Drucksache 17 / 15 444 Schriftliche Anfrage 17. Wahlperiode Schriftliche Anfrage des Abgeordneten Sven Kohlmeier (SPD) vom 29. Januar 2015 (Eingang beim Abgeordnetenhaus am 03. Februar 2015) und Antwort Religiöse oder islamische Radikalisierung in Berliner Gefängnissen? Die Drucksachen des Abgeordnetenhauses sind bei der Kulturbuch-Verlag GmbH zu beziehen. Hausanschrift: Sprosserweg 3, 12351 Berlin-Buckow · Postanschrift: Postfach 47 04 49, 12313 Berlin, Telefon: 6 61 84 84; Telefax: 6 61 78 28. Im Namen des Senats von Berlin beantworte ich Ihre Schriftliche Anfrage wie folgt: 1. Welchen Kriterienkatalog hat der Berliner Senat, um festzustellen, ob eine religiöse oder islamische Radi- kalisierung von Gefangenen droht bzw. vorliegt? Zu 1.: Wesentliche Grundlage zum Umgang mit reli- giös-islamistischer Radikalisierung bei Gefangenen bildet das Handbuch „Radikalisierung und Gewaltbereitschaft - wie betroffene Berufsgruppen das Phänomen erkennen und damit umgehen können“ der Generaldirektion für Justiz, Freiheit und Sicherheit der Europäischen Kommis- sion. Es entstand im Jahre 2008 im Rahmen eines ge- meinsamen Projekts der Mitgliedsstaaten Deutschland, Österreich und Frankreich. Ziel des Projekts, dessen Er- gebnisse in das Handbuch eingeflossen sind, war es, Good Practices herauszuarbeiten, um sie Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Justizvollzugsanstalten im Umgang mit Risikogruppen an die Hand zu geben. Es enthält Analy- sen, Indikatoren und Empfehlungen aus Expertenkreisen der beteiligten Länder. Das Handbuch, dessen Inhalt nach wie vor aktuell ist, liegt in allen Berliner Justizvollzugs- anstalten vor. Ein weiteres Instrument für die Praxis bildet die vom Bundeskriminalamt und dem Generalbundesanwalt her- ausgegebene und ständig - zuletzt im November 2014 - aktualisierte Indikatorenliste zum Erkennen islamistisch- terroristischer Zusammenhänge. Die Bediensteten der Justizvollzugsanstalten werden durch sie in die Lage versetzt, Entwicklungen bei Gefangenen in Richtung Radikalisierung und Verbindungen Gefangener zu is- lamistisch-terroristischen Kreisen frühzeitig zu erkennen sowie etwaige Rekrutierungsversuche im Kreis der Insas- sen zu unterbinden. 2. Anhand welcher Kriterien wird in den Justizvoll- zugsanstalten festgestellt, ob eine religiöse oder islami- sche Radikalisierung von Gefangenen oder Gefangenen- gruppen vorliegt? Zu 2.: Anhand erkennbarer Kriterien auf der Grundla- ge der erwähnten Werke wie zum Beispiel offene Sympa- thiebekundung oder Werben für gewaltorientierte islamis- tische Gruppierungen, Verherrlichung terroristischer Taten wie z.B. Anschlägen auf Einrichtungen des Staates oder der Gesellschaft, Selbstmordattentate, offensichtlich religiös motivierte Hetze gegen Rechtsstaat, Demokratie oder westliche Lebensart, auffälliges äußeres Erschei- nungsbild, auffällige Verhaltensweisen und Wesensver- änderungen, Poster mit Symbolen oder Abzeichen ge- waltorientierter islamistischer Gruppen im Haftraum, Besitz entsprechender Druckwerke, Propagandamaterial islamistischer Organisationen im Haftraum, einschlägige Videos auf verbotenerweise im Besitz von Gefangenen befindlichen Handys und - nicht zuletzt - Beiträgen in Social-Networks mittels internetfähiger Smartphones, die eingezogen und gemäß Justizvollzugsdatenschutzgesetz Berlin ausgelesen wurden. Zu betonen ist, dass stets meh- rere Indizien vorliegen müssen, um eine Radikalisierung begründet zu vermuten. 3. Was wären Indizien, mit denen festgestellt werden kann, dass sich die Situation bzgl. religiöser oder islami- scher Radikalisierung in den Justizvollzugsanstalten ver- schärft? Zu 3.: Wenn Feststellungen anhand der zu 2. genann- ten Kriterien, die sich bislang auf Einzelfälle beschränkt haben, zunehmen sollten. 4. Inwieweit werden bereits Maßnahmen gegen eine religiöse oder islamische Radikalisierung von Gefangenen in den Berliner Justizvollzugsanstalten ergriffen? Zu 4.. Die Justizvollzugsanstalten sind in einem inten- siven Faktenaustausch mit den Sicherheitsbehörden zur Sensibilisierung ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Es existiert seit Jahren ein Netz ständiger Ansprechpart- nerinnen und Ansprechpartner zwischen den Justizvoll- zugsanstalten und der Staatsanwaltschaft und es besteht ebenfalls seit Jahren eine intensive Zusammenarbeit mit Abgeordnetenhaus Berlin – 17. Wahlperiode Drucksache 17 / 15 444 2 der Abteilung II der Senatsverwaltung für Inneres und Sport. Deren Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter suchen alle Anstalten auf und unterrichten insbesondere die Sicher- heitsabteilungen über Hintergründe und Umgehen mit den spezifischen Problemen. Fortbildungen zu diesem The- menfeld werden von der Bildungsstätte des Justizvollzu- ges kontinuierlich angeboten und von den Mitarbeiterin- nen und Mitarbeitern genutzt. Die gesamten Bestände der Anstaltsbibliotheken sind in Zusammenarbeit mit dem Verfassungsschutz überprüft worden, inwieweit sie ext- remistisches Gedankengut vor allem auch in Fremdspra- chen enthalten. In dieser Hinsicht auffällige Bücher wur- den vernichtet. Erkannte Gefangene mit einschlägigem Tathinter- grund erhalten bei Untersuchungshaft Sicherungsverfü- gungen des Gerichts nach § 119 StPO und gegebenenfalls ergänzend durch die Justizvollzugsanstalt nach den Best- immungen des Untersuchungshaftvollzugsgesetzes. Bei Strafgefangenen erfolgen Sicherungsverfügungen nach dem Strafvollzugsgesetz; Radikalisierungsverläufe von Inhaftierten sind indivi- duell und unterliegen keinem bestimmten Muster. Zu den Aufgaben der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Justizvollzugsanstalten gehört allgemein, alle Entwick- lungen von Inhaftierten zu beobachten und zu bewerten, die die Sicherheit und Ordnung einer Justizvollzugsanstalt gefährden könnten, bei denen mögliche Straftatbestände zu erwarten wären oder unbeteiligte Inhaftierte gefährdet werden könnten. Dieses bezieht sich auf alle Inhaftierten- gruppen. Darüber hinaus gibt es in der Jugendstrafanstalt Berlin über den Träger Violence Prevention Network (VPN) ein Trainingsprogramm für extremistisch gefähr- dete, gewaltaffine jugendliche Inhaftierte. Bei (vorzeitiger) Entlassung werden in Anlehnung an eine Praxis bei der Entlassung von Sexualstraftätern sog. Runde Tische mit der Bewährungshilfe, der Führungsaus- sichtstelle und dem LKA 5 gebildet. In einem geeigneten Fall ist in der Vergangenheit eine Fußfessel-Auflage er- teilt worden. 5. Welche Maßnahmen sind vorgesehen? Zu 5.: Die Senatsverwaltung für Justiz und Verbrau- cherschutz und die Justizvollzugsanstalten beschäftigen sich aktuell intensiv und umfassend mit der Fragestellung, welche weiteren geeigneten Maßnahmen zum Ausbau und zur Intensivierung der Vernetzung mit anderen Behörden und freien Trägern, der Sicherheit, der Behandlung und Betreuung, der Prävention und der Sensibilisierung des Personals im Zusammenhang mit islamistisch- extremistischen Gefangenen, sympathisierenden Gefan- genen und gefährdeten Gefangenen in Betracht zu ziehen sind. Hierzu gehört u. a. auch, die Vor- und Nachteile einer Separierung in besonderen Abteilungen zu diskutie- ren und abzuwägen. 6. Wie sieht die Arbeit der muslimischen Geistlichen in den Justizvollzugsanstalten genau aus? Zu 6.: Vertreter der muslimischen Religionsgemein- schaften begleiten in den Justizvollzugsanstalten die Ge- fangenen in der Ausübung ihrer Religion. Insbesondere besteht ihre Aufgabe in der Begleitung der gemeinschaft- lichen Freitagsgebete, der Begehung hoher muslimischer Feiertage und der kontinuierlichen Seelsorge unter den Bedingungen des Strafvollzuges. Darüber hinaus beraten sie die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Vollzugsan- stalten bei schwierigen religiösen Fragestellungen. 7. Welche Freien Träger arbeiten in den Berliner Jus- tizvollzugsanstalten mit den Gefangenen (bitte Aufschlüs- selung nach Träger und Anstalt)? a. Bei welchen von den unter 7. genannten Trägern be- finden sich in den Konzepten Ansätze und Vorschläge, um religiöse oder islamische Radikalisierung von Gefan- genen zu erkennen und diesen entgegenzuwirken? b. Wie sehen bei den unter 7 a. genannten Konzepten die Ansätze und Vorschläge konkret aus (bitte jeweils mit abdrucken)? Zu 7.: In den Berliner Justizvollzugsanstalten arbeiten eine große Anzahl von Vertreterinnen und Vertretern der verschiedensten Berliner Freien Träger. Sie unterstützen die Anstalten in den Bereichen Freizeit, Kultur, Sport, Bildung, Beschäftigung und Qualifizierung, soziale Trai- ningsmaßnahmen, Gesundheit, Suchtberatung, Suchtprä- vention, Entlassungsvorbereitung und Wiedereingliede- rung, Vollzugshilfe und andere für die Inhaftierten rele- vanten Themen. a) In der Annahme, dass jede individuelle Stärkung der Persönlichkeit und die Hinwendung zu rechtskonfor- men und stabilen Lebensentwürfen einer Hinwendung zu extremistischen und gewaltorientierten Handlungen ent- gegenwirken kann, sind Ansätze in vielen der angebote- nen Maßnahmen zu finden. Inhalte für Gefangene, die für Radikalisierungen empfänglich sind und/oder gefährdete Inhaftierte bietet derzeit nur das Trainingsprogramm des Violence Prevention Network (VPN) in der Jugendstraf- anstalt Berlin. Eine Ausweitung und Anpassung für den Männervollzug wird derzeit mit dem Träger abgestimmt. b) Hinweise zur Trägerstruktur und zu konzeptionel- len Ansätzen des VPN finden sich unter www.violence- prevention-network.de. 8. Teilt der Senat die Einschätzung des Verfassungs- schutzes von Berlin, dass es in Berlin eine zunehmende Zahl von Fällen gibt, die während ihrer Haft durch die Hinwendung zu radikalen Strömungen aufgefallen sind? a. Wenn nein: Wie kommt der Verfassungsschutz von Berlin zu seiner Einschätzung bzw. warum ist die Ein- schätzung des Verfassungsschutzes unzutreffend? b. Wenn ja: Was unternimmt der Senat, um dem vom Verfassungsschutz festgestellten Tendenzen entgegenzu- wirken? Abgeordnetenhaus Berlin – 17. Wahlperiode Drucksache 17 / 15 444 3 Zu 8. a. und b.: Aus internationalen Bezügen ist be- kannt, dass auch in Justizvollzugsanstalten wie auch an anderen Orten Radikalisierungsprozesse stattfinden. Wäh- rend in Berliner Justizvollzugsanstalten in der Vergan- genheit Auffälligkeiten islamistischer Radikalisierungen auf Einzelfälle beschränkt waren, ist seit 2014 eine Zu- nahme derartiger Fälle festzustellen. Im Übrigen darf auf die Antworten zu den Fragen 1 - 7 verwiesen werden. Berlin, den 17. Februar 2015 In Vertretung Straßmeir Senatsverwaltung für Justiz und Verbraucherschutz (Eingang beim Abgeordnetenhaus am 23. Feb. 2015)