilnehmer*innen der „OranienplatzEinigung “ nahelegt? Zu 13.: Soweit im Ergebnis einer aufenthaltsrechtli- chen Prüfung ein gesetzlicher Anspruch auf Leistungen nach dem AsylbLG festgestellt wird, umfasst der an- spruchsberechtigte Personenkreis nach § 1 AsylbLG nicht nur Asylbewerberinnen und Asylbewerber, sondern z.B. auch Personen mit einer Duldung oder mit bestimmten Aufenthaltserlaubnissen. Das Landesamt für Gesundheit und Soziales Berlin (LAGeSo) ist für die Leistungsge- währung an Asylbewerberinnen und Asylbewerber (ein- schließlich der Leistungen bei Krankheit) zuständig, de- ren Asylverfahren in Berlin durchgeführt wird. Liegt hingegen eine Verteilentscheidung zu Gunsten einer ande- ren Aufnahmeeinrichtung im Bundesgebiet vor, besteht in Berlin nach dem AsylbLG kein Anspruch auf eine Regel- versorgung, sondern lediglich auf die unabweisbar gebo- tenen Leistungen. Im Regelfall sind dies Fahrkarte und Proviant, um die zuständige Aufnahmeeinrichtung zu erreichen. Bei dem betroffenen Personenkreis bestand zunächst keine Klarheit über deren aufenthaltsrechtlichen Verhält- nisse, welche auch für eventuelle leistungsrechtliche An- sprüche maßgeblich sind. Daher war der Senat bereit, für diese Personen bis zum Abschluss der aufenthaltsrechtli- chen Statusprüfung durch die Berliner Ausländerbehörde freiwillige Leistungen durch Bereitstellung einer Unter- kunft, Geldleistungen zum Lebensunterhalt sowie medizi- nische Notfallversorgung zu gewähren. Es handelte sich somit nicht um gesetzliche Anspruchsleistungen, so dass die Bestimmungen des Asylbewerberleistungsgesetzes (AsylbLG) über Leistungen bei Krankheit insoweit nicht zu Grunde gelegt werden können. 14. Wie viele Plätze in Deutschkursen werden für „Oranienplatzflüchtlinge“ im Auftrag des Senats angeboten ? a. Wie viele Kurse finden derzeit statt? b. Mit welcher Klassenstärke und mit welcher Lauf- zeit? c. Wer ist Träger dieser Kurse? d. Wie viele Flüchtlinge vom Oranienplatz sowie aus der ehemaligen Gerhart-Hauptmann-Schule neh- men derzeit an den senatseigenen Deutschkursen teil? Zu 14 a-d: Einschließlich der im September beginnen- den Kurse finden aktuell 32 Kurse statt. In jedem Kurs können bis zu 20 Personen aufgenommen werden. Die Kurse sind modular aufgebaut, jedes Modul beinhaltet 100 Unterrichtseinheiten. Jede Person kann bis zu vier Module besuchen. Die Kurse werden bei folgenden Volkshochschulen durchgeführt: Charlottenburg-Wil- mersdorf, Friedrichshain-Kreuzberg, Marzahn-Hellers- dorf, Mitte, Neukölln, Reinickendorf, Spandau, Steglitz- Zehlendorf, Tempelhof-Schöneberg und Treptow-Köpe- nick. Die genaue Anzahl der Teilnehmenden kann derzeit nicht ermittelt werden. 15. Welche Träger bieten die im „Einigungspapier Oranienplatz“ zugesagte Berufsberatung im Auftrag des Senats an? a. Seit wann läuft diese Berufsberatung? b. Wie viele Flüchtlinge vom Oranienplatz sowie aus der ehemaligen Gerhart-Hauptmann-Schule wur- den bislang beraten? Zu 15.: Die drei Berliner „LernLäden“, das Lern-Netz Berlin-Brandenburg e.V., sind beauftragt, die Flüchtlinge vom Oranienplatz zur beruflichen Neuorientierung zu beraten. Das Angebot gibt es seit dem 07.07.2014 in Zu- sammenarbeit mit der Diakonie und der Caritas. Bisher wurde das Beratungsangebot nur wenig angenommen. Um die Flüchtlinge besser zu erreichen, gehen die mobi- len Bildungsberaterinnen und Bildungsberater der „LernLäden “ in die Einrichtungen der Diakonie und der Caritas und arbeiten mit den Volkshochschulen zusammen. 16. Wie passt die Empfehlung von Integrationssenato- rin Dilek Kolat (SPD), dass die Flüchtlinge einen Antrag auf humanitären Aufenthalt statt eines Asylantrags stellen sollen (vgl. dpa-Meldung vom 12. August 2014 ), mit der Aufforderung des LAGeSo zusammen, einen Asylantrag zu stellen, um Leistungen nach dem Asylbewerberleis- tungsgesetz erhalten zu können? Zu 16.: Die in den Medien zitierte Empfehlung der für Integration zuständigen Senatorin richtete sich an Perso- nen, deren Asylantrag bereits vom zuständigen Bundes- amt abschlägig beschieden worden ist, oder die ein Auf- enthaltsrecht in einem anderen Mitgliedsstaat der Europä- ischen Union (EU) erhalten haben. In diesen Fällen ist davon auszugehen, dass die Stellung eines Asylantrags in Berlin im Regelfall nicht erfolgversprechend ist. 17. Welche Bedeutung misst der Senat dem Gutachten von Prof. Dr. Andreas Fischer-Lescano und Dr. Matthias Lehnert zur rechtlichen Situation der Flüchtlinge vom Oranienplatz vor dem Hintergrund des „Einigungspapiers Oranienplatz“ und des Umgangs mit den Personen und dem Protestcamp durch das Land Berlin zu? Teilt der Senat die Auffassung der Gutachter, dass Berlin durch die Nicht-Durchsetzung der räumlichen Beschränkung, durch die Einweisung in Gemeinschaftsunterkünfte, durch die Gewährung von finanziellen Leistungen, die den Leistun- gen des Asylbewerberleistungsgesetzes entsprechen sowie durch die faktische Duldung des Protestcamps eine kon- kludente Umverteilung und Übernahme der Zuständigkeit vorgenommen hat bzw. die konkludente Erteilung von Duldungen rechtlich verfestigt hat und Berlin verpflichtet ist, den Betroffenen entsprechende Bescheinigungen auszustellen und Leistungen nach dem Asylbewerberleis- tungsgesetz einschließlich der medizinischen Versorgung zu gewähren? Wenn nein, warum nicht? Zu 17.: Der Senat hat das Gutachten zur Kenntnis ge- nommen. Abgeordnetenhaus Berlin – 17. Wahlperiode Drucksache 17 / 14 397 4 18. Plant der Senat eine Verlängerung des Auftrags an das Diakonische Werk Stadtmitte und den Caritasverband zur Beratung der „Oranienplatzflüchtlinge“? Wenn ja, bis wann? Wenn nein, warum nicht? Zu 18.: Der Senat prüft derzeit, ob weiterer Bera- tungsbedarf besteht. 19. Wer übernimmt die soziale und aufenthaltsrechtli- che Beratung der ehemaligen Bewohner*innen der Gerhart-Hauptmann-Schule, die durch das LAGeSo un- tergebracht werden? Zu 19.: Der Senat ist derzeit mit Unterstützung des Bezirks Friedrichshain-Kreuzberg auf der Suche nach einem geeigneten Träger. 20. Wie viele ehemaligen Bewohner*innen der Gerhart-Hauptmann-Schule sind nach Kenntnis des Se- nats im Zuge der Räumung der Gerhart-Hauptmann- Schule obdachlos geworden, weil sie keinen Platz in einer Unterkunft des Landes Berlin erhalten haben? Zu 20.: Die Anzahl der Personen, die das Schulgebäu- de in der Ohlauer Straße verlassen haben, aber nicht in einer Gemeinschaftsunterkunft des Landesamt für Ge- sundheit und Soziales aufgenommen wurden, ist dem Senat nicht bekannt. Berlin, den 08. September 2014 In Vertretung Bernd Krömer Senatsverwaltung für Inneres und Sport (Eingang beim Abgeordnetenhaus am 11. Sep. 2014)