Drucksache 17 / 14 994 Schriftliche Anfrage 17. Wahlperiode Schriftliche Anfrage des Abgeordneten Fabio Reinhardt (PIRATEN) vom 17. November 2014 (Eingang beim Abgeordnetenhaus am 21. November 2014) und Antwort »In the Ghetto« – Turnhallen, Container und Zelte zur Flüchtlingsunterbringung Die Drucksachen des Abgeordnetenhauses sind bei der Kulturbuch-Verlag GmbH zu beziehen. Hausanschrift: Sprosserweg 3, 12351 Berlin-Buckow · Postanschrift: Postfach 47 04 49, 12313 Berlin, Telefon: 6 61 84 84; Telefax: 6 61 78 28. Im Namen des Senats von Berlin beantworte ich Ihre Schriftliche Anfrage wie folgt: 1. Wann entstand bei den zuständigen Stellen in der Senatsverwaltung erstmals die Idee, Flüchtlinge in Berlin in Turnhallen, Containern und in Tragluftzelten unterzu- bringen, und wann fiel jeweils die Entscheidung dazu? (Bitte Datum für Idee sowie Entscheidung nach oben benannten Unterkunftsarten aufschlüsseln.) Zu 1.: Das Bundesamt für Migrations- und Flücht- lingsfragen (BMAF) prognostizierte im Januar diesen Jahres für das laufende Jahr einen Anstieg auf 140.000 Asylbewerbererstanträge deutschlandweit, was für Berlin nach dem gesetzlich geregelten Verteilschlüssel rund fünf Prozent, also etwa 7.000 Erstanträge bedeutet hätte. Dies hätte einem monatlichen Zuzug von rund 600 Personen entsprochen. Im August 2014 korrigierte das BAMF seine Prognose auf nunmehr monatlich 16.000 -18.000 Erstantragsstelle- rinnen und Erstantragssteller, woraus sich ein Berliner Anteil von 800 bis 900 Personen ergab; tatsächlich waren aber im Juli und August jeweils mehr als 1.000 Asylsu- chende monatlich in Berlin aufgenommen wurden. Auf Grund der Erfahrungen der Vorjahre musste zudem von einem nochmaligen erheblichen Anstieg der Asylantrags- zahlen im letzten Quartal des Jahres ausgegangen werden. Diese - in solchem Ausmaß unvorhergesehene - Zu- zugsentwicklung führte zu einer dramatisch angespannten Situation bei der Unterbringung von Asylbegehrenden und Flüchtlingen nicht nur in Berlin, sondern nahezu im gesamten Bundesgebiet. Obwohl Berlin seit dem Anstieg der Flüchtlingszahlen im Jahr 2012 ununterbrochen weitere Unterkünfte ge- schaffen hatte, war zur Jahresmitte 2014 festzustellen, dass die Schaffung regulärer Gemeinschaftsunterkünfte hinsichtlich langwieriger Genehmigungs- und Baupla- nungsverfahren mit der aktuellen Entwicklung nicht wür- de Schritt halten können. Dies führte auch in anderen Bundesländern bereits seit Längerem dazu, dass Alterna- tiven zur regulären Unterbringung geschaffen wurden. So wurden in Duisburg Zeltstädte errichtet, in Bayern Okto- berfestzelte und in Hamburg Kreuzfahrtschiffe als Notun- terkünfte umgewandelt. Aufgrund dieser Entwicklung zeichnete sich im Au- gust 2014 die Notwendigkeit ab, bis Jahresende 2.200 zusätzliche Unterbringungsplätze für Asylbegehrende zu schaffen. Dieser zusätzliche Bedarf konnte allerdings nicht kurzfristig allein durch die Ertüchtigung von in Prüfung und Planung befindlichen Bestandsbauten si- chergestellt werden. Daher mussten geeignete alternative Konzepte geprüft werden, welche kurzfristig den Bestand an Plätzen in Gemeinschaftsunterkünften ergänzen kön- nen. Neben der Durch-führung der bereits benannten Objekte im Rahmen der regulären Prüfungen der Berliner Unterbringungsleitstelle (BUL) - deren Realisierung je- doch auf Grund der erforderlichen Genehmigungsverfah- ren einen längeren Vorlauf von sechs bis zwölf Monaten benötigt - wurden noch im September 2014 mit dem Lie- genschaftsfonds Berlin Gespräche mit dem Ziel aufge- nommen, auf landeseigenen Grundstücken Ensembles aus mobilen Wohneinheiten zu errichten, da diese ver- gleichsweise zügig in Modulbauweise aufgebaut werden können. Die Entscheidung für die modularen Unterkünfte fiel im September 2014, nach dem im Rahmen einer Marktanalyse Ende August 2014 festgestellt wurde, dass einige Unternehmen kurzfristig lieferfähig sind. Die Nutzung von Turnhallen - als zusätzliche Vorkeh- rung zur Vermeidung von Obdachlosigkeit - konnte auf Grund dieser Maßnahmen darauf beschränkt werden, lediglich eine einzige Halle - und diese auch nur kurzfris- tig - für die Unterbringung von Flüchtlingen herzurichten. Ferner ist zurzeit keine Unterbringung von Flüchtlingen in Zelten vorgesehen. Nachdem die Zentrale Aufnahmestelle für Asylbewer- ber (ZAA) sowie die Weiterleitungsstelle beim Landes- amt für Gesundheit und Soziales (LAGeSo) Anfang Sep- tember 2014 wegen des personell und organisatorisch nicht mehr zu bewältigenden Aufkommens von Vorspre- chenden vorübergehend für den Publikumsverkehr ge- Abgeordnetenhaus Berlin – 17. Wahlperiode Drucksache 17 / 14 994 2 schlossen werden mussten, wurde nach geeigneten Aus- weichquartieren gesucht, um zu gewährleisten, dass selbst bei anhaltend hohen Zuzugszahlen alle als Asylbegehren- de in Berlin vorsprechenden Personen unverzüglich - zumindest provisorisch - untergebracht werden können und Obdachlosigkeit vermieden wird. In Ermangelung kurzfristig verfügbarer fester Gebäude fiel die Entschei- dung zu Gunsten von Traglufthallen. Diese sind somit ausschließlich zur Entlastung der ZAA bestimmt und dienen nicht als Ersatz für Gemeinschaftsunterkünfte. 2. Werden aktuell Turnhallen zur Unterbringung von Asylsuchenden genutzt? Wenn ja, an welchen Standorten, mit welcher jeweiligen Platzkapazität, wer sind jeweils die Betreiber und welcher Tagessatz ist jeweils verein- bart? 3. Wie lange sind Asylsuchende in Berlin in Turnhal- len untergebracht? Für wie viele Tage werden die Kosten durch das Landesamt für Gesundheit und Soziales (LA- GeSo) übernommen? Zu 2. und 3.: Es werden aktuell keine Turnhallen mehr genutzt. 4. Wie viele Tragluftzelte sind zur Unterbringung von Asylsuchenden vorgesehen bzw. in Planung, an welchen Standorten, mit welcher jeweiligen Platzkapazität, wer sind jeweils die Betreiber und welcher Tagessatz ist je- weils vereinbart? Zu 4.: Es werden zwei Traglufthallen im Bezirk Mitte am Standort Poststadion genutzt. Die Platzkapazität ist für 296 Personen ausgelegt. Betreiberin ist die Berliner Stadt- mission. Der vorläufige Tagessatz für den laufenden Betrieb beträgt in den Traglufthallen 25,06 Euro, zzgl. einer Ver- pflegungspauschale in Höhe von 12,00 Euro. 5. Ist dem Senat bekannt, dass es bei Tragluftzelten immer wieder zu schweren Sturmschäden kommt? Bis zu welcher Windstärke sind die Tragluftzelte zur Unterbrin- gung von Menschen zugelassen, die in Berlin aufgebaut werden sollen? Welche Vorkehrungen werden getroffen, um Gefahr für Leib und Leben der dort untergebrachten Flüchtlinge abzuwenden? Zu 5.: Die Problematik von Sturmschäden ist bekannt. Nach Kenntnis des Senats gibt es jedoch bisher nur einen einzigen Fall in Deutschland, bei dem ein schwerer Sturmschaden eingetreten ist. Die Nutzbarkeit der Hallen bei Sturm erfolgt im Rahmen der Zulassung durch den Technischen Überwachungsverein (TÜV). Die Hallen verfügen über eine automatische Windsteuerung, die bei starkem Wind den Druck in den Hallen auf bis zu 300 Pascal erhöht und somit die Standfestigkeit zusätzlich unterstützt. Auch bei Schneebefall wird der Druck derart erhöht, dass der Schnee über das Seilnetz abrutschen kann und somit die Konstruktion entlastet wird. Die Hallen werden darüber hinaus mehrfach geprüft. Es gibt einen Zugtest um zu prüfen, ob die Verankerun- gen im Boden halten. Unterdessen wurden beide Hallen vom TÜV abgenommen. Außerdem wird von der Senats- verwaltung für Stadtentwicklung und Umwelt ein Zu- stimmungsverfahren gem. § 76 Bauordnung für Berlin (BauOBln) durchgeführt. Es besteht zudem eine enge Zusammenarbeit (wiederholte Begehungen) mit der Poli- zei und der Feuerwehr 6. Wer ist die Herstellerfirma der Tragluftzelte? Zu 6.: Der Aufsteller der Traglufthallen ist die PA- RANET-Deutschland GmbH. 7. Welche Standards sind für die Tragluftzelte verein- bart? Inwiefern werden die Mindeststandards für ver- tragsgebundene Unterkünfte unterschritten? Zu 7.: Es wurden die Qualitätsanforderungen des Lan- desamtes für Gesundheit und Soziales (LAGeSo) zu Grunde gelegt, bezogen auf Gemeinschaftsunterkünfte mit Notunterbringung. Dabei wird davon ausgegangen, dass die Unterbringung nur vorübergehend zur Vermei- dung von Obdachlosigkeit erfolgt. Die Sanitär- und Hygi- enestandards bezüglich der Anzahl der Duschen, Toiletten und Waschbecken pro Unterkunftsplatz werden in den Traglufthallen erfüllt. Es sind ausreichend Versorgungs- container in den beiden Hallen vorhanden. Wegen der Besonderheit der Einrichtung kann es bei den übrigen Qualitätsanforderungen zu vereinzelten Abweichungen kommen. Das LAGeSo wird regelmäßig die Hallen be- sichtigen und ggf. Anpassungen durch die Betreiberin anordnen. Dieses Verfahren wurde vertraglich vereinbart. 8. Wie wird die Privatsphäre der in Turnhallen und Tragluftzelten unterbrachten Asylsuchenden gewahrt? Gibt es eine Trennung nach Geschlechtern? Gibt es in allen Turnhallen und Tragluftzelten Trennwände? Gibt es eine Aufteilung nach Familieneinheiten? Müssen Ge- meinschaftsduschen genutzt werden? Zu 8.: In den Traglufthallen sind Einzelkabinen mit 2,80 Meter hohen Trennwänden eingerichtet worden. Die Kabinen können bezüglich der Belegung flexibel gestaltet werden. Bei Bedarf können Kinderbetten eingestellt wer- den. In Sanitärcontainern befinden sich Duschkabinen. Auch hier wird die Privatsphäre gewahrt. 9. Wie lang ist die Nutzungsdauer der Tragluftzelte und welche Betriebsdauer ist mit dem Betreiber zur Un- terbringung von Asylsuchenden in Tragluftzelten verein- bart worden? Zu 9.: Die Nutzungs- und Betriebsdauer ist bis ein- schließlich 30.04.2015 geplant. Abgeordnetenhaus Berlin – 17. Wahlperiode Drucksache 17 / 14 994 3 10. Welche Personalausstattung (Heimleitung, Sozial- arbeit/-pädagogik, Sozialbetreuung, Kinderbetreuung, Verwaltung, sonstige Betreuung, Haushandwerker*innen, Pforte/Wachschutz o.ä.) ist für die in Realisierung befind- lichen Wohncontaineranlagen für Flüchtlinge vorgese- hen? (Bitte nach Unterkunft, Kapazität, Ortsteil/Bezirk und vertraglich vereinbarter/tatsächlicher Personalausstat- tung tabellarisch aufschlüsseln.) Zu 10.: Auf der Grundlage des allen Betreiberinnen und Betreibern mitgeteilten folgenden Personalschlüssels werden derzeit Verhandlungen geführt: Kapazität 400 Heimleiterinnen oder Heimleiter Stellvertretende Heimleiterin oder Stellvertretender Heimleiter 1 1 Sozialarbeiterinnen und Sozialarbei- ter 2,5 Sozialbetreuerinnen und Sozialbe- treuer oder vergleichbar 2,5 Kinder- u. Jugendbetreuung 1,75 Verwaltungskraft 1,75 Handwerkerinnen und Handwerker nach Bedarf Zwei Personen Wachschutz für die Bewachung, für drei Monate ab Er- öffnung, 560 Stunden/Monat 13,80 Euro/Stunde gesamt 10,5 Da die objektbezogenen Verhandlungen noch nicht abgeschlossen sind, können verbindliche Zahlen derzeit nicht genannt werden. 11. Welche Aufgaben sollen die Stadtteilzentren in der Nähe der Wohncontaineranlagen über welchen Zeitraum übernehmen? Ist im Gegenzug eine reduzierte Personal- ausstattung der Wohncontainerlager beabsichtigt? Zu welchem konkreten Datum wurde erstmals Kontakt zu den jeweiligen Stadtteilzentren diesbezüglich aufgenom- men? 12. Über welchen Zeitraum werden die Stadtteilzen- tren finanziell in welcher Höhe jeweils gefördert? Zu 11. und 12.: Der Senat hat im Zusammenhang mit der notwendigen Errichtung der mobilen Wohnmodulare die in deren Nähe befindlichen Stadtteilzentren gebeten, in Ergänzung ihres sozialpolitischen Auftrages als Orte der Teilhabe und Begegnung für die Nachbarschaft einen spezifischen Beitrag zu leisten. Insgesamt sechs Stadtteil- zentren, die sich in räumlicher Nähe zu den zu errichten- den mobilen Wohnmodularen befinden, bekommen eine Aufstockung ihrer Förderung mit dem Ziel, die Entwick- lung und Unterhaltung einer Willkommenskultur und einer lebendigen Nachbarschaft für und mit Flüchtlingen zu befördern. Inhaltlich ist die Maßnahme Teil der Nach- barschaftsarbeit und nicht vorrangig der Flüchtlingsarbeit. Eine Reduzierung der Personalausstattung innerhalb der mobilen Wohnmodulare ist daher nicht beabsichtigt. Die Stadtteilzentren erhalten für das laufende Haushaltsjahr eine zusätzliche Förderung in Höhe von ca. 5.000 Euro pro Einrichtung im Rahmen der im Ansatz verfügbaren Mittel. Eine Verlängerung der Maßnahme im vergleichba- ren Umfang für das Gesamtjahr 2015 ist vorgesehen. Zeitgleich mit der Pressekonferenz zur Bekanntgabe der künftigen Standorte der mobilen Wohnmodulare am 20.10.14 wurden die Stadtteilzentren per Mail und fern- mündlich informiert. Berlin, den 09. Dezember 2014 In Vertretung Dirk G e r s t l e _____________________________ Senatsverwaltung für Gesundheit und Soziales (Eingang beim Abgeordnetenhaus am 11. Dez. 2014)