Drucksache 17 / 15 918 Schriftliche Anfrage 17. Wahlperiode Schriftliche Anfrage des Abgeordneten Dr. Klaus Lederer (LINKE) vom 27. März 2015 (Eingang beim Abgeordnetenhaus am 30. März 2015) und Antwort Welche Folgen hat der aktuelle „Kopftuchbeschluss“ des BVerfG für Berlins Verwaltung ? Die Drucksachen des Abgeordnetenhauses sind bei der Kulturbuch-Verlag GmbH zu beziehen. Hausanschrift: Sprosserweg 3, 12351 Berlin-Buckow · Postanschrift: Postfach 47 04 49, 12313 Berlin, Telefon: 6 61 84 84; Telefax: 6 61 78 28. Im Namen des Senats von Berlin beantworte ich Ihre Schriftliche Anfrage wie folgt: 1. In wie vielen Fällen kam es aufgrund des Berliner Neutralitätsgesetzes vom 27. Januar 2005 seit Inkrafttre- ten jährlich zu Nichteinstellungen, Untersagungsverfü- gungen oder arbeits- bzw. dienstrechtlichen Konsequen- zen gegenüber Bediensteten des Landes Berlin aufgrund eines mit dem Neutralitätsgesetz unvereinbaren religiösen Bekenntnisses (bitte aufgliedern nach Jahr, Geschlecht, Glaubensbekenntnis, Beruf der jeweils betroffenen Be- diensteten)? Zu 1.: Das „Gesetz zur Schaffung eines Gesetzes zu Art. 29 der Verfassung von Berlin (VvB) und zur Ände- rung des Kindertagesbetreuungsgesetzes“, das sogenannte „Neutralitätsgesetz“ vom 27. Januar 2005, erschienen im Gesetz- und Verordnungsblatt für Berlin, Nr. 4 vom 8. Februar 2005, S. 92 gilt gemäß § 1 Gesetz zu Art. 29 VvB für Beamtinnen und Beamte, die im Bereich der Rechts- pflege, des Justizvollzugs- oder der Polizei beschäftigt sind, gemäß § 5 Gesetz zu Art. 29 VvB auch für die in den genannten Bereichen tätigen Angestellten und Aus- zubildenden sowie gemäß §§ 2 und 3 Gesetz zu Art. 29 VvB unter den dort genannten Voraussetzungen für be- stimmte Lehrkräfte. Abzielend auf diesen begrenzten Geltungsbereich wurden zur Beantwortung der Frage 1 die jeweils zustän- digen obersten Dienstbehörden um Zulieferung der benö- tigten Angaben gebeten. Nach den hier eingegangenen Rückläufen können fol- gende Fallzahlen genannt werden: Im Justizbereich kam es insgesamt zu 8 Fällen: - 2008 wurde beim Amtsgericht Charlottenburg eine (inzwischen aus dem Berliner Landesdienst ausgeschie- dene) Angestellte muslimischen Glaubens, die aus religi- ösen Gründen ein Kopftuch trug, unter Hinweis auf die Wahrnehmung hoheitlicher Tätigkeit vom Protokollführ- erdienst im Sitzungssaal entbunden. Vorausgegangen waren Beschwerden zweier Anwälte. - Ferner wurden im Bereich der Präsidentin des Kammergerichtes übertragenen Referendarausbildung seit dem Jahr 2012 in sieben Fällen Referendarinnen nach Maßgabe der §§ 22 Abs. 3 Berliner Juristenausbildungs- ordnung (JAO), § 10 Abs. 3 Satz 1 Berliner Juristenaus- bildungsgesetz (JAG) von der Ausübung hoheitlicher Befugnisse im Sitzungssaal ausgenommen. Im Schuldienst kam es insgesamt zu zwei Fällen: - 2006, ausgebildete Lehrerin mit Erstem Staatsexamen , Muslima, Nichteinstellung in einer Grundschule im Rahmen einer Arbeitsbeschaffungsmaßnahme zur Leitung eines Projekts, weil sie das Kopftuch nicht ab- nehmen wollte. - 2014, Erzieherin, Muslima, Nichteinstellung in den Schuldienst, weil sie das Kopftuch nicht abnehmen wollte. Weitere Fälle, die aufgrund eines mit dem „Neutralitätsgesetz “ unvereinbaren religiösen Bekenntnisses zu Nichteinstellungen, Untersagungsverfügungen oder ar- beits- bzw. dienstrechtlichen Konsequenzen führten, sind nicht bekannt. 2. Welche faktischen und rechtlichen Konsequenzen zieht der Senat aus dem Beschluss des Bundesverfas- sungsgerichts, 1. Senat, vom 27. Januar 2015, 1 BvR 471/10 und 1 BvR 1181/10 („Kopftuchbeschluss“), zur Verfassungswidrigkeit des Schulgesetzes des Landes Nordrhein-Westfalen? Zu 2.: Mit Beschluss vom 27. Januar 2015 hat das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) zu zwei Einzelfällen zum nordrhein-westfälischen Schulgesetz entschieden, dass ein gesetzliches Verbot äußerer religiöser Bekun- dungen zum Zweck der Wahrung des Schulfriedens und Abgeordnetenhaus Berlin – 17. Wahlperiode Drucksache 17 / 15 918 2 der staatlichen Neutralität für alle Glaubens- und Weltan- schauungsrichtungen unterschiedslos gelten muss. Es hat hierbei auch festgestellt, dass ein gesetzliches Verbot religiöser Bekundungen wegen der bloß abstrakten Gefahr für den Schulfrieden oder die staatliche Neutralität unverhältnismäßig ist und zumindest eine hinreichende konkrete Gefahr für diese Schutzgüter vorliegen muss, um einer Lehrerin das Tragen eines Kopftuches untersagen zu dürfen. Zunächst ist festzuhalten, dass das Urteil nur für das Land Nordrhein-Westfalen (NRW) unmittelbare Auswir- kungen hat; mittelbare Auswirkungen können sich jedoch ggf. auch für Berlin ergeben. Anders als das nordrhein-westfälische Schulgesetz behandelt das Berliner Gesetz zu Art. 29 VvB alle Glau- bens- und Weltanschauungsrichtungen unterschiedslos. Es untersagt nämlich in bestimmten Bereichen (i. S. v. § 1 Gesetz zu Art. 29 VvB Rechtspflege, Justizvollzug, Polizei, öffentliche Schulen nach dem Schulgesetz) das Demonstrieren religiöser oder weltanschaulicher Symbole sowie das Tragen auffallender religiös oder weltanschau- lich geprägter Kleidungsstücke aufgrund der abstrakten Gefährdung der staatlichen Neutralität bzw. des Schul- friedens. Im Hinblick auf den Aspekt der abstrakten Gefähr- dung dieser Schutzgüter erfordert die jüngste Entschei- dung des Bundesverfassungsgerichts intensive Prüfungen der betroffenen Fachverwaltungen, ob und inwiefern Änderungsbedarf an der Berliner Gesetzeslage besteht. Mit abschließenden Ergebnissen ist wegen der Kom- plexität des Themas nicht kurzfristig zu rechnen. 3. Sind insbesondere neue Bewertungen von unter 1) bezeichneten Vorgängen im Licht dieses BVerfG- Beschlusses vorzunehmen, und wenn ja: Was wird dies- bezüglich jetzt unternommen und wer ist innerhalb des Senats dafür zuständig? Zu 3: Derzeit findet ein intensiver Abstimmungspro- zess zwischen den tangierten Fachverwaltungen statt. Auf den letzten Satz der Antwort zu Frage 2 wird verwiesen. 4. Welche Vorgaben und Regularien hat der Senat er- lassen, um die unverzügliche verfassungskonforme An- wendung des Berliner Neutralitätsgesetzes zu sichern? Welche Normen werden danach insbesondere (und ggf. wie) angewendet und welche haben außer Betracht zu bleiben? Zu 4: Bisher sind keine Vorgaben und Regularien im Hinblick auf eine verfassungskonforme Anwendung des Gesetzes zu Art. 29 VvB erfolgt, da die Auswertung der Entscheidung noch andauert. 5. Wann ist damit zu rechnen, dass der Senat dem Abgeordnetenhaus von Berlin eine Gesetzesvorlage zur Veränderung des Berliner Neutralitätsgesetzes zur Bera- tung und Beschlussfassung übermittelt, die den Vorgaben des BVerfG, a.a.O., vollumfänglich Rechnung trägt? Zu 5: Auf die Antwort zu Frage 2 wird verwiesen. Es ist – nach Abschluss des Abstimmungsprozesses mit den anderen Verwaltungen – beabsichtigt, dem Senat zunächst eine gesonderte Besprechungsunterlage vorzule- gen, in dem die möglichen Auswirkungen der o. g. Ent- scheidung auf die Berliner Rechtslage zur Diskussion gestellt und ggf. notwendige Lösungsmöglichkeiten auf- gezeigt werden. In diesem Rahmen wird gegebenenfalls auch über die Fertigung einer Abgeordnetenhausvorlage zu beraten sein. Berlin, den 07. April 2015 In Vertretung Bernd Krömer Senatsverwaltung für Inneres und Sport (Eingang beim Abgeordnetenhaus am 14. Apr. 2015)