Drucksache 17 / 15 957 Schriftliche Anfrage 17. Wahlperiode Schriftliche Anfrage der Abgeordneten Canan Bayram (GRÜNE) vom 13. April 2015 (Eingang beim Abgeordnetenhaus am 14. April 2015) und Antwort Gutachter bei Ausländerbehörde und Polizei - Mangel an Qualifikation und Unabhän- gigkeit! Die Drucksachen des Abgeordnetenhauses sind bei der Kulturbuch-Verlag GmbH zu beziehen. Hausanschrift: Sprosserweg 3, 12351 Berlin-Buckow · Postanschrift: Postfach 47 04 49, 12313 Berlin, Telefon: 6 61 84 84; Telefax: 6 61 78 28. Im Namen des Senats von Berlin beantworte ich Ihre Schriftliche Anfrage wie folgt: 1. Seit wann wird R.L. als Arzt bei Abschiebungen von der Ausländerbehörde bzw. der Polizei eingesetzt? Zu 1.: In den Jahren 2009 bis Ende 2014 war Herr L. im Rahmen der ärztlichen Betreuung bei Abschiebungs- maßnahmen auf Honorarbasis für den Polizeiärztlichen Dienst der Berliner Polizei tätig. In diesem Zusammen- hang oblag ihm auch die Überprüfung der Reisefähigkeit ausreisepflichtiger Personen. 2. Welche ärztliche Qualifikation hat R. L. gegenüber der Ausländerbehörde bzw. der Polizei nachgewiesen und wurde er außerhalb seiner Qualifikation eingesetzt? Zu 2.: Herr L. ist Arzt. Für Überprüfungen, ob eine Reise- oder Flugfähigkeit vorliegt, bedarf es in der Regel keiner speziellen fachärztlichen Kenntnisse, da hierbei keine Krankheit diagnostiziert oder eine Diagnose über- prüft werden muss. Bei der Überprüfung der Reise- bzw. Flugfähigkeit wird die Frage geklärt, ob die Reise aus medizinischer Sicht, erforderlichenfalls mit ärztlicher Begleitung, durchgeführt werden kann. Über die für die ärztliche Betreuung von Abschiebungsmaßnahmen sowie die Überprüfung der Reise- bzw. Flugfähigkeit ausreise- pflichtiger Personen erforderliche Qualifikation als Arzt hinaus verfügt Herr L. unter anderem durch seine Tätig- keit als Gewahrsamsarzt über langjährige Erfahrungen mit Menschen, die sich in polizeilichem Gewahrsam bzw. in anderen besonderen Situationen befinden. Hinsichtlich der Frage des Nachweises seiner Qualifi- kation als Arzt wird auf die Beantwortung der Frage 10 verwiesen. Herr L. wurde nicht außerhalb seiner Qualifikation eingesetzt. 3. Wie viele Gutachten im Zusammenhang mit Ab- schiebungen, Gewahrsamnahmen oder Freiheitsentzie- hungen o.ä. wurden von R. L. in den letzten 40 Jahren erstellt und wie wurde er hierfür entlohnt? (Bitte auf- schlüsseln nach Jahren, Maßnahmen, Höhe der Honorare) Zu 3.: Herr L. war vom 1. Juli 1989 bis Ende 2014 auf Honorarbasis für den Polizeiärztlichen Dienst der Polizei Berlin tätig. Er wurde unter anderem als Blutentnahme- arzt im Bereich der Gefangenensammelstellen sowie zur Einschätzung der Verwahrfähigkeit eingelieferter bzw. einzuliefernder Personen und seit 2009 im Zusammen- hang mit der ärztlichen Betreuung bei Abschiebungsmaß- nahmen bzw. der Überprüfung der Reisefähigkeit ausrei- sepflichtiger Personen eingesetzt. Im Zusammenhang mit seiner Tätigkeit für die Polizei Berlin wurde Herr L. zu keiner Zeit als Gutachter tätig, da Honorarärztinnen bzw. Honorarärzte keine Gutachten für die Polizei Berlin erstellen. Bei schriftlichen ärztlichen Leistungen wird zwischen Gutachten, Befundberichten, Attesten und Rezepten unterschieden. Schriftliche ärztli- che Feststellungen oder Einschätzungen, beispielsweise über eine bestehende Reise-, Flug- oder Verwahrfähig- keit, werden üblicherweise nicht in Form von Gutachten, sondern von Attesten gefertigt. Die Anzahl der in Anspruch genommenen ärztlichen Leistungen Herrn L. über den genannten Zeitraum wurde von der Polizei Berlin statistisch nicht erhoben. Ebenso verhält es sich mit dem Honorar, das Herr L. für seine Leistungen bezogen hat. Im Zusammenhang mit der ärztlichen Betreuung von Abschiebungsmaßnahmen bzw. der Überprüfung der Reisefähigkeit der ausreisepflichtigen Personen wurden im Rahmen einer vorgenommenen retrograden Auszäh- lung für den hierfür in Frage kommenden Zeitraum von 2009 bis 2014 insgesamt 30 Abschiebungsmaßnahmen durch Herrn L. ärztlich begleitet. In zwei dieser Fälle attestierte Herr L. die Reisefähigkeit selbst. Aufgeschlüs- Abgeordnetenhaus Berlin – 17. Wahlperiode Drucksache 17 / 15 957 2 selt nach Jahren stellen sich diese Tätigkeiten Herrn L. wie folgt dar: Jahr Tätigkeit 2009 7 Begleitungen 2010 6 Begleitungen 2011 3 Begleitungen 2012 3 Begleitungen 2013 2 Begleitungen 2014 9 Begleitungen, davon 2 Feststellungen der Reise- fähigkeit In einigen Fällen wurden Reservierungen und Beglei- tungen storniert oder die Rückführung wurde abgebro- chen. Eine Angabe über die individuell erhaltenen Vergü- tungen verstößt gegen Persönlichkeitsrechte. Die allge- mein gültigen Vergütungen der Tätigkeiten erfolgen nach der Aufstellung des in der Anlage beigefügten MediCall Kostenblattes und können diesem entnommen werden. 4. In wie vielen der für die Ausländerbehörde im Rahmen einer geplanten Abschiebung von R.L. erstellten Gutachten wurde die begutachtete Person für reisefähig erklärt? (Bitte aufschlüsseln nach Jahren) Zu 4.: Herr L. hat im Rahmen seiner Tätigkeiten für die Polizei Berlin keine Gutachten erstellt. Eine statisti- sche Erfassung im Sinne der Fragestellung erfolgt nicht. Es wird auf die Beantwortung der Frage 3 verwiesen. 5. Bei wie vielen Abschiebungen hat R. L. die Perso- nen während des Fluges begleitet und wie wurde er hier- für vergütet? Zu 5.: Es wird auf die Beantwortung der Frage 3 ver- wiesen. 6. Welche psychologische Expertise hat R. L. zur Begutachtung von psychischen Abschiebehindernissen nachgewiesen? Zu 6.: Es wird auf die Beantwortung der Frage 2 ver- wiesen. 7. Trifft es zu, dass die Berliner Ausländerbehörde zur Vorbereitung einer Direktabschiebung den Anschein erweckte, bei einem Vorsprachetermin in der Behörde eine Duldung prüfen zu wollen, um in Wahrheit nur eine bereits Wochen zuvor geplante Abschiebung durchzuset- zen, für die der Flug schon zuvor gebucht war? In wie vielen Fällen wurde so vorgegangen? Zu 7.: Die Ausländerbehörde ist rechtlich dazu ver- pflichtet, vollziehbar ausreisepflichtige Ausländerinnen bzw. Ausländer abzuschieben. Die Betroffenen wissen um ihre vollziehbare Ausreisepflicht und haben in der Regel ausreichend Zeit und Gelegenheit, vor einer Rückführung freiwillig auszureisen. Sofern die Ausländerbehörde auf- grund des Verhaltens oder des Vortrages der Betroffenen davon ausgehen muss, dass eine freiwillige Ausreise nicht erfolgen wird, werden aufenthaltsbeendende Maßnahmen vorbereitet. Hierzu gehören die Buchung eines Fluges, erforderlichenfalls die Bereitstellung einer ärztlichen Begleitung und die Organisation der Festnahme am Ab- schiebungstag. Die Festnahme erfolgt in der Regel unter der Meldeanschrift der Betroffenen. Wenn die Betroffe- nen nicht gemeldet sind oder bekannt ist, dass sie sich unter der Meldeadresse nicht aufhalten, kommt die Fest- nahme in den Räumlichkeiten der Ausländerbehörde in Betracht. So verhielt es sich auch im vom Verwaltungsgericht Berlin kritisierten Einzelfall. Die Betroffene war bereits seit erfolglosem Abschluss des einstweiligen Rechts- schutzverfahrens im Jahr 2011 vollziehbar ausreisepflich- tig. Zwei geplante Abschiebungen konnten nicht durchge- führt werden, weil die Betroffene unter ihrer Meldean- schrift nicht wohnhaft war. Zum Zeitpunkt ihrer letzten Vorsprache bei der Ausländerbehörde war sie im Besitz einer Grenzübertrittsbescheinigung. In dieser wurde aus- drücklich darauf hingewiesen, dass die ausgestellte Be- scheinigung keine Ausreisefristverlängerung darstellt und die Betroffene bei Vorliegen der Abschiebungsvorausset- zungen jederzeit – also auch vor dem genannten Vorsprachetermin – abgeschoben werden kann. Anders als noch die vorherige Ladung zum 10. November 2014 enthielt die Ladung zum 15. Dezember 2014 nicht den Hinweis, dass eine Festnahme nicht geplant sei. Darüber hinaus war der Betroffenen bekannt, dass die bis dato vorgeleg- ten Atteste nicht als ausreichend angesehen wurden, eine Reiseunfähigkeit zu belegen. Da sie am 15. Dezember 2014 kein weiteres Attest vorlegen konnte, musste sie in Betracht ziehen, dass es an diesem Tag zu einer Festnah- me und der Durchsetzung der Ausreisepflicht kommen könnte. Die Ausländerbehörde hat keinen falschen An- schein erweckt. Auch die 24. Kammer des Verwaltungsgerichts Berlin stützt die Feststellung der Rechtswidrigkeit der Abschie- bung nicht darauf, dass die Festnahme im Zusammenhang mit der Vorsprache erfolgt ist. Rechtlich tragend ist der Umstand, dass die Bekanntgabe der Ablehnung des Dul- dungsantrags am Tag der Abschiebung es der Klägerin unmöglich gemacht habe, diese Entscheidung gerichtlich noch in einem Eilverfahren überprüfen zu lassen. 8. Trifft es zu, dass die Berliner Ausländerbehörde bewusst das grundgesetzlich verbürgte rechtliche Gehör ausgehebelt hat, indem sie wie unter 7. beschrieben abge- schoben hat? Abgeordnetenhaus Berlin – 17. Wahlperiode Drucksache 17 / 15 957 3 Zu 8.: Der Grundsatz des rechtlichen Gehörs wurde durch die Ausländerbehörde Berlin nicht bewusst verletzt. Da die Betroffene am 15. Dezember 2014 keine weiteren Atteste vorlegen konnte und ihr bekannt war, dass die bislang vorgelegten Atteste nach Auffassung der Berliner Ausländerbehörde nicht ausreichten, um eine Reise- oder Flugunfähigkeit zu begründen, konnte sie nicht mit einer anders lautenden Entscheidung rechnen. Ein Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz hätte deshalb vorbereitet und gestellt werden können. Zutreffend ist allerdings, dass eine frühere, von dem Abschiebungsvollzug zeitlich los- gelöste Duldungsversagung dem Gebot effektiven Rechtsschutzes besser Rechnung getragen hätte. 9. Wie bewertet der Senat die Auffassung des Ge- richts, dass für R. L. als Arzt eine unzulässige Interessen- verquickung dergestalt vorlag, dass er das Honorar in Höhe von 900 EUR nur erhielt, wenn er die Person für flugtauglich erklärte und insoweit als Gutachter "un- brauchbar" war? Zu 9.: Anlässlich der Entscheidung der 24. Kammer des Verwaltungsgerichts Berlin wird derzeit geprüft, ob es sinnvoll erscheint, die Überprüfung der Reisefähigkeit und die Flugbegleitung künftig schon zur Vermeidung des bloßen Anscheins einer Interessenkollision personell strikt zu trennen. Grundsätzlich ist jedoch davon auszugehen, dass Ärz- tinnen und Ärzte schon aufgrund der Berufsethik objekti- ve medizinische Feststellungen treffen. Dieses Vertrauen wird Ärztinnen und Ärzten auch generell im öffentlichen Leben entgegengebracht und nicht allein deshalb in Frage gestellt, weil sie auch wirtschaftlichen Zwängen unter- worfen sind. So wird ein ärztlicher Befund im Allgemei- nen nicht allein deswegen in Frage gestellt, weil eine Ärztin oder ein Arzt einen aus ihrer/seiner Sicht gebote- nen operativen Eingriff selbst vornimmt. Die ärztliche Begleitung nach vorheriger Feststellung der Flug- und Reisefähigkeit begründet nach Auffassung des Senats für sich genommen keine Zweifel an der Ob- jektivität der Beurteilung. Sowohl die beauftragenden Behörden als auch die beauftragten Ärztinnen und Ärzte haben ein überragendes Interesse daran, dass es im Ver- lauf des Abschiebungsvollzugs nicht zu gesundheitlichen Komplikationen kommt und gesundheitliche Risiken so weit wie möglich ausgeschlossen werden. Dieses Ziel kann nur durch eine objektive medizinische Beurteilung erreicht werden. Es ist daher nicht unüblich, eine Ärztin bzw. einen Arzt, die / der mit dem vorgetragenen Krank- heitsbild bereits vertraut ist, auch die Flugbegleitung durchführen zu lassen. Darüber hinaus wird die Unabhängigkeit der ärztli- chen Begutachtung durch die Gestaltung der Honorarver- einbarungen abgesichert. Bei einem Abbruch der Maß- nahme im unmittelbaren Vorfeld besteht ein Anspruch auf die volle Vergütung für die Flugbegleitung, bei einer Stornierung innerhalb von 48 Stunden wird eine Teilver- gütung fällig. Die genauen Beträge sind dem beigefügten MediCall Kostenblatt zu entnehmen. Auf diese Weise ist gewährleistet, dass die begleitende Ärztin bzw. der be- gleitende Arzt die Maßnahme insbesondere bei im Ab- schiebungsvollzug eintretenden unvorhersehbaren ge- sundheitlichen Komplikationen ohne jegliche wirtschaft- lichen Nachteile beenden kann. 10. Ist dem Senat bekannt, ob R. L. überhaupt als Arzt zugelassen ist und wann wurde diese Frage erstmalig bzw. wiederholt geprüft? 11. Beabsichtigt der Senat, R. L. weiter als Sachver- ständigen für die Ausländerbehörde bzw. Polizei einzu- setzen? Zu 10. und 11.: Herr L. war bereits als Blutentnahme- arzt tätig, als dieser Dienst noch durch die Kassenärztli- che Vereinigung Berlin vertraglich wahrgenommen wur- de. Seine Approbation, das heißt die staatliche Zulassung zur selbständigen und eigenverantwortlichen Ausübung des Berufes, lag bereits während der Tätigkeiten für die Kassenärztliche Vereinigung vor. Nach Beendigung des Vertrags zwischen Polizei und Kassenärztlicher Vereini- gung wurden die bis dato für die Kassenärztliche Vereini- gung tätigen Ärztinnen und Ärzte auf Honorarbasis für die Polizei eingesetzt. Da die Approbation Herrn L. bei der Kassenärztlichen Vereinigung vorlag, war eine erneu- te Überprüfung nicht erforderlich. Im Dezember 2014 wurde Herr L. im Rahmen einer Verfahrensangleichung mit der Bundespolizei von der Polizei Berlin aufgefordert, seine Approbationsurkunde vorzulegen. Im Februar dieses Jahres wurde von der Ärztekammer Berlin auf Anforderung der Ausländerbehörde Berlin eine Kopie der Approbationsurkunde übersandt. Da Herr L. angeforderte Unterlagen nicht übersandt hat, ist davon auszugehen, dass er für eine weitere Zu- sammenarbeit mit der Polizei Berlin nicht mehr zur Ver- fügung steht. Vor diesem Hintergrund wird Herr L. seit diesem Jahr nicht mehr durch die Polizei Berlin einge- setzt. Berlin, den 29. April 2015 In Vertretung Bernd Krömer Senatsverwaltung für Inneres und Sport (Eingang beim Abgeordnetenhaus am 05. Mai 2015)