Drucksache 17 / 14 776 Schriftliche Anfrage 17. Wahlperiode Schriftliche Anfrage des Abgeordneten Dr. Klaus Lederer (LINKE) vom 16. Oktober 2014 (Eingang beim Abgeordnetenhaus am 21. Oktober 2014) und Antwort Warum braucht Berlin schon wieder eine neue Haftanstalt? Die Drucksachen des Abgeordnetenhauses sind bei der Kulturbuch-Verlag GmbH zu beziehen. Hausanschrift: Sprosserweg 3, 12351 Berlin-Buckow · Postanschrift: Postfach 47 04 49, 12313 Berlin, Telefon: 6 61 84 84; Telefax: 6 61 78 28. Im Namen des Senats von Berlin beantworte ich Ihre Schriftliche Anfrage wie folgt: 1. Trifft es zu, dass der Senat kurz nach Inbetriebnah- me der JVA Heidering bereits die Errichtung weiterer 216 Haftplätze auf dem Gelände der JVA Tegel plant und dort errichten will, wo bisher nur vom Abriss der TA I die Rede war? Zu 1.: Bisher gibt es keine im Senat abgestimmten Überlegungen. 2. Wenn ja: Angesichts der Tatsache, dass die Errich- tung der JVA Heidering bei deutlich angespannterer Be- legungssituation in Berlins JVAen genau dem Zweck dienen sollte, die Haftraumsituation im geschlossenen Männervollzug nachhaltig und langfristig zu entspannen - welche neue Analyse und Prognose der Belegungsent- wicklung, welche Berechnung zur Größe der erforderli- chen Haftraumreserve bildet bei seit Jahren sinkenden Gefangenenzahlen die Grundlage für eine solche Ent- scheidung? Zu 2.: Es ist richtig, dass die neue JVA Heidering quantitativ und qualitativ zur Entspannung der Haftraum- situation beiträgt. Ebenso ist zutreffend, dass die Bele- gung im geschlossenen Männervollzug des Landes Berlin einen im Vergleich zum Belegungshoch des Jahres 2007 historischen Tiefstand erreicht hat. Ausschlaggebend für die Planungen der Senatsverwaltung für Justiz und Ver- braucherschutz, die Teilanstalt (TA) I der JVA Tegel abzureißen und eventuell anstelle ihrer ein neues Haftge- bäude mit 216 Haftplätzen zu errichten, ist allerdings die inzwischen eindeutige Tendenz in der Rechtsprechung, Unterbringungsbedingungen in Hafträumen aus dem 19. Jahrhundert für menschenunwürdig und deshalb de facto nicht mehr belegbar zu erklären. Entscheidungen des Verfassungsgerichtshofs Berlin und des Kammergerichts haben dazu gezwungen, Hafthäuser aufgrund ihrer Be- schaffenheit und organisatorischen Gesamtstruktur zu schließen und Haftplätze zu reduzieren, um verfassungs- gemäße Bedingungen zu schaffen. Die Unterbringungs- bedingungen in der TA I der JVA Tegel sind seit der Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs Berlin vom 3. November 2009 (BerlVerfGH 184/07) für verfassungs- widrig erklärt. Ihm folgte das Kammergericht nach einer Gesamtschau der Umstände mit Beschluss vom 9. De- zember 2009 - 2/5 Ws 198/05 Vollz. Die TA I der JVA Tegel mit vormals rund 250 Haftplätzen war daraufhin zu schließen. Letzte verbliebene Funktionsbereiche werden Ende 2014 in andere Anstaltsbereiche verlegt. Auch in der TA III der JVA Tegel könnte sich auf- grund aktueller Rechtsprechung die Unterbringung von Gefangenen als schwierig erweisen. Ebenfalls für den Bereich der Untersuchungshaft er- wachsener Männer der JVA Moabit gibt es aktuelle Ent- scheidungen der Rechtsprechung (Beschluss des Kam- mergerichts vom 2. Oktober 2014, 9 U 247/13). Dies setzt weitreichende bauliche Umgestaltungen voraus, die sich auf Dauer in einer Reduzierung der Hafträume nieder- schlagen wird, damit Gemeinschaftsräume und Flächen außerhalb der Hafträume zum Aufenthalt und zur Be- schäftigung der Gefangenen geschaffen werden können. 3. Auf welcher empirischen und wissenschaftlichen Grundlage ist die Analyse und Prognose zu 2) durch wen vorgenommen worden, welche Alternativszenarien lagen vor und wann beabsichtigt der Senat, diese Grundlagen dem Abgeordnetenhaus und der Öffentlichkeit zur Dis- kussion vorzulegen? Zu 3.: Die künftige Entwicklung der Gefangenenzahl lässt sich nicht wissenschaftlich exakt vorhersehen. Sie unterliegt einer Vielzahl von dynamischen Einflüssen sowie höchst unterschiedlicher exogener und endogener Einflussfaktoren: Demografische Entwicklung, unter- schiedliche Dynamik bestimmter Bevölkerungs- und Altersgruppen, Gesetzesänderungen, wirtschaftliche Ent- wicklung, Aktivität von Strafverfolgungsbehörden und Verurteilungszahlen, Verschlechterung der wirtschaftli- chen Situation, Auflösung tragfähiger familiärer Struktu- ren sowie ein zunehmend unkritischer und extensiver Medienkonsum können Kriminalität auslösen. Sie wirken mit zeitlichen Verzögerungen, selten direkt und unmittel- Abgeordnetenhaus Berlin – 17. Wahlperiode Drucksache 17 / 14 776 2 bar, beeinflussen sich gegenseitig und sind nicht zuletzt auch völlig unvorhersehbaren Einflüssen ausgesetzt. Allerdings verdienen zwei Faktoren Beachtung, die einen Anstieg besorgen lassen: Nach einer Bevölkerungs- prognose der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Umwelt in Zusammenarbeit mit dem Amt für Statistik Berlin-Brandenburg aus Oktober 2012 für Berlin und die Bezirke zeichnet sich ein kontinuierlicher Anstieg der Bevölkerungszahl ab. Insgesamt ergibt sich aus der vor- liegenden Prognose für das Jahr 2030 gegenüber 2011 eine Zunahme um rd. 254 Tds. Personen auf 3,756 Mio. (+7,2 %). Dabei entfallen rd. 70 % des Wachstums auf den Zeitraum bis 2020 und 30% auf den Zeitraum 2021 bis 2030. Mehr Einwohner erzeugen erfahrungsgemäß mehr Kriminalität. Zu den Überlegungen der Senatsverwaltungen für Jus- tiz und Verbraucherschutz sowie Stadtentwicklung und Umwelt, auf Basis einer Machbarkeitsstudie für die TA I der JVA Tegel einen Ersatzbau für 216 Haftplätze zu errichten und die TA III im Bestand zu sanieren ist dem Hauptausschuss des Abgeordnetenhauses in den Jahren 2012 bis 2014 berichtet worden (rote Nummern 0178 A, 0178 B, 0178 D, 0178 E und zuletzt 0178 F). 4. Wie hoch sind die Kosten für einen Abriss des Be- standsgebäudes der TA I? Was sind die Eckpunkte des zur Unterbringung von 216 Gefangenen geplanten „geprüften Bedarfsprogramms“ zur Ersatzbauerrichtung und welche Investitionskosten werden für den neuen Gefäng- nisbau prognostiziert? Zu 4.: Die Kosten für den Abriss der TA I der JVA Tegel belaufen sich laut geprüftem und genehmigtem Bedarfsprogramm vom 03.07.2014 auf 890.000 EUR. Die Kosten eines Ersatzbaus für die TA I belaufen sich laut geprüftem und genehmigtem Bedarfsprogramm vom 03.07.2014 auf 17.150.000 EUR. Zuzüglich der Abriss- kosten von 890.000 EUR entstehen Gesamtkosten in Höhe von 18.040.000 EUR. Die Eckpunkte des Bedarfs- programms zur Schaffung adäquater verfassungsgemäßer Einzelunterbringungsmöglichkeiten für Gefangene im geschlossenen Männervollzug lauten:  Zielzahl / Größenordnung: ca. 216 Einzelhafträume pro Teilanstalt  Trennung / Unterteilung in Wohneinheiten zu 18 Einzelhafträumen  Einzelhaftraum ca. 9,00 m² zzgl. Flächen für eine abgetrennte, be- und entlüftete Sanitärzelle;  Einhaltung der bauordnungsrechtlichen Mindestanforderungen an Tagesbelichtung, Lüftung, etc.;  Zeitgemäße Sicherheitsausstattung (u. a. Zellenrufanlage , Gitterkonstruktion, etc.) Ob und wann die Maßnahme in die Investitionspla- nung aufgenommen wird, ist zum gegenwärtigen Zeit- punkt noch nicht entschieden. 5. Ist bereits geprüft worden, wie viele zusätzliche Haftplätze nach Schließung der TA III der JVA Tegel durch eine Bestandssanierung des Gebäudes bereitgestellt werden könnten und welcher Investitionsumfang hierfür aufzuwenden wäre? Welche weiteren Alternativen durch bauliche und Sanierungsveränderung im Bestand sind geprüft worden und welche Reserven ließen sich dadurch zu welchen Kosten erschließen? Zu 5.: Im Rahmen einer vorbereitenden Machbarkeits- und Wirtschaftlichkeitsuntersuchung zur Modernisierung und künftigen Nutzung der Unterbringungsbereiche in der TA I und TA III der JVA Tegel mit dem Ziel, durch Um- bau- und Anpassungsmaßnahmen im Bestand eine mög- lichst große Anzahl verfassungsgemäßer Einzelhafträume unter nachhaltigen wirtschaftlichen Gesichtspunkten zu schaffen, wurde auch die Variante „Sanierungs-, Instandsetzungs - und Umbaumaßnahmen zur Schaffung rechts- und verfassungsgemäßer Unterbringungsmöglichkeiten im Bestandsgebäude der TA III“ untersucht und bewertet. Danach könnten durch entsprechende Baumaßnahmen im Bestand der TA III ca. 159 zeitgemäße Haftplätze ge- schaffen werden. Die erforderlichen Investitionskosten beliefen sich dafür auf ca. 23.577.000 EUR (= 148.283 EUR/Haftplatz); bei einer denkmalgerechten Sanierung wären Investitionskosten in Höhe von ca. 25.451.000 EUR (= 160.069 EUR/Haftplatz) zu erwarten. Aufgrund der gewachsenen Strukturen und des hohen Altbaubestandes mit Schwerpunkten in den großen Jus- tizvollzugsanstalten des Landes Berlin sind differenzierte Lösungswege zu beschreiten; insofern lassen sich hier keine verbindlichen, regelhaften Kostenkennzahlen be- nennen. In der Regel wird versucht, mit angemessenem Aufwand die erforderlichen Rahmenbedingungen für verfassungsgemäße Unterbringungs-, Behandlungs-, Be- treuungs- und Beschäftigungsmöglichkeiten durch Um- bau- und Anpassungsmaßnahmen im Bestand zu realisie- ren. Dies geschieht u. a. durch Zusammenlegung und flächenmäßige Neugliederung von nebeneinanderliegen- den Hafträumen und Unterbringungsbereichen. In diesem Sinne wird gegenwärtig durch Umbau-, Teilsanierung- und Grundinstandsetzung die TA III der JVA Moabit soweit ertüchtigt und die Zielvorgaben der Justiz umge- setzt („aus 3 mach 2“). 6. Welche konkreten Maßnahmen zur Ausweitung und Verbesserung der Haftvermeidungsangebote in Berlin hat der Senat identifiziert, auf welche Weise ist dies gesche- hen und welche Schritte zur Realisierung dieser Maß- nahmen sind vorgesehen? Welche Haushaltsmittel wür- den hierfür aus heutiger Perspektive ab 2016 bis 2020 jährlich zusätzlich nötig? Abgeordnetenhaus Berlin – 17. Wahlperiode Drucksache 17 / 14 776 3 Zu 6.: Es ist erklärtes Ziel der Berliner Justizpolitik, die Vollstreckung insbesondere der Ersatzfreiheitsstrafe soweit irgend möglich durch das Projekt „Arbeit statt Strafe - ASS“ abzuwenden. In diesem Rahmen sind unterstützt durch öffentliche Mittel tätig die Straf-fälligen - und Bewährungshilfe Berlin e.V., die Freie Hilfe Berlin e.V. und die AWO KV Mitte e.V. Diese Einrichtungen tragen zur Vermeidung der Vollstreckung der Ersatzfreiheitsstra- fe bei. Berlin, den 11. November 2014 In Vertretung Alexander Straßmeir Senatsverwaltung für Justiz und Verbraucherschutz (Eingang beim Abgeordnetenhaus am 11. Nov. 2014)