Drucksache 17 / 15 525 Schriftliche Anfrage 17. Wahlperiode Schriftliche Anfrage des Abgeordneten Dr. Klaus Lederer (LINKE) vom 11. Februar 2015 (Eingang beim Abgeordnetenhaus am 12. Februar 2015) und Antwort Verquickung von Lobby und Justiz in Berlin – Gefahr für die Unparteilichkeit der Rechtsprechung ? Die Drucksachen des Abgeordnetenhauses sind bei der Kulturbuch-Verlag GmbH zu beziehen. Hausanschrift: Sprosserweg 3, 12351 Berlin-Buckow · Postanschrift: Postfach 47 04 49, 12313 Berlin, Telefon: 6 61 84 84; Telefax: 6 61 78 28. Im Namen des Senats von Berlin beantworte ich Ihre Schriftliche Anfrage wie folgt: 1. Unter welchen Voraussetzungen haben Rich- ter*innen im Land Berlin die Pflicht, Nebentätigkeiten anzuzeigen? Zu 1.: Nach § 10 des Richtergesetzes des Landes Ber- lin (RiGBln), §§ 40, 1 des Beamtenstatusgesetzes (Be- amtStG) und §§ 62 Abs. 1, 63 Abs. 3, 1 Abs. 1 des Lan- desbeamtengesetzes (LBG) obliegt den Richterinnen und Richtern des Landes Berlin grundsätzlich die gesetzliche Pflicht, die Genehmigung von Nebentätigkeiten zu bean- tragen oder nicht genehmigungspflichtige Nebentätigkei- ten, für die ein Entgelt oder ein geldwerter Vorteil erzielt wird, anzuzeigen. Soweit es sich um genehmigungspflich- tige Nebenbeschäftigungen mit einem geringen Umfang handelt, deren Vergütung den Betrag von 51,13 EUR im Monat nicht übersteigt, gilt die Genehmigung gemäß § 4 Abs. 1 der Verordnung über die Nebentätigkeit der Rich- ter (RiNebVO) allgemein als erteilt und bedarf lediglich der Anzeige. 2. Unter welchen Voraussetzungen besteht die Mög- lichkeit, Richter*innen im Land Berlin die Ausübung von Nebentätigkeiten zu untersagen? Zu 2.: Nach § 5 RiNebVO ist die Genehmigung für eine Nebentätigkeit zuvörderst zu versagen, wenn die Richterin oder der Richter sie nach den §§ 4, 39, 40 oder 41 des Deutschen Richtergesetzes (DRiG) nicht wahr- nehmen darf. Insoweit schließt die Regelung des § 4 DRiG im Grundsatz eine Nebentätigkeit im Rahmen der vollziehenden Gewalt aus, setzt die Bestimmung des § 39 DRiG Nebentätigkeiten eine Grenze, die das Vertrauen in die richterliche Unabhängigkeit gefährden, scheidet nach § 40 DRiG eine Nebentätigkeit als Schiedsrichte- rin/Schiedsrichter oder Schiedsgutachterin/Schiedsgut- achter aus, wenn die Richterin oder der Richter in ih- rer/seiner Rechtsprechungsaufgabe mit der Sache befasst werden könnte und untersagt die Vorschrift des § 41 Abs. 1 DRiG den Richterinnen und Richtern schließlich die außerdienstliche Erstattung von Rechtsgutachten und die Erteilung entgeltlicher Rechtsauskünfte. Gemäß § 5 Ri- NebVO ist eine Nebentätigkeit ferner zu versagen, wenn die Nebentätigkeit das Vertrauen in die Unabhängigkeit, Unparteilichkeit oder Unbefangenheit der Richterin oder des Richters gefährdet oder sonst mit dem Ansehen des Richterstandes oder mit dem Wohle der Allgemeinheit unvereinbar ist, die Arbeitskraft der Richterin oder des Richters so stark in Anspruch nimmt, dass die ordnungs- gemäße Erfüllung ihrer oder seiner richterlichen Pflichten beeinflusst wird oder die Rechtspflege in anderer Weise beeinträchtigt. 3. Gelten die „Ausführungsvorschriften über das Verbot der Annahme von Belohnungen und Geschenken und sonstigen Vorteilen (AV Belohnungen und Geschenke - AV BuG)“ vom 21. Januar 2013 auch für Richter*innen im Land Berlin? Wenn nein: Welche Regelungen gelten für Richter*innen in Bezug auf die Annahme von Ge- schenken, Belohnungen und Vorteilen von Dritten, mit denen sie im Rahmen ihrer rechtsprechenden Tätigkeit unmittelbar oder mittelbar in Berührung kommen oder aufgrund der Geschäftsverteilung an den Gerichten erfah- rungsgemäß in Berührung kommen könnten? Galten diese Regelungen für Richter*innen auch schon in früheren Jahren? Zu 3.: Für Richterinnen und Richter des Landes Berlin gelten über § 10 RiGBln in Verbindung mit § 71 DRiG, § 42 BeamtStG die „Ausführungsvorschriften über das Verbot der Annahme von Belohnungen und Geschenken und sonstigen Vorteilen (AV Belohnungen und Geschen- ke - AV BuG)“ vom 21. Januar 2013 grundsätzlich entsprechend . Abgeordnetenhaus Berlin – 17. Wahlperiode Drucksache 17 / 15 525 2 4. Teilt der Senat die Einschätzung, dass es für die Unabhängigkeit der Rechtspflege fundamental ist, dass Richter*innen „bereits jeden Anschein vermeiden [müssen ], im Rahmen ihrer Amtsführung für Vorteilsnahmen empfänglich zu sein“ (vgl. 1.1 Abs. 3 AV BuG) und dass sie sich „innerhalb und außerhalb ihres […] Amtes so zu verhalten [haben], dass das Vertrauen in ihre […] Unabhängigkeit nicht gefährdet wird“ (§ 39 DRiG)? Zu 4.: Die die Richterinnen und Richter aller Ge- richtszweige in Bund und Ländern erfassende Regelung des § 39 DRiG, wonach sich eine Richterkraft innerhalb und außerhalb ihres Amtes, auch bei politischer Betäti- gung, so zu verhalten hat, dass das Vertrauen in ihre Un- abhängigkeit nicht gefährdet wird, ist Teil der für sie geltenden Rechtslage. Der Regelungsgehalt der Ziffer 1 Abs. 3 AV BuG, wonach Dienstkräfte des öffentlichen Dienstes bereits jeden Anschein vermeiden müssen, im Rahmen ihrer Amtsführung für Vorteilsnahmen empfäng- lich zu sein, gibt eine für den Bereich hoheitlichen Han- delns grundlegende Verhaltensmaxime wieder. Die durch beide Vorschriften statuierten Vorgaben gebieten auch in Bezug auf Richterinnen und Richter Beachtung und ent- sprechende Befolgung. 5. Teilt der Senat die Einschätzung, dass Rich- ter*innen des Landes Berlin, die regelmäßig in der Zeit- schrift „Grundeigentum“ des Vermieterlobbyverbandes Haus & Grund publizieren, Zweifel an ihrer Unabhängig- keit in Bezug auf ihre Rechtsprechung in für Mietrecht zuständigen Eingangs- und Berufungsinstanzen mangeln- des Vertrauen in ihre Unparteilichkeit schwerlich von der Hand werden weisen können? Zu 5.: Ob die publizistische Nebentätigkeit einer Rich- terin oder eines Richters geeignet ist, Misstrauen gegen ihre oder seine unparteiliche Amtsausführung zu begrün- den, kann nur einzelfallabhängig festgestellt werden. Erforderlich sind insoweit die Berücksichtigung aller Aspekte des jeweiligen Falles sowie deren Bewertung im Gesamtkontext. In diesem Zusammenhang sind neben dem äußeren Rahmen, wie zum Beispiel dem konkret in Rede stehenden Veröffentlichungsmedium, insbesondere auch der Inhalt und der Duktus der eigentlichen publizis- tischen Äußerung in den Blick zu nehmen. Vor allem aber ist die Frage, ob tatsächlich Umstände gegeben sind, die berechtigte Zweifel an der Unparteilichkeit oder Unab- hängigkeit einer Richterkraft aufkommen lassen, nicht generell, sondern vielmehr nur im Verhältnis einer kon- kreten Richterkraft zu einem konkreten Verfahrensbetei- ligten, über dessen Rechtssache die besagte Richterkraft zu entscheiden berufen ist, abschließend beantwortbar. 6. Teilt der Senat die Einschätzung, dass Rich- ter*innen des Landes Berlin, die sich auf jährlich stattfin- denden „Arbeitsessen“ des zu 5. genannten Verbandes gemeinsam mit dessen Spitze ablichten lassen und/oder in der bereits angeführten Zeitschrift „Grundeigentum“ in der „Gästeliste“ als „beruflich mit der Berliner und Brandenburger Wohnungs- und Immobilienwirtschaft verbun- denen [sic!] Akteure“ angeführt werden, in Bezug auf ihre Rechtsprechung in für Mietrecht zuständigen Gerichten (Amtsgericht, Landgericht, Kammergericht) mangelndes Vertrauen in ihre Unparteilichkeit schwerlich von der Hand werden weisen können? Zu 6.: Es gilt das zu Frage 5 Ausgeführte entspre- chend. 7. Teilt der Senat die Einschätzung, dass Rich- ter*innen des Landes Berlin, die regelmäßig Seminare gegen Honorar anbieten - ausgerichtet durch den Ver- mieterlobbyverband Haus & Grund (im Konkreten: durch die Seminarfirma „Kurs und Gut“, die ebenso wie die Zeitschrift „Grundeigentum“ im Eigentum des Ausrichters des „Arbeitsessens - vgl. Frage 6 - steht) und andere vergleichbare Lobbyisten der Vermieter- und Grundei- gentümerseite, zu Themen wie „aktuelle Mietrechtsprechung und Mietgesetzgebung“ oder „Vertiefungsseminar: Fehler bei der Betriebskostenabrechnung“ - und dabei auch erklären, wie man am besten Mieter los wird, die Miete steigern kann, Tipps zur optimalen Verfahrenswei- se mit maximaler Erhöhungsmöglichkeit geben oder Vermietern Ratschläge erteilen, wie sie sich vor Gericht am besten durchsetzen (vgl. beispielhaft nur die ARD- Dokumentation „Miete rauf, Mieter raus! Die fiesen Tricks der Spekulanten“ https://www.youtube.com/watch?v=BV2g-TK6j30), Zweifel an ihrer Unabhängigkeit in Bezug auf ihre Recht- sprechung in für Mietrecht zuständigen Eingangs- und Berufungsinstanzen mangelndes Vertrauen in ihre Unpar- teilichkeit schwerlich von der Hand werden weisen kön- nen? Zu 7.: Die Ausführungen des Senats zu den Fragen 5 und 6 gelten insofern entsprechend. 8. Teilt der Senat die Einschätzung, dass Rich- ter*innen des Landes Berlin, die regelmäßig mehrere oder sämtliche in Fragen 5 bis 7 aufgeführten Handlungen vollziehen, bei Rechtsuchenden kaum noch nachvollzieh- bar vermitteln können, sich den jeweiligen Rechtsfragen in ihrer Rechtsprechung unabhängig und unparteiisch zu widmen, wodurch das Ansehen der und das Vertrauen in die Justiz erheblichen Schaden nimmt? Zu 8.: Vor dem Hintergrund der Darlegungen zu den Fragen 5 bis 7 ist auch hier der Einzelfall entscheidend. 9. Ist dem Senat bekannt, wie viele Richter*innen des Landes Berlin, die mit Mietsachen befasst sind (Amtsge- richte, Landgericht, Kammergericht), seit dem Jahr 2008 Vorteile im Sinne der Frage 6 angenommen bzw. vergüte- te Nebentätigkeiten im Sinne der Fragen 5 und 7 in wel- chem Umfang ausgeübt haben? Zu 9.: Statistisches Material, dem sich die erfragten Angaben entnehmen ließen, existiert nicht. Abgeordnetenhaus Berlin – 17. Wahlperiode Drucksache 17 / 15 525 3 10. Ist dem Senat bekannt, in wie vielen Fällen die für Mietfragen zuständigen Gerichte im Land Berlin nach Anzeige Nebentätigkeiten im Sinne der Fragen 5 und 7 untersagt haben und in wie vielen Fällen Vorteile im Sinne der Frage 6 angenommen worden sind? Zu 10.: Die Präsidentin des Kammergerichts hat zum einen mitgeteilt, dass Nebentätigkeiten im Sinne der Fra- gen 5 und 7 in der Vergangenheit nicht versagt worden seien, und zum anderen angegeben, dass ihr während der Vergangenheit nichts über eine ungerechtfertigte Annah- me von Vorteilen im Sinne der Frage 6 durch Richterin- nen und Richter zur Kenntnis gelangt sei. 11. Teilt der Senat die Einschätzung, dass das Ver- trauen in die prozedurale Selbstkorrekturfähigkeit der Justiz (durch Anzeige-/Untersagungsprozederes bei ver- güteten Nebentätigkeiten oder der Gewährung von geld- werten Vorteilen, durch Befangenheitsverfahren, Dienst- aufsichtsbeschwerden oder richterliche Disziplinarge- richtsbarkeit) schweren Schaden nimmt, wenn eine Praxis im Sinne der Fragen 5 bis 7 offenbar absolut üblich ist und innerhalb der Richter*innenschaft auch keinerlei Anstoß mehr erregt? Zu 11.: Den durch die Fragestellung hervorgerufenen Eindruck, der Richterschaft ermangele es allgemein an der erforderlichen Sensibilität, soweit es in Bezug auf das Richteramt um die gesellschaftliche Akzeptanz von be- stimmten Nebentätigkeiten gehe, teilt der Senat nicht. 12. Teilt der Senat die Einschätzung, dass Praktiken - wie in Fragen 5 bis 7 beschrieben - nicht von der richter- lichen Unabhängigkeit umfasst sind, sondern ganz klar Wortlaut und Zweck des § 39 DRiG zuwider laufen, wo- nach das Vertrauen in die Unabhängigkeit, Unparteilich- keit und Objektivität der Justiz ein hohes verfassungs- rechtliches Gut darstellt, das unter allen Umständen be- wahrt werden muss? Zu 12.: Die durch Artikel 97 Abs. 1 des Grundgeset- zes (GG) garantierte sachliche Unabhängigkeit der Rich- terinnen und Richter, die durch die Garantie auch ihrer persönlichen Unabhängigkeit in Artikel 97 Abs. 2 GG institutionell abgesichert wird, bezieht sich ausschließlich auf die „richterliche Tätigkeit“ (d. h. die eigentliche spruchrichterliche Tätigkeit nebst aller Tätigkeiten, die mit der Rechtsfindung in unmittelbarem Zusammenhang stehen). Von dem Grundsatz der richterlichen Unabhän- gigkeit nicht erfasst sind daher von einer Richterin oder einem Richter ausgeübte Nebentätigkeiten. Die Frage, ob „Praktiken - wie in Fragen 5 bis 7 beschrieben -“ gegen die Vorgaben des § 39 DRiG verstoßen , ist an dortiger Stelle bereits beantwortet. 13. Wie steht der Senat zum Vorschlag, zur Gewähr- leistung einer Justiz, die jeden Anschein vermeidet, gele- gentlich ihrer Rechtsprechung für Vorteilsnahmen emp- fänglich zu sein, die Nebentätigkeitsvorschrift des DRiG an die Regelung im § 3 Abs. 4 BVerfGG anzugleichen („Mit der richterlichen Tätigkeit ist eine andere berufliche Tätigkeit als die eines Lehrers des Rechts an einer deut- schen Hochschule unvereinbar.“), weil offenbar nur so strukturellen Verquickungen von Lobbyverbänden und Justiz jede Grundlage entzogen werden kann? Zu 13.: Die Vorschrift des § 3 Abs. 4 des Bundesver- fassungsgerichtsgesetzes (BVerfGG) ist für den herge- stellten Vergleich letztlich nicht geeignet. Denn die ge- nannte Vorschrift verhält sich über die Unvereinbarkeit einer anderen beruflichen Tätigkeit, d.h. einer nicht nur vorübergehenden, sondern auf Dauer angelegten und auf Erwerb gerichteten Beschäftigung, die der Schaffung und Aufrechterhaltung einer Lebensgrundlage dient, mit dem Amt einer Verfassungsrichterin oder eines Verfassungs- richters. Sie stellt keine Regelung des Nebentätigkeits- rechts dar, dem im Übrigen Richterinnen und Richter des Bundesverfassungsgerichts in Ansehung der §§ 69 DRiG, 9 der Verordnung über die Nebentätigkeit der Richter im Bundesdienst (BRiNV) nur in eingeschränktem Maße unterliegen. Der Regelung des § 3 Abs. 4 BVerfGG unter- fallen insbesondere keine nur nebenbei und nicht nachhal- tig ausgeübten und deshalb neben der richterlichen Tätig- keit nicht ins Gewicht fallenden schriftstellerischen, wis- senschaftlichen und künstlerischen Betätigungen, Vor- tragstätigkeiten, die Herausgabe oder Redaktion einer Zeitschrift oder die Mitwirkung an der Abnahme von Prüfungen. Vorschläge zur Änderung des geltenden Nebentätig- keitsrechts müssen sich an den Verfassungsnormen der Artikel 2 Abs. 1 und 12 Abs. 1 GG messen lassen, durch die nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwal- tungs- und des Bundesverfassungsgerichts das Recht von Richterinnen und Richtern, ihre Arbeitskraft in der Frei- zeit gegen Entgelt zu verwerten, geschützt wird. Aus Sicht des Senats ist durch die aktuell im Land Berlin geltende Gesetzes- und Verordnungslage in ausrei- chendem Maße sichergestellt, dass im Landesdienst tätige Richterinnen und Richter keine Nebentätigkeiten ausüben, die ihre Unabhängigkeit, Unparteilichkeit oder Unbefan- genheit gefährden. Durch die sich in der Praxis bewährten gesetzlichen und verordnungsrechtlichen Vorschriften wird eine Prüfung im Einzelfall und ein Einschreiten durch die zuständige Dienstbehörde, soweit dieses gebo- ten ist, ermöglicht. Vor diesem Hintergrund wird gegen- wärtig keine Veranlassung gesehen, andere Regelungen einzuführen. Berlin, den 27. Februar 2015 In Vertretung Straßmeir Senatsverwaltung für Justiz und Verbraucherschutz (Eingang beim Abgeordnetenhaus am 03. Mrz. 2015)