Drucksache 17 / 14 733 Schriftliche Anfrage 17. Wahlperiode Schriftliche Anfrage der Abgeordneten Anja Kofbinger (GRÜNE) vom 15. Oktober 2014 (Eingang beim Abgeordnetenhaus am 16. Oktober 2014) und Antwort Sexualisierte Gewalt in Berlin II Die Drucksachen des Abgeordnetenhauses sind bei der Kulturbuch-Verlag GmbH zu beziehen. Hausanschrift: Sprosserweg 3, 12351 Berlin-Buckow · Postanschrift: Postfach 47 04 49, 12313 Berlin, Telefon: 6 61 84 84; Telefax: 6 61 78 28. Im Namen des Senats von Berlin beantworte ich Ihre Schriftliche Anfrage wie folgt: 1. Wie ist der gerichtliche Opferschutz für Opfer von sexualisierter Gewalt organisiert? Schätzt der Senat die Ausstattung der Zeugenbetreuungsstelle mit zwei festen Stellen à 31 Wochenstunden als ausreichend ein? Zu 1.: Der gerichtliche Opferschutz - auch für Opfer von sexualisierter Gewalt - wird durch die Zeugenbetreu- ungsstelle der Opferhilfe Berlin e. V. gewährleistet, der vier Räume im Kriminalgerichtsgebäude zur Verfügung stehen. Sie bietet Kindern, Jugendlichen, Frauen und Männern, die vor dem Amtsgericht Tiergarten oder dem Landgericht Berlin zu einer zeugenschaftlichen Verneh- mung geladen werden, Beratung und Unterstützung. Zeu- ginnen und Zeugen können sich telefonisch, per E-Mail oder persönlich mit der Zeugenberatungsstelle in Verbin- dung setzen. Es besteht jedoch auch die Möglichkeit, dass Mitar- beiterinnen und Mitarbeiter des Kriminalgerichts, die mit diesen Personen befasst sind, den Kontakt zur Zeugenbe- ratungsstelle vermitteln, wenn entsprechender Bedarf vermutet wird. Zeuginnen und Zeugen können sich bei der Zeugenberatung über den Ablauf der Hauptverhand- lung sowie über ihre Rechte, aber auch Pflichten im Strafverfahren informieren. Sie können dort Wartezeiten vor der Vernehmung überbrücken. Es ist auf diese Weise gewährleistet, dass die Zeugin- nen und Zeugen nicht vor dem Gerichtssaal in Gegenwart anderer Personen auf ihre Vernehmung warten müssen. Gefährdungs- oder Bedrohungssituationen werden so vermieden. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Zeugenbetreuungsstelle, die über staatliche Anerkennun- gen im Bereich der Sozialpädagogik und Sozialarbeit oder entsprechende Hochschulabschlüsse verfügen, begleiten die Zeuginnen und Zeugen im Bedarfsfall bis zum Ge- richtssaal, sofern dies nicht durch den anwaltlichen Bei- stand übernommen wird, und können auf Wunsch auch während der Vernehmung anwesend sein. Kindliche und jugendliche Zeuginnen und Zeugen werden altersgerecht auf die Verhandlung vorbereitet. Ihnen wie auch anderen Zeuginnen und Zeugen kann beispielsweise auch vorab der Gerichtssaal gezeigt wer- den. Ziel ist es, die oftmals erhebliche psychische Belas- tung der Zeuginnen und Zeugen vor einer Gerichtsver- handlung zu reduzieren und eine Stabilisierung zu bewir- ken. Sollte eine Gefährdungs- oder Bedrohungssituation eintreten, können die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter geeignete Schutzmaßnahmen organisieren. Die Zeugenbetreuungsstelle ist von 08:30 bis 14:00 Uhr geöffnet, bietet jedoch auf Anfrage auch darüber hinaus Betreuung an. Die Zeugenbetreuungsstelle bietet auch eine Online- Beratung über die Opferhilfe Berlin e. V. an, wobei eine Antwort binnen drei Werktagen zugesichert ist. Die Zeugenbetreuungsstelle ist mit drei Beraterin- nen/Beratern mit jeweils 31,4 Wochenstunden besetzt. Im Bedarfsfall, zum Beispiel bei Krankheitsfällen, werden zudem Honorarkräfte eingesetzt. Der Senatsverwaltung für Justiz und Verbraucher- schutz ist nicht bekannt, dass diese personelle Ausstattung nicht ausreichend ist. 2. Wie ist er finanziell ausgestattet? Wie bewertet der Senat diese finanzielle Ausstattung? Zu 2.: Die finanzielle Ausstattung ist wie folgt: Die Opferhilfe e. V. erhält im Jahr 2014 eine Zuwen- dung i. H. v. 237.445 €. Daneben werden folgende Projekte gefördert: Abgeordnetenhaus Berlin – 17. Wahlperiode Drucksache 17 / 14 733 2 Zuwendung an die Charité „Gewaltschutzambulanz“ (neu) 150.000 € Zuwendung an Volkssolidarität (Trägersuche im Wettbewerb) 95.000 € Zuwendung an den Stop-Stalking, KUB e. V. (neu) 116.500 € Zuwendung an den Wildwasser e. V. (neu) 5.490 € 366.990 € Opferbeauftragter 12.000,00 € Die finanzielle Ausstattung erscheint auskömmlich. 3. Wenn Sprachmittlerinnen oder Sprachmittler benö- tigt werden (bei Gerichtsverfahren, Anzeigen, etc.), sind diese geschult, um mit Opfern sexualisierter Gewalt an- gemessen umzugehen? Wenn bislang keine speziellen Schulungen hierzu durchgeführt worden sind, warum nicht? Zu 3.: Die Auswahl von Dolmetscherinnen und Dol- metscher in Gerichtsverfahren obliegt den jeweils zustän- digen Richterinnen und Richter in richterlicher Unabhän- gigkeit; im Ermittlungsverfahren erfolgt die Auswahl bei polizeilichen Vernehmungen durch die Polizei, bei staats- anwaltschaftlichen Vernehmungen durch die Staatsan- waltschaft. Bei der Auswahl der Dolmetscherinnen und Dolmetscher wird berücksichtigt, dass eine angemessene Eignung für den Einsatz bei der Vernehmung eines Op- fers sexualisierter Gewalt besteht. Es ist bislang nicht zutage getreten, dass ein weiterer Schulungsbedarf be- steht. 4. Gibt es - neben der Aushändigung von Informati- onsmaterial - eine Struktur, die gewährleistet, dass Opfer sexualisierter Gewalt schnell und unbürokratisch an Or- ganisationen der Opferhilfe zu jeder Tageszeit weiterge- leitet werden können? Zu 4.: Über die Rufnummern der Berliner Initiative gegen Gewalt an Frauen (BIG-Hotline), LARA-Krisen- und Beratungszentrum für vergewaltigte und sexuell belästigte Frauen, Berliner Krisendienst, den Kindernot- dienst, Jugendnotdienst und Mädchennotdienst kann grundsätzlich schnell und unbürokratisch Kontakt zu Trägern der Opferhilfe aufgenommen werden. Zwar ver- fügen die Organisationen der Opferhilfe über unterschied- liche Zeiten ihrer jeweiligen Erreichbarkeit, doch ist grundsätzlich die jederzeitige Erreichbarkeit mindestens einer Hilfsorganisation gewährleistet. 5. Ist der Senat der Auffassung, dass die Opferhilfen über ausreichende Finanzmittel verfügen, um alle Be- troffenen von sexualisierter Gewalt angemessen betreuen zu können? Zu 5.: Aufgrund der Ausstattung mit nunmehr drei Mitarbeitenden ist die Zeugenbetreuungsstelle in der Lage, Zeuginnen und Zeugen auch während der Haupt- verhandlung zu betreuen. Die Ausstattung erscheint daher gegenwärtig ausreichend. 6. Welche konkreten Ergebnisse hat das seit Juli 2012 arbeitende „Berliner Netzwerk gegen sexuelle Gewalt“ vorzuweisen? Wurde der angekündigte integrierte Maß- nahmenplan erstellt? Welche weiteren Maßnahmen hat das Netzwerk in den letzten zwei Jahren durchgeführt? Zu 6. („Berliner Netzwerk gegen sexualisierte Gewalt “): Am Berliner Netzwerk sind über 50 zivilgesellschaft- liche und staatliche Akteure beteiligt, um Maßnahmen für eine umfassende Verbesserung der Prävention, Interventi- on und Versorgung bei sexualisierter Gewalt in Berlin zu entwickeln. Das unter der Federführung der Senatsver- waltung für Gesundheit und Soziales koordinierte Netz- werk nimmt mit diesem ressort- und institutionenüber- greifenden Ansatz eine bundesweite Vorreiterrolle ein. Mit der Begründung der Netzwerkstruktur im Jahr 2012 ist es erstmals erfolgreich gelungen, die Expertise der in Berlin gegen sexualisierte Gewalt engagierten Akteure in einem gemeinsamen Forum zusammenzuführen und unter Einbeziehung von Betroffenen sexualisierter Gewalt We- ge für umfassende und notwendige Verbesserungen des Berliner Versorgungssystems zu entwickeln. Im Zentrum der Arbeit des Netzwerkes stand und steht die Entwicklung eines Integrierten Maßnahmenplans (IMP), der Defizite und Optimierungspotentiale in der Berliner Präventions-, Interventions- und Versorgungs- struktur aufzeigt und konkrete Verbesserungsmaßnahmen vorschlägt. Die vier Arbeitsgruppen des Netzwerkes ha- ben hierzu bis Ende 2013 über 100 Maßnahmenvorschlä- ge entwickelt. In einem intensiven Abstimmungsverfah- ren wurden diese Vorschläge geprüft, Schnittmengen zusammengeführt und in einem konsistenten Integrierten Maßnahmenpaket mit neun Handlungsfeldern gebündelt. Das Maßnahmenpaket wird bis Ende Oktober 2014 dem wissenschaftlichen Beirat des Netzwerkes zur Begutach- tung vorgelegt, so dass die IMP unter Einbeziehung des aktuellen Forschungsstandes zu sexualisierter Gewalt erfolgt. Nach Abschluss der Begutachtung bilden die Verabschiedung des IMP durch die Gremien des Netz- werks – Plenum und Lenkungsgremium – den nächsten Schritt. Anschließend wird die IMP Senat und Abgeord- netenhaus vorgelegt, die Umsetzung der Maßnahmen soll dann durch die jeweils zuständigen Senats- bzw. Bezirks- verwaltungen initiiert werden. Abgeordnetenhaus Berlin – 17. Wahlperiode Drucksache 17 / 14 733 3 7. Ist durch die Berliner Hilfestruktur sichergestellt, dass Opfer sexualisierter Gewalt von der Anzeige bis zur eventuellen Verhandlung und darüber hinaus angemessen betreut werden? Zu 7.: („Berliner Hilfestruktur“): Die Opferhilfe Berlin e.V. betreut Opfer sexualisierter Gewalt, sobald diese den Kontakt suchen, also bereits vor einer Anzeigenerstattung, während des Ermittlungs- und Strafverfahrens, über die Zeugenbetreuung im Zusam- menhang mit der Hauptverhandlung und auch nach Ab- schluss des Strafverfahrens. 8. Gibt es in den Krankenhäusern zu jeder Tageszeit Personal, das geschult ist, Opfer von sexualisierter Gewalt zu erkennen und angemessen zu reagieren, auch wenn keine entsprechende Anzeige vorliegt? Zu 8.: In einer Bestandsaufnahme des S.I.G.N.A.L. e.V. (Intervention im Gesundheitsbereich gegen Gewalt), der seit 2010 von der Senatsverwaltung für Gesundheit und Soziales gefördert wird, gaben 44% der antwortenden Kliniken mit Rettungsstelle und gynäkologischer Stati- on/Ambulanz an, das Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter Schulungen zur Intervention bei sexueller Gewalt besucht haben. In 28% der Kliniken ist bereits in jeder Schicht eine qualifizierte Mitarbeiterin oder ein qualifizierter Mitarbeiter anwesend. Die Senatsverwaltung für Gesundheit und Soziales un- terstützt S.I.G.N.A.L. e.V. darin, den Anteil der geschul- ten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Kliniken über Fortbildungen in der Ärztekammer und in den Kliniken zu erhöhen. Auch die kostenlose Bereitstellung von Informa- tionsmaterial für Ärztinnen und Ärzte und Pflege sowie für Betroffene, die in den Kliniken ausgelegt werden, wird unterstützt. Die Senatsverwaltung für Gesundheit und Soziales wird weiterhin in Verbindung mit der Kran- kenhausplanung darauf hinwirken, um die Kompetenz in den Kliniken weiter zu erhöhen. 9. Welche finanziellen Mittel stehen den Krankenhäu- sern in Berlin für diesen Aufgabenbereich zur Verfügung? Zu 9.: Die Erstversorgung von Opfern sexueller Ge- walt wird im Rahmen der Gebührenordnungen nach EBM (Einheitlicher Bewertungsmaßstab) bzw. GOÄ (Gebüh- renordnung für Ärzte) für ambulant verbleibende Patien- tinnen und Patienten vergütet. Es gibt jedoch keine spezi- elle Abrechnungsziffer, die den erhöhten Aufwand dieser Untersuchungen adäquat abbildet. Schulungen des von der Senatsverwaltung für Gesundheit und Soziales geför- derten S.I.G.N.A.L. e. V. sind für die Krankenhäuser kostenlos. Eine weitergehende pauschale Vergütung von Vorhaltekosten der Krankenhäuser besteht nicht. 10. Wie kooperieren Polizei und Krankenhäuser beim Thema „sexualisierte Gewalt“ derzeit? Wie gestaltet sich diese Kooperation - neben einem regelmäßigen Austausch - genau? Zu 10.: Die Polizei Berlin und die Charité haben einen Kooperationsvertrag zur ärztlichen Untersuchung von Opfern sexualisierter Gewalt zentral für Berlin an allen drei Standorten der Charité abgeschlossen, für nicht voll- jährige Personen nur am Standort Augustenburger Platz. In Einzelfällen kann es zu Abweichungen von dieser Regelung kommen, zum Beispiel wenn sich das Opfer selbstständig in ärztliche Behandlung begibt oder durch den Rettungswagen/die Polizei Berlin aufgrund der erlit- tenen Verletzungen in das nächstgelegene Krankenhaus verbracht werden muss. Danach gewährleistet die Charité die ärztliche Be- handlung unter Einbeziehung verschiedener Fachrichtun- gen, die Sicherung von Beweismitteln sowie die Doku- mentation von Verletzungen unter Beachtung entwickel- ter Standards und Verwendung sog. Untersuchungs-Kits. Die Charité hat dem Fachdezernat für Sexualdelikte des Landeskriminalamtes Berlin (LKA 13) ferner eine Ansprechpartnerin zur Klärung von allgemeinen oder einzelfallbezogenen Fragen benannt. Überdies ist in den Notfallkrankenhäusern bekannt, dass jederzeit über das Landesinstitut für gerichtliche und soziale Medizin Berlin eine Rechtsmedizinerin oder ein Rechtsmediziner zur Beweissicherung hinzugerufen werden kann. Diese oder dieser führt entweder die Beweissicherung selbst durch oder gibt die dementsprechenden Hinweise. Sofern die Entbindung von der ärztlichen Schweige- pflicht durch das Opfer vorliegt, setzen die Charité sowie die sonstigen Krankenhäuser die Polizei Berlin von den erhobenen Befunden in Kenntnis. Berlin, den 30. Oktober 2014 In Vertretung Straßmeir Senatsverwaltung für Justiz und Verbraucherschutz (Eingang beim Abgeordnetenhaus am 05. Nov. 2014)