Drucksache 17 / 15 718 Schriftliche Anfrage 17. Wahlperiode Schriftliche Anfrage der Abgeordneten Marianne Burkert-Eulitz (GRÜNE) vom 10. März 2015 (Eingang beim Abgeordnetenhaus am 11. März 2015) und Antwort Verfolgt der Berliner Senat aktiv das Ziel bestehende Rechte von Flüchtlingskindern oh- ne Eltern zu beschneiden? Die Drucksachen des Abgeordnetenhauses sind bei der Kulturbuch-Verlag GmbH zu beziehen. Hausanschrift: Sprosserweg 3, 12351 Berlin-Buckow · Postanschrift: Postfach 47 04 49, 12313 Berlin, Telefon: 6 61 84 84; Telefax: 6 61 78 28. Im Namen des Senats von Berlin beantworte ich Ihre Schriftliche Anfrage wie folgt: 1. Trifft es zu, dass die Senatsverwaltung für Jugend in den Gremien des Landesjugendhilfeausschusses und im Berliner Familienbeirat in den vergangenen Monaten und Wochen wiederholt von selbst oder auf Nachfrage von Anwesenden immer bestätigt hat, dass die Situation und Versorgung für Flüchtlingskinder ohne elterliche Beglei- tung (Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge) in Berlin trotz Fallzahlsteigerungen immer noch gut sei, die Ju- gendbehörden und Einrichtungen in ausreichendem Maße für diese Kinder sorgen können und bei Schwierigkeiten die zuständigen Gremien zeitnah informiert werden? 2. Trifft es zu, dass die zuständige Staatssekretärin für Jugend auf einer öffentlichen Veranstaltung (2. Jugendhil- feforum) am 07.03.2015 bei einer Rede erklärt hat, dass Berlin gemeinsam mit den anderen Stadtstaaten wegen der angespannten Situation und einer Überforderungssitu- ation der Strukturen der Jugendhilfe hinsichtlich der zu hohen Zahl der unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge Änderungen der gesetzlichen Vorschriften im SGB VIII betreibt bzw. trifft der Fakt an sich zu, dass Berlin mit diesen Stadtstaaten gesetzliche Änderungen im SGB VIII anstrebt? 3. Wie passt es zusammen, wenn den zuständigen Gremien auf der einen Seite erklärt wird, dass hinsichtlich der Situation von Flüchtlingskindern ohne Eltern alles in Ordnung sei und damit derzeit kein Handlungsbedarf besteht und andererseits massive Schritte der Einschrän- kungen der rechtlichen Situation für die Gruppe der unbe- gleiteten Flüchtlinge auf Bundesebene durch den Berliner Senat unternommen werden? 16. Gibt es derzeit bei der Versorgung und Vertretung von unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen in Berlin Probleme, wenn ja welche und wie wird diesen abgehol- fen? Zu 1., 2., 3. und 16.: Der Zustrom von minderjährigen unbegleiteten Flüchtlingen steigt seit 2013 stetig an, ein weiterer Anstieg wird für die kommenden Jahre erwartet. Deutschlandweit sind diejenigen Länder und Kommunen, die sich zu zentralen Einreise- bzw. Ankunftsstellen ent- wickelt haben, vor nur noch schwer zu lösende Situatio- nen bei der Unterbringung, Versorgung, Betreuung und Begleitung dieser besonders schutzwürdigen Zielgruppe gestellt. Vor diesem Hintergrund ist das Vorhaben für eine ge- setzliche Regelung einer bundesweiten Aufnahmepflicht der Länder zur Ermöglichung eines am Kindeswohl orien- tierten landesinternen und bundesweiten Verteilungsver- fahrens zu sehen. Es ist gemeinsames Anliegen aller Län- der wie auch des Bundes, diese gesamtgesellschaftliche Aufgabe mit dem Blick auf die Zielbestimmung der Ju- gendhilfe im Rahmen der haushalterischen Möglich- keiten zu bewältigen. Angesichts der steigenden Flüchtlingszahlen kommt jedoch nicht nur die äußerst angespannte jugendgerechte Unterbringung und Versorgung durch die örtlichen Träger der öffentlichen Jugendhilfe an ihre Grenzen, sondern vor allem auch die soziale, schulische und berufliche Ent- wicklung individueller Chancen wird durch die örtliche Ballung beeinträchtigt. Dies trifft auch auf Berlin zu und berührt aus Sicht des Landes Berlins den Gesichtspunkt des Kindeswohls, um die Chance auf Integration lern- und leistungsbereiter junger Menschen adäquat gewährleisten zu können. Alle Überlegungen, die starke Ballung von unbegleite- ten minderjährigen Flüchtlingen an wenigen Orten im Bundesgebiet (insbesondere den Stadtstaaten sowie Nord- rhein-Westfalen und Bayern) aufzulösen, müssen im Rahmen der Anwendung der gesetzlichen Grundlagen des § 42 Sozialgesetzbuch (SGB) VIII erfolgen. Die Interes- sen der unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge werden wie bisher auch im Rahmen der vorläufigen In- obhutnahme zunächst vom Aufnahmejugendamt vertreten Abgeordnetenhaus Berlin – 17. Wahlperiode Drucksache 17 / 15 718 2 werden. Nach einer bestimmten Frist muss die Bestellung eines qualifizierten Vormundes bei Gericht angeregt und geprüft werden. 4. Wie werden die für die Jugendhilfe zuständigen Berliner Gremien in die bundespolitischen Aktivitäten des Berliner Senates zur Änderung des SGB VIII für unbe- gleitete minderjährige Flüchtlingskinder mit eingebunden bzw. warum werden diese nicht beteiligt, ist ein solches Vorgehen zulässig und neuer Stil der zuständigen Se- natsverwaltung? 5. Ist es richtig, dass durch die Stadtstaatenbundeslän- der insbesondere die Regelungen für die Inobhutnahme von unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen verändert werden sollen und Sonderregelungen geschaffen werden sollen? 6. Welche Regelungsänderungen zur Inobhutnahme soll es nach Ansicht des Berliner Senats konkret mit einer Änderung des § 42 SGB VIII geben? 8. Sollte es zu einer gesetzlich geregelten Verteilungs- quote der unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge kom- men, welche Vorstellungen zu dieser Verteilung hat der Berliner Senat? 9. Würde der Berliner Senat das in Berlin bewährte und Standard für das gesamte Bundesgebiet setzende Clearingsverfahren, in dem innerhalb von drei Monaten alle wesentlichen Fragen (Sorgerecht, Gesundheitsmaß- nahmen, Aufenthaltsfragen usw.) bisher geklärt werden, aufgegeben werden und die jungen Menschen schon nach 7 Tagen anderswohin gebracht werden? 10. Wie würden sie in dieser Zeit versorgt werden, wie würde insbesondere die gesundheitliche Versorgung aus- sehen und wie würden sie untergebracht und betreut wer- den? 11. Wenn die Kinder und Jugendlichen dann verteilt werden würden, wie würden sie dann in diese Bundes- länder und Orte verbracht werden, wer würde sie wie begleiten? 12. Wie würde sich eine Verteilungsregelung mit dem bestehenden Grundsatz der Freiwilligkeit und des Wunsch- und Wahlrechtes für die jungen Leute insbeson- dere, an welchem Ort sie leben wollen, vereinbaren? 13. Der Grundsatz der Inhobhutnahme lautet, dass immer das Jugendamt bis zur Klärung der Situation und Einleitung weiterer Jugendhilfemaßnahmen zuständig ist, in dessen Zuständigkeitsbereich die jungen Menschen angetroffen werden oder um Hilfe bitten, welche Begrün- dung hat der Berliner Senat dafür, dass gerade besonders bedürftige Flüchtlingskinder anders behandelt werden sollen als andere in Deutschland lebende Kinder und Jugendliche und wie vereinbart sich ein solches Vorgehen mit der UN-Kinderrechtskonvention? 14. Welche weiteren Regelungen sollen wie nach den Vorstellungen des Berliner Senates sonst noch hin- sichtlich junger Flüchtlinge im SGB VIII verändert wer- den? 15. Sieht der Berliner Senat auch Änderungsbedarf in anderen Rechtskreisen, z.B. im BGB im Rahmen des Ruhens der Elterlichen Sorge, da in Verfahren vor den Berliner Familiengerichten bis zur Bestellung eines Vor- mundes bis zu 1,5 Jahre vergehen? Zu 4.- 6. und 8. - 15.: Im Rahmen der Beratungen der Regierungschefinnen und Regierungschefs der Länder zur Asyl- und Flüchtlingspolitik wurde eine länderoffene Arbeitsgruppe zur Vorbereitung der gesetzlichen Rege- lung einer bundesweiten Verteilung unbegleiteter minder- jähriger Flüchtlinge unter Federführung des Bundesminis- teriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) eingerichtet. An den Zusammenkünften neh- men die Vertreterinnen und Vertreter der obersten Lan- desjugendbehörden teil. Die Fachkompetenz der Kinder- und Jugendhilfe ist damit unmittelbar und wesentlich bei der Diskussion, Prüfung und Entscheidungsfindung ge- währleistet. Am 14. November 2014 fand auf Einladung der Län- der Nordrhein-Westfalen, Bayern, Hamburg und Berlin ein Expertengespräch zur bundesweiten Verteilung von unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen mit Vertrete- rinnen und Vertretern von Fachverbänden und der freien Wohlfahrtspflege statt. Am 24. Februar 2015 wurden den Vertreterinnen und Vertretern der Fachöffentlichkeit durch das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) die ersten Eckpunkte des Gesetzesvorhabens vorgestellt. Die fachliche Diskussion und Beratung des geplanten Gesetzesvorhabens findet gegenwärtig in zahlreichen Arbeitsgruppen und Gremien innerhalb der Strukturen der Kinder- und Jugendhilfe statt, die sich mit unterschiedlichen Stellungnahmen und Diskussionsbeiträgen in das Verfahren einbringen. Die für die Jugendhilfe zuständigen Berliner Gremien z.B. die in der ersten Frage angesprochenen Gremien des Landesjugendhilfeausschusses und der Berliner Familien- beirat wurden und werden zeitnah über die Gesamtthe- matik unterrichtet. Dem Landesjugendhilfeausschuss wurde in seiner Sitzung am 18. März 2015 unter dem Schwerpunktthema Flüchtlinge sowohl über die Arbeit der Erstaufnahme- und Clearingstelle in Berlin als auch über die aktuellen bundesweiten Entwicklungen im Hin- blick auf das Gesetzesverfahren berichtet. Um eine ver- tiefte Erörterung zu gewährleisten, wurde vereinbart, das Thema im Landesjugendhilfeausschuss zeitnah erneut aufzurufen, sobald der Stand des Gesetzesvorhabens es sinnvoll erscheinen lässt. Das Land Berlin beteiligt sich aktiv an der Ausgestal- tung eines am Kindeswohl orientierten Gesetzentwurfes im Rahmen der noch andauernden Länderabstimmung. Es setzt sich dafür ein, die aktuelle Diskussion über Vertei- lung und Kosten vor dem Hintergrund des demographi- schen Wandels im Interesse der gesamten Bundesrepublik Abgeordnetenhaus Berlin – 17. Wahlperiode Drucksache 17 / 15 718 3 deutlicher auch unter dem Aspekt von Integration und Chancen zu sehen. In der Zusammenarbeit von Ländern und Kommunen mit Betrieben und Unternehmen müssen die Fragen von Nachwuchsproblemen und Qualifizie- rungsdefiziten stärker auch unter dem Aspekt der Einwan- derung einer großen Zahl motivierter junger Menschen und den sich daraus ergebenden Chancen diskutiert wer- den. 7. Ist es richtig, dass die Bundesländer den jetzt schon bestehenden rechtlich geregelten Kostenausgleich für die Versorgung von unbegleiteten minderjährigen Flüchtlin- gen untereinander nicht geklärt bekommen und deshalb das Recht der Flüchtlingskinder eingeschränkt werden soll? Zu 7.: Das bestehende Kostenerstattungsverfahren nach der Regelung des § 89 d Sozialgesetzbuch (SGB) VIII basiert auf der Grundlage eines finanziellen Lasten- ausgleichs für die reinen Fallkosten nach dem Königstei- ner Schlüssel und führt im Ergebnis langfristig zu einer gleichmäßigen finanziellen Belastung der Länder bei der Unterbringung, Versorgung und Betreuung von unbeglei- teten minderjährigen Flüchtlingen. Die Kosten für die notwendige Infrastruktur sind nicht Bestandteil des Kos- tenerstattungsverfahrens. Dieses sehr verwaltungsauf- wändige finanzielle Ausgleichssystem und dessen system- immanente Schwankungen sind für die Haushaltswirt- schaft in den Ländern und Kommunen nicht steuerbar und stellen somit eine nicht unerhebliche finanzielle Belastung dar. Forderungen nach einer Modifizierung des Kosten- ausgleichs im bisherigen Erstattungssystem sind kein zielführender Beitrag zur Lösung der aktuellen und zu- künftigen Herausforderungen. Insofern bedarf es unab- hängig von der Frage einer gesetzlichen Regelung für eine bundesweite Aufnahmepflicht der Länder zur Ermögli- chung eines am Kindeswohl orientierten Verteilungsver- fahrens neuer Regelungen, die die Länder und Kommu- nen in die Lage versetzen, bundesweit geeignete Einrich- tungen und Dienste aufzubauen, d.h. in allen Bundeslän- dern die notwendige Infrastruktur für die Versorgung dieser besonders schutzwürdigen Zielgruppe sicherzustel- len. Berlin, den 23. März 2015 In Vertretung Sigrid Klebba Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Wissenschaft (Eingang beim Abgeordnetenhaus am 30. Mrz. 2015)