Drucksache 17 / 15 930 Schriftliche Anfrage 17. Wahlperiode Schriftliche Anfrage des Abgeordneten Dr. Klaus Lederer (LINKE) vom 30. März 2015 (Eingang beim Abgeordnetenhaus am 01. April 2015) und Antwort Wie sichert Berlin die Glaubens- und Bekenntnisfreiheit bei der Speiseversorgung in den Justizvollzugsanstalten? Die Drucksachen des Abgeordnetenhauses sind bei der Kulturbuch-Verlag GmbH zu beziehen. Hausanschrift: Sprosserweg 3, 12351 Berlin-Buckow · Postanschrift: Postfach 47 04 49, 12313 Berlin, Telefon: 6 61 84 84; Telefax: 6 61 78 28. Im Namen des Senats von Berlin beantworte ich Ihre Schriftliche Anfrage wie folgt: 1. Teilt der Senat die Auffassung, dass der Staat auf- grund von Art. 4 GG ganz grundsätzlich die Pflicht hat, Inhaftierten in Einrichtungen des Justizvollzugs die Be- folgung imperativer religiöser Speisevorschriften zu er- möglichen, indem entweder entsprechende Kost durch die Anstalten selbst angeboten oder aber die Selbstversorgung mit Speisen gemäß § 21 III StVollzG ermöglicht wird, was grundsätzlich nicht im Ermessen der Justizvollzugs- anstalten steht (vgl. nur OLG Hamm, NStZ 1964, 190f.)? Zu 1.: Das Grundrecht auf Achtung der Glaubens-, Gewissens- und Bekenntnisfreiheit nach Artikel 4 Grund- gesetz (GG) ist, worauf auch der nach Artikel 140 GG als Bestandteil des Grundgesetzes fortgeltende Art. 136 der Weimarer Reichsverfassung hinweist, ein Abwehrrecht des Einzelnen gegenüber dem Staat. Der Staat ist dem Grundsatz nach - so auch die Entscheidung des Oberlan- desgerichts Hamm aus dem Jahr 1984 - nicht verpflichtet, der oder dem Einzelnen die faktische Möglichkeit der Religionsausübung - wozu auch die Befolgung religiöser Speisevorschriften gehört - zu verschaffen. Wenngleich die Vollzugsverwaltung nicht verpflichtet ist, der oder dem Gefangenen eine den Speisevorschriften ihrer oder seiner Religionsgemeinschaft entsprechende Kost zu verabreichen, werden erhebliche Anstrengungen unternommen, um den vielfältigen Anforderungen an die Ernährung aller Gefangener, der eine große Bedeutung beigemessen wird, gerecht zu werden. Nach den gesetzlichen Bestimmungen zur Verpfle- gung während des Vollzuges (§§ 21 StVollzG - Strafvoll- zugsgesetz -, 18 UVollzG Bln - Untersuchungshaftvoll- zugsgesetz Berlin -, 31 JStVollzG - Jugendstrafvollzugs- gesetz -, 58 SVVollzG - Sicherungsverwahrungsvollzugs- gesetz) ist es den Gefangenen zu ermöglichen, Speisevor- schriften ihrer Religionsgemeinschaft zu befolgen bzw. Bestandteile der Anstaltsverpflegung, die aufgrund religi- öser Speisegebote nicht verzehrt werden dürfen, gegen andere Nahrungsmittel auszutauschen. Gefangene, die über genügend Eigenmittel verfügen, können darüber hinaus in den Justizvollzugsanstalten aus dem jeweiligen Angebot des externen Anbieters für den Gefangeneneinkauf ergänzende Produkte, wie z. B. das „Kamar Halal Food“- Angebot für muslimische Gefangene oder auch die in der Justizvollzugsanstalt Tegel erhält- lichen und als Angebotserweiterung vorgesehenen ko- scheren Lebensmittel, erwerben. Alternativ sind auf Antrag einer oder eines Gefange- nen die Möglichkeiten einer Selbstversorgung zu prüfen. 2. Ist gegenwärtig abgesichert, dass die Versorgung bzw. Selbstversorgung aller Inhaftierten, gleich welchen Bekenntnisses, in Berlins Justizvollzugsanstalten diesen Grundsätzen genügt? 3. Hinsichtlich welcher Glaubensbekenntnisse können die Berliner Justizvollzugsanstalten selbst eine adäquate Nahrungsmittelversorgung sicherstellen, um gläubigen Inhaftierten die durch imperative religiöse Speisevor- schriften vorgegebene Kost bereitzustellen? Zu 2. und 3.: Die Berliner Vollzugsanstalten können mit den Empfehlungen der Deutschen Gesellschaft für Ernährung und deren Einhaltung auch für Gefangene mit christlichem, islamischem, buddhistischem und hinduisti- schem Glauben die Verpflegung sicherstellen. So kann den Bedürfnissen der Gefangenen islami- schen Glaubens dadurch entsprochen werden, dass eine spezielle Kostform, bei der sämtliche Schweinefleisch- produkte gegen andere Fleischsorten (z. B. Kalb-, Puten- oder Hammelfleisch) ausgetauscht werden, zur Verfügung gestellt wird. Es wird bei sämtlichen Lebensmitteln darauf geachtet, dass kein Schweinefleisch enthalten ist. Auch Joghurt oder Puddingprodukte, in denen Produkte vom Abgeordnetenhaus Berlin – 17. Wahlperiode Drucksache 17 / 15 930 2 Schwein nur rudimentär in Speisegelatine enthalten sind, werden gegen gelatinefreie Produkte ausgetauscht. Ebenso findet der Fastenmonat Ramadan Berücksich- tigung durch Ausgabe der Mittagsspeise am Abend oder Ausgabe von besonderen Speisen. Die Speisevorschriften im Buddhismus sind nicht ein- deutig definiert, aber auch hier ist eine Versorgung mög- lich. Berücksichtigt man, dass im Buddhismus auch in der Unterscheidung zwischen Ordensmitgliedern und Laien für beide der Fleischverzehr weitgehend abgelehnt wird (gem. Tötungsverbot - „Ahimsa“) und keine Rauschmittel genossen werden sollen, ist eine vegetarische Kost unter Verzicht auf Zwiebelgewächse und Eier (werden häufig gemieden) als akzeptabel zu bezeichnen. Gleiches gilt für den Hinduismus, wenngleich hier zusätzlich auf Pilze und Rüben verzichtet werden sollte. Somit kann mit einer vegetarischen Kost diesen religiösen Speisenanforderun- gen weitgehend entsprochen werden. Idealerweise sollte eine Brahmanin oder ein Brahmane als Köchin oder Koch in der Küche arbeiten. Dieses Ideal lässt sich aus nahelie- genden Gründen jedoch nicht umsetzen. Schwieriger ist hingegen die Versorgung von Gefan- genen jüdischen Glaubens mit Anstaltskost, die den An- forderungen der Jüdischen Speisegesetze Kaschrut ent- spricht. Eine Bereitstellung von Fleisch geschächteter Tiere ist kaum möglich. Tiere dürfen wegen des Schutzes nach Artikel 20 a Grundgesetz nur mit einer Ausnahmegeneh- migung nach § 4a Tierschutzgesetz geschächtet werden. Entsprechende Fleischprodukte sind daher nur sehr einge- schränkt und zu hohen Preisen auf dem Markt erhältlich. Selbst wenn eine Beschaffung des Fleisches ohne Beach- tung der Beschaffungs- und Ausgabensituation möglich wäre, so ist jedoch eine separate Zubereitung von Fleisch geschächteter Tiere genau wie die Form des Transportes des Fleisches und der Reinigung der Transportbehältnisse aus technischen, organisatorischen sowie finanziellen Gründen nicht möglich. Auch sind keine Räumlichkeiten vorhanden, um die für eine separate Zubereitung von Fleisch geschächteter Tiere notwendigen zusätzlichen Küchenutensilien, Küchenmaschinen, Töpfe, Kessel, Behältnisse und Gefäße unterzubringen. In der Vergangenheit hat daher die Jüdische Gemeinde zu Berlin für Gefangene jüdischen Glaubens die fleisch- freie Anstaltskost (Austausch von Fleischprodukten durch Gemüse-, Ei- oder Getreideprodukte) empfohlen. Aktuell strebt die Justizvollzugsanstalt Moabit an, für Gefangene jüdischen Glaubens die zumeist kostenintensi- ve Einzelselbstverpflegung über das Jüdische Bildungs- zentrum Chabad Lubawitsch zu organisieren. Eine ab- schließende Klärung ist noch nicht erfolgt. 4. Hinsichtlich welcher Glaubensbekenntnisse verwei- sen die Berliner Justizvollzugsanstalten die Inhaftierten auf die Option der Selbstversorgung, weil sie selbst nicht ohne erheblichen Aufwand zur Bereitstellung der impera- tiven religiösen Speisevorschriften entsprechender Kost in der Lage sind? Welche Unterstützung wird den Betref- fenden dabei gewährt? Was ist ggf. in Kooperation mit Glaubens- und Religionsgemeinschaften unternommen worden, um den Aufwand für die Bereitstellung durch Anstaltsversorgung zu minimieren? Zu 4.: Siehe Antworten zu 1. bis 3. 5. Wie wird durch den Senat Sorge getragen und in den Justizanstalten verbindlich organisatorisch abgesi- chert, dass alle Inhaftierten in den Berliner Einrichtungen des Justizvollzugs unverzüglich nach dem Haftantritt in den Genuss von ihrem religiösen Bekenntnis entspre- chenden Speisen kommen können? 6. Welches Verfahren ist vorgesehen, damit Inhaftierte in den Genuss der durch ihr religiöses Bekenntnis vorge- schriebenen Speisen kommen? Insbesondere: Werden Besonderheiten in der Haft aufgrund spezifischer Glau- bensbekenntnisse routinemäßig im Rahmen des Einwei- sungs- bzw. Aufnahmeverfahrens festgestellt oder ist das gewissermaßen die Angelegenheit der Inhaftierten selbst? Zu 5. und 6.: Bei der Aufnahme der Gefangenen wer- den regelhaft auch - allerdings freiwillige - Angaben zur Religionszugehörigkeit erfragt und dokumentiert. Die Gefangenen können zwischen drei verschiedenen Kost- formen - Normalkost, vegetarische- und schweinefleisch- freie Kost - wählen. Sollten darüberhinausgehende Ver- sorgungswünsche bestehen - hierbei handelt es sich um Einzelfälle -, so muss die/der einzelne Gefangene aktiv werden. Weiterhin sind Änderungen aufgrund ärztlicher Ver- ordnungen möglich. In den Zugangsbereichen der Justizvollzugsanstalten stehen entweder alle Kostformen zur Verfügung oder zumindest wird immer schweinefleischfreie Kost angebo- ten. In der Praxis beantragen ganz überwiegend Gefangene muslimischen Glaubens eine Versorgung im Sinne ihrer religiösen Speisevorschriften und vereinzelt Gefangene jüdischen Glaubens. 7. Sind dem Senat Fälle bekannt, in denen Inhaftierten in Berliner Justizvollzugseinrichtungen die Bereitstellung der ihrem Glaubensbekenntnis entsprechenden Kost durch Selbstversorgung über einen längeren Zeitraum vorenthal- ten worden ist, obgleich die Einrichtung selbst zu einer dem Imperativ entsprechenden Nahrungsversorgung nicht in der Lage war bzw. ist? Wenn ja: Welche Gründe hat bzw. hatte das und welche Konsequenzen wurden daraus gezogen? Abgeordnetenhaus Berlin – 17. Wahlperiode Drucksache 17 / 15 930 3 Zu 7.: Aufgrund der beschriebenen Auswahl von Speisen der Anstaltsverpflegung, die im Sinne der Gefan- genen die erste Option sein sollte, sowie den regelmäßig bestehenden Bezugsmöglichkeiten von Waren über den Gefangeneneinkauf sind Anträge auf Selbstversorgung äußerst selten. Die in diesen wenigen Fällen von den Anstalten erfolgten Prüfungen hatten zudem ergeben, dass im Hinblick auf den Aufwand einer täglichen Einzelanlie- ferung und den dadurch für die Gefangene/den Gefange- nen entstehenden Kosten zumeist kein Liefervertrag zu- stande kam. Derzeit befindet sich ein Antrag eines Gefangenen auf Selbstversorgung in der Bearbeitung durch die Justizvoll- zugsanstalt Tegel. Berlin, den 17. April 2015 In Vertretung Straßmeir Senatsverwaltung für Justiz und Verbraucherschutz (Eingang beim Abgeordnetenhaus am 22. Apr. 2015)