Drucksache 17 / 15 959 Schriftliche Anfrage 17. Wahlperiode Schriftliche Anfrage des Abgeordneten Martin Delius (PIRATEN) vom 13. April 2015 (Eingang beim Abgeordnetenhaus am 14. April 2015) und Antwort Gendergerechtigkeit in der Schule und im Unterricht – Ein Thema für den Senat? Die Drucksachen des Abgeordnetenhauses sind bei der Kulturbuch-Verlag GmbH zu beziehen. Hausanschrift: Sprosserweg 3, 12351 Berlin-Buckow · Postanschrift: Postfach 47 04 49, 12313 Berlin, Telefon: 6 61 84 84; Telefax: 6 61 78 28. Im Namen des Senats von Berlin beantworte ich Ihre Schriftliche Anfrage wie folgt: 1. Gemäß § 4 Abs. 2 SchulG soll jede Schule in Berlin so gestaltet werden, dass unabhängig von den Lernaus- gangslagen der Schüler*innen Chancengleichheit herge- stellt wird. Dabei soll das Prinzip des Gender Mainstreamings berücksichtigt werden. Welche konkreten Maßnahmen hat der Senat seit 2009 konzipiert und umge- setzt, um an Berliner Schulen eine geschlechtergerechte und diskriminierungsfreie Schul- und Unterrichtskultur zu fördern? 2. In der Antwort auf die Fragen 4a und 4b in der Schriftlichen Anfrage 17/14664 schreibt der Senat, dass im Rahmen der Weiterentwicklung des Gleichstellungs- politischen Rahmenprogramms es zukünftig darum gehen würde, die Genderkompetenz in den Schulen zu erhöhen und die Schulen stärker zu befähigen, den Auftrag zur Umsetzung des Gender-Mainstreaming-Prinzips umzuset- zen. Was ist diesbezüglich bisher konkret geschehen, um dieses Ziel zu verfolgen? a) Was ist konkret bis wann geplant? Zu 1. und 2.: Im neuen Lehrkräftebildungsgesetz, res- pektive der zugehörigen Verordnung, ist Gender/Ge- schlecht eine Vielfaltskategorie, die bei der Ausbildung der Lehrkräfte verbindlich zu berücksichtigen ist. Der Handlungsrahmen Schulqualität wurde im Jahr 2013 neu gefasst und enthält einen eigenen Abschnitt mit Indikato- ren zu Gender Mainstreaming. Weitre diskriminierungsre- levante Aspekte finden sich u.a. im Abschnitt zu Demo- kratiepädagogik. Im neuen Rahmenlehrplan 1 - 10 ist ebenfalls ein eigenes übergreifendes Thema „Gleichstellung / Gender Mainstreaming“ aufgenommen worden. Im gerade beschlossenen „Landeskonzept zur Berufs-und Studienorientierung“ nehmen die Themen Chancengleichheit , Geschlechtergerechtigkeit, Barriere- und Dis- kriminierungsfreiheit einen äußerst hohen Stellenwert ein. Dies drückt sich bereits in den Leitlinien aus. Auch in den Jahren seit 2009 wurde in Berlin der Mädchen-Zukunftstag - Girls‘ Day und seit 2011 auch der Jungen-Zukunftstag - Boys‘ Day durchgeführt. Seit 2009 wird der Helga-Moericke-Preis für soziales Lernen in einer demokratischen Schule an Schulen vergeben. Dar- über hinaus wird aktuell eine Kooperationsvereinbarung mit einem Maßnahmenplan zwischen den Senatsverwal- tungen für Bildung, Jugend und Wissenschaft und für Arbeit, Integration, Frauen zur Umsetzung des Gleichstel- lungspolitischen Rahmenprogramms erarbeitet. Im kom- menden Schuljahr wird u. a. eine Orientierungshilfe für Lehrkräfte zu diversitysensiblem Unterricht beauftragt. 3. An wie vielen und welchen konkreten Fortbil- dungsangeboten zum Thema Gendergerechtigkeit in der Schule und im Unterricht haben seit 2009 wie viele Berli- ner Lehrer*innen bisher teilgenommen? Zu 3.: Das Thema „Gender“ ist als fachübergreifendes Anliegen immanenter Bestandteil aller Fortbildungs- und Beratungsangebote der regionalen Fortbildung, so wie andere übergreifende Themen wie interkulturelle Bildung, Bildung für nachhaltige Entwicklung, demokratische Schulkultur, Umgang mit Vielfalt auch. Insofern werden keine Angebote zu diesen Themen a priori offeriert, son- dern nur explizite Nachfragen in diesem speziellen Thema bedient. Seit dem Schuljahr 2009/10 gab es insgesamt 5 Ver- anstaltungen mit insgesamt 46 Teilnehmenden (die Teil- nehmenden an einem thematischen Fachtag wurden nicht erfasst). Auch die zahlreichen Fortbildungen zu sexueller und geschlechtlicher Vielfalt, die seit dem Schuljahr 2010/11 durchgeführt werden, gehören zum Themenkreis. 4. An wie vielen welchen konkreten Fortbildungsan- geboten zum Thema Gendergerechtigkeit in der Schule und im Unterricht haben seit 2009 wie viele Berliner Schulleiter*innen bisher teilgenommen? Abgeordnetenhaus Berlin – 17. Wahlperiode Drucksache 17 / 15 959 2 Zu 4.: Die Qualifikation der Schulleiterinnen und Schulleiter obliegt dem Landesamt für Schule und Medi- en Berlin-Brandenburg. Dort wurden seit 2009 vier Ver- anstaltungen zu "Diversity" durchgeführt. Daran nahmen 28 Berliner Schulleiterinnen und Schulleiter teil. Im Be- reich berufliche und zentralverwaltete Schulen gab es 2014 zudem ein Fortbildungsmodul für an Schulleitung Interessierte zum Thema sexuelle und geschlechtliche Vielfalt mit 20 Teilnehmenden. 5. Auf der S. 11 des aktuell gültigen Rahmenlehrplans für das Fach Mathematik (Grundschule) ist eine Empfeh- lung für Lehrkräfte zu finden, ein geschlechterbezogener Unterricht ließe sich auf der Ebene der Unterrichtsinhalte, der ausgewählten Lehr- und Lernmittel und durch ge- schlechtshomogene Gruppen realisieren. In der Anhö- rungsfassung des neuen Rahmenlehrplans für die Primar- und die Sekundarstufe I, im Teil C, im Fach Mathematik ist auf der S. 3 die Aussage zu finden, dass bei der Aus- wahl von Verknüpfungen der Unterrichtsinhalte mit der realen Welt die verschiedenen Interessen von Jungen und Mädchen berücksichtigt werden sollen. Im Teil B, im Kapitel 3.10. („Umgang mit Vielfalt“) ist die Rede von „Stärken“ und „Schwächen“ der Geschlechter. a) Stimmt der Senat darin überein, dass diese Aussa- gen geschlechtsspezifische Prädestinationen suggerieren, individuelle Lernausgangslagen von Schüler*innen ver- nachlässigen und als problematisch einzustufen sind? b) Wenn ja, hält der Senat solche Aussagen und Emp- fehlungen für kritik- und reformbedürftig? c) Wenn nein, wie soll aus der Sicht des Senats mit dieser Empfehlung Geschlechtergerechtigkeit hergestellt und so § 4 Abs. 2 SchulG umgesetzt werden? Zu 5.: Die genannten Passagen sind auch Diskussi- onsgegenstand im gerade beendeten Anhörungsverfahren zum neuen Rahmenlehrplan 1-10 gewesen und werden nun im Rahmen der Überarbeitung bewertet. Dabei wird auf die Hervorhebung von Differenzen verzichtet und es werden nach Möglichkeit Formulierungen bevorzugt, die geschlechterdichotome Sichtweisen erweitern. 6. Welche konkreten Gründe rechtfertigen einen ge- schlechtergetrennten Unterricht nach § 4 Abs. 9 Satz 2 SchulG? a) An welchen Schulen und in welchen Bezirken wer- den mit welchen Begründungen welche Unterrichtsfächer getrennt nach Geschlechtern angeboten? b) Welchen Beitrag leistet ein geschlechtergetrennter Unterricht für die Chancengleichheit der Geschlechter? c) Stimmt der Senat darin überein, dass ein geschlech- tergetrennter Unterricht dem Prinzip Gender- Mainstreaming widerspricht? Wenn nein, warum nicht? Zu 6.: Dem Senat liegen keine Erkenntnisse vor, an welchen Schulen geschlechtergetrennter Unterricht ange- boten wird. Das pädagogische Konzept einer Schule kann zeitweise, also stunden-, fach- oder jahrgangsbezogen nicht koedukativen Unterricht ermöglichen. Das Berliner Oberverwaltungsgericht hat zudem am 18. September 2013 beschlossen, dass es keinen Rechtsanspruch auf Koedukation gibt (OVG 3 S 52.13). Aktuelle Studien zeigen jedoch, dass geschlechtsspezifische Förderkonzep- te Stereotype eher noch verstärken können. Positive Bei- spiele in der Berufsorientierung sind der Girls' Day und der Boys' Day, die zeigen, dass Mädchen bzw. Jungen ohne Beteiligung des jeweils anderen Geschlechts mehr Freiraum zur Entfaltung ihrer eigenen Fähigkeiten und Interessen haben und eine besondere Unterstützung för- derlich ist. Gender Mainstreaming schließt die spezifische Förderung von Mädchen und Jungen zur Erweiterung ihres eigenen Potenzials und zur Überwindung einschrän- kender Geschlechterstereotypen ein. Ziel eines auf Inklu- sion ausgerichteten Unterrichts sollten pädagogische Fachkräfte mit Qualifikationen in den Kompetenzberei- chen Gender und Diversity sein, die die Bildungsprozesse gleichstellungsorientiert steuern können, wozu auch ein gezielt eingesetzter geschlechterreflektierter Unterricht in getrennten Gruppen gehören kann. Insofern stimmt der Senat der Aussage unter c) nicht zu. 7. Auf welcher rechtlichen Grundlage ist es gestattet, im koedukativen Unterricht geschlechtergetrennte Bewer- tungskriterien heranzuziehen, um Schüler*innen bei glei- cher Leistung unterschiedlich zu benoten? a) Wie werden von wem geschlechtergetrennte Be- wertungskriterien pädagogisch gerechtfertigt? b) Welchen Beitrag leisten geschlechtergetrennte Be- wertungskriterien für die Chancengleichheit der Ge- schlechter? c) Stimmt der Senat darin überein, dass geschlechter- getrennte Bewertungskriterien dem Prinzip Gender- Mainstreaming widersprechen? Wenn nein, warum nicht? Zu 7.: Grundsätzlich gibt es keine rechtliche Grundla- ge für eine geschlechtergetrennte Bewertung in der Schu- le - mit Ausnahme des Sportunterrichts. Die Grundsätze der Leistungsbeurteilung werden in den jeweiligen Ver- ordnungen der Schulstufen beschrieben (Grundschulver- ordnung, Sekundarstufe I-Verordnung). Deshalb ist es an den Berliner Schulen gängige Praxis, dass weitere Grundsätze zur Leistungsbeurteilung die Gesamtkonfe- renz auf Vorschlag der Fachkonferenz beschließt. Für die Fachkonferenz dienen als Vorlagen u.a. die deutschland- weit verbindlichen Bewertungstabellen der Bundesju- gendspiele und des Deutschen Sportabzeichens. In diesen Bewertungstabellen werden gleiche Leistungen von Mäd- chen und Jungen unterschiedlich bewertet. Zu 7. a) – c).: Im Bereich Schulsport und besonders auch im Sportunterricht spielen die körperlichen Voraus- setzungen in der individuellen Bewegungs- und Belas- tungsschulung eine entscheidende Rolle. Während in den Klassen 1 bis 3 noch von einer annähernd gleichen kör- perlichen Entwicklung zwischen Mädchen und Jungen ausgegangen wird, setzt in Klasse 4, aber besonders in Klasse 5 und 6 eine deutlich differenziertere Entwicklung ein. So gibt es auch bei der Bewertung und Zensierung von Leistungen im Fach Sport im Unterschied zu anderen Fächern unterschiedliche Normen für Mädchen und Jun- gen. Hinzu kommt noch, dass unterschiedliche Bewe- Abgeordnetenhaus Berlin – 17. Wahlperiode Drucksache 17 / 15 959 3 gungsanforderungen an Jungen und Mädchen, u.a. auch durch Geräte, Strecken, Spielzeiten wiederum eine unter- schiedliche Belastungsgestaltung und Technikschulung nach sich ziehen. Sportunterricht soll möglich in viele Bewegungsfelder einführen und Motivation zum Sport- treiben erzeugen. Hierbei sind natürlich auch die Interes- sen der Schülerinnen und Schüler zu berücksichtigen, die hinsichtlich der vorhandenen Sport- und Bewegungswelt vielfach unterschiedlich ausgeprägt sind. Erst über geschlechtsgetrennte Bewertungskriterien im Sportunterricht wird eine Chancengleichheit der Ge- schlechter auf diesem Gebiet hergestellt. Geschlechterge- trennte Bewertungskriterien im Schulsport widersprechen aus den dargestellten Gründen nicht dem Prinzip Gender- Mainstreaming, weil damit erst die geforderte Chancen- gleichheit umsetzbar ist. Berlin, den 24. April 2015 In Vertretung Mark Rackles Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Wissenschaft (Eingang beim Abgeordnetenhaus am 30. Apr. 2015)