Drucksache 17 / 16 002 Schriftliche Anfrage 17. Wahlperiode Schriftliche Anfrage des Abgeordneten Dr. Klaus Lederer (LINKE) vom 15. April 2015 (Eingang beim Abgeordnetenhaus am 16. April 2015) und Antwort Justizvollzug: Organisationsuntersuchungen, Personalbemessung und Auswirkungen Die Drucksachen des Abgeordnetenhauses sind bei der Kulturbuch-Verlag GmbH zu beziehen. Hausanschrift: Sprosserweg 3, 12351 Berlin-Buckow · Postanschrift: Postfach 47 04 49, 12313 Berlin, Telefon: 6 61 84 84; Telefax: 6 61 78 28. Im Namen des Senats von Berlin beantworte ich Ihre Schriftliche Anfrage wie folgt: 1. Welche Einrichtungen des Berliner Justizvollzuges sind im Rahmen von Organisationsuntersuchungen bis- lang evaluiert worden, wann ist dies jeweils geschehen und welche Ergebnisse liegen bislang vor? 2. Wer hat diese Organisationsuntersuchungen jeweils vorgenommen, was war der konkrete Gegenstand und welche Methodik wurde den Untersuchungen zugrunde gelegt? 5. In welchem Zusammenhang stehen die Ergebnisse der jeweiligen Organisationsuntersuchungen zu den ge- genwärtig zu erstellenden Dienstkräfteanmeldungen für die Doppelhaushaltserarbeitung 2016/17? Zu 1., 2. und 5.: Seit Anfang 2013 wurden die Justiz- vollzugsanstalten (JVA’en) jeweils ein halbes Jahr durch eine unter Federführung der Senatsverwaltung für Justiz und Verbraucherschutz eingerichtete Expertengruppe, die sich aus Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der JVA‘en und der Senatsverwaltung für Justiz und Verbraucher- schutz zusammensetzte, mit dem Ziel betrachtet, ver- gleichbare Organisationsstrukturen zu schaffen und einen aufgabenorientierten und effizienten Personaleinsatz sicherzustellen. Unter diesen Aspekten ist es gelungen, bis zum Jah- resende 2014 fünf JVA‘en zu betrachten: im ersten Halbjahr 2013 die Jugendstrafanstalt Berlin (JSA) und die Jugendarrestanstalt (JAA), im zweiten Halbjahr 2013 die JVA für Frauen, im ersten Halbjahr 2014 die JVA Moabit und im zweiten Halbjahr 2014 die JVA Tegel. In diesem Prozess sind in allen Bereichen dieser JVA‘en dezidiert Abläufe und Maßnahmen von der Expertengruppe mit den Fachleuten innerhalb der Behörden betrachtet wor- den. In Folge dessen wurden nach gleichen, sachgerech- ten und transparenten Kriterien Standards und Personal- bedarfe erarbeitet und festgelegt. Für die in den Jahren 2013 und 2014 betrachteten JVA‘en bzw. für die JAA liegen folgende Ergebnisse vor:  Organigramme für alle Bereiche der jeweiligen Behörde neu erstellt,  ein IT-gestütztes Planungsinstrument, in dem zur Berechnung des Personalbedarfes u. a. alle Dienst- postenkataloge abgebildet sind, wurde implemen- tiert,  Stellenplanentwurf - 2016/2017 - unter Beachtung der geltenden Stellenobergrenzen gefertigt. Die drei JVA‘en, die wegen Fusion (Offener Vollzug Berlin, JVA Plötzensee) sowie wegen Neueinrichtung (JVA Heidering) einen festgestellten Personalbedarf hat- ten, wurden aufgefordert, ihre Dienstkräfteanmeldungen 2016/2017 anhand der in den Organisationsbetrachtungen gesetzten Standards auszurichten und zu berechnen. So- mit sind die Ergebnisse der Organisationsbetrachtungen in Gänze in die Dienstkräfteanmeldung 2016/2017 einge- flossen. Dieses betrifft einen festgestellten Personalbedarf für den gesamten Berliner Justizvollzug in Höhe von 2.864 Vollzeitäquivalenten (VZÄ). 3. In welchem Rahmen, zu welchem Zeitpunkt und auf welche Weise sind die jeweiligen Ergebnisse der Organisationsuntersuchungen in den Einrichtungen selbst vorgestellt und diskutiert worden, inwieweit sind die Bediensteten zur Reflexion einbezogen worden und hatte dies ggf. Einfluss auf die Schlussfolgerungen? Zu 3.: Vor Beginn jeder Organisationsbetrachtung hat die Anstaltsleitung alle Beschäftigten mit einem Informa- tionsbrief über den anstehenden Prozess informiert. Während des Prozesses wurden - vgl. Antworten zu den Fragen 1, 2 und 5 - die Fachleute aus den jeweils betrachteten Organisationsbereichen zu den Besprechun- gen eingeladen. Diese haben ihre Bereiche nicht nur vor- gestellt und die Expertengruppe beraten, sondern wurden in den Beratungs- und Entscheidungsprozess mit einbezo- gen. Abgeordnetenhaus Berlin – 17. Wahlperiode Drucksache 17 / 16 002 2 Nach Erreichung der beiden Meilensteine „Festlegung der Organigramme“ und „Festlegung des Personalbedarfs “ wurden die Beschäftigten mit einem weiteren Informationsbrief und im Rahmen von Besprechungen sowie Versammlungen durch die Anstaltsleitung über die Ergebnisse informiert. Den Beschäftigtenvertretungen wurde vor Bekanntga- be der beiden Meilensteine die Gelegenheit gegeben die Ergebnisse zusammen mit der Expertengruppe zu erörtern und eigene Vorstellungen einzubringen. Weiterhin haben diese alle Unterlagen zu den Ergebnissen im Vorfeld erhalten. 4. Welche verallgemeinerbaren Schlussfolgerungen für die Organisation innerhalb der Einrichtungen des Justizvollzuges haben sich ggf. aus den Organisationsun- tersuchungen ergeben? Zu 4.: Das Ergebnis der Organisationsbetrachtungen spiegelt einen Personalbedarf wider, der den aktuellen Vollzugsstandards entspricht. Jede einzelne Leistung jeder einzelnen JVA ist nunmehr vergleichbar und nach- vollziehbar für alle JVA‘en hinterlegt. Der festgestellte Personalbedarf über den gesamten Berliner JVA von 2.864 VZÄ ist - wie oben beschrieben - mit der Dienst- kräfteanmeldung 2016/2017 in Mitteln und Stellen ange- meldet worden. Für den Gesamtprozess der Organisationsbetrachtun- gen ist festzuhalten, dass vollzugliche Standards, Leistun- gen und Qualitäten nicht verändert wurden, sondern die Organisationen ausschließlich anhand bestehender oder künftiger Aufgaben angepasst wurden. Eine Vergleich- barkeit der JVA‘en bzw. deren Bereiche herzustellen war z. B. wegen der Unterschiedlichkeit der Vollzugsarten, Baulichkeiten und Kulturen, oft schwierig. Auf Grund ihrer Komplexität sind darüber hinaus einzelne Bereiche auch zukünftig noch vertiefter zu betrachten (z. B. Be- schäftigung und Qualifizierung). Insgesamt konnte festge- stellt werden, dass auch vergleichbare Organisationsbe- reiche zum Teil personell sehr unterschiedlich ausgestattet waren. Es gab sowohl Über- als auch Unterausstattungen. Im Ergebnis wurden insbesondere die Aufbaustruktur einer JVA (Anstaltsleitung, Vollzugsleitung und Service mit ihren Stabsstellen) und die darunter liegenden Organi- sationseinheiten für alle JVA‘en in Übereinstimmung gebracht. Auch wurden Standards festgelegt, die auf alle JVA‘en übertragen wurden bzw. werden. So wurden z. B. die Aufgaben „Öffentlichkeitsarbeit“ und „Steuerungsdienst “ als Stabsaufgabe direkt bei der Anstaltsleitung angesiedelt; der Servicebereich in das sogenannte „4- Säulen-Modell“ (Personal, Finanzen, Gesundheitsorientiertes Personalmanagement, Innere Dienste) strukturiert; einheitliche Aufschlusszeiten am Wochenende und die Ausstattung für die Dienstplanung - 0,7 Dienstposten plus Vertreterschlüssel (Montag bis Freitag) pro 100 Beschäf- tigte (Allgemeiner Vollzugsdienst, Krankenpflegedienst, Werkdienst) - festgelegt. Eine wesentliche Erkenntnis der Organisationsbe- trachtungen war, dass für den Justizvollzug ein zeitgemä- ßes Personalmanagement dringend erforderlich ist. Unter anderem müssen die Führungsspannen verkleinert wer- den. Bisher war eine Führungskraft im Allgemeinen Voll- zugsdienst teilweise für bis zu 100 Bedienstete zuständig. Durch die geplanten organisatorischen und den damit verbundenen personellen Veränderungen soll die Füh- rungsspanne zukünftig auf maximal 50 Bedienstete pro Führungskraft im Allgemeinen Vollzugsdienst verringert werden. Dies macht im Hinblick auf die Unternehmens- kultur, die abnehmende Mitarbeiterzufriedenheit und die sinkenden Gesundheitsquoten eine umfassende Neuaus- richtung notwendig. Auch hier ist ein Paradigmenwechsel von einer passiven Personalverwaltung hin zu einem aktiven Management der Ressource Personal erforderlich. Vordergründig richtet sich die umfassende Neuausrich- tung auf die Felder Gesundheitsmanagement und Perso- nalentwicklung und -führung. Um diese Strukturen ein- führen zu können, sind rund 27 Stellen angemeldet wor- den. Für Sicherheitsanforderungen sind im Rahmen der Organisationsbetrachtungen rund 50 zusätzliche Stellen anerkannt worden. Die Sicherheitslage in den JVA‘en ist von einer Zunahme schwieriger Gefangener, die hohe Sicherheitsanforderungen an die Mitarbeitenden stellen, geprägt. Beispielhaft sind die der organisierten Kriminali- tät zugehörigen sogenannten Rocker oder islamistische Gefangene zu nennen. Zudem hat die Aufarbeitung der Flucht von zwei Gefangenen aus der JVA Moabit gezeigt, dass die Anstrengungen zur Gewährleistung der Sicher- heit, insbesondere durch regelmäßige und unregelmäßige Kontrollen der Hafträume und aller Bereiche, in denen sich Gefangene aufhalten, zwingend verbessert werden müssen. Die jüngste Rechtsprechung des Kammergerichts verlangt zudem stark erweiterte Aufschlussmöglichkeiten für Straf- und Untersuchungsgefangene insbesondere in den JVA‘en Moabit und Tegel. Derartig tiefgreifende Änderungen im Vollzugsregime erfordern vor dem Hin- tergrund der baulichen Gegebenheiten deutlich verstärkte Personalpräsenz, um die sich außerhalb der Hafträume bewegenden Gefangenen hinreichend sicher überwachen zu können. Miteingeflossen in den Personalbedarf von 2.864 VZÄ ist der zusätzliche Personalbedarf von 22 Stellen für die Zentrale IT-Stelle der Berliner JVA‘en und der Sozialen Dienste der Justiz (ZIT). Der Ist-Zustand der ZIT wurde in einem umfangreichen Organisationsentwick- lungsprojekt mit externer IT-Fachberatung betrachtet. Eine Realisierung dieser Bedarfe dient nicht nur einer Verbesserung der Servicequalität und der Vermeidung von unnötigen Ausfällen und Störfällen. In etlichen Be- reichen der Basis-/Infrastrukturservices und Standard- dienste ist sie allein zur Vermeidung instabiler und riskan- ter Betriebssituationen dringend notwendig. Die Zukunftsfähigkeit des Justizvollzuges erfordert es, die Ausbildung von Nachwuchskräften im Justizvollzug sicherzustellen. Besonders die hohe Fluktuation im All- gemeinen Vollzugsdienst macht die Einberufung von bis Abgeordnetenhaus Berlin – 17. Wahlperiode Drucksache 17 / 16 002 3 zu fünf Ausbildungslehrgängen in den nächsten Jahren notwendig, um den Allgemeinen Vollzugsdienst weiterhin handlungsfähig auszustatten. Dieses insbesondere deswe- gen, da der Justizvollzug - auf Grund der beschlossenen Einsparquoten - zwei Jahre keinen Nachwuchs ausgebil- det hat. Um dem erhöhten Ausbildungsbedarf gerecht zu werden, muss die Bildungsstätte des Justizvollzuges (BJV) nicht nur wieder ihre personelle Ausstattung vor Aussetzen der Ausbildung erhalten, sondern auch im Bereich der hauptamtlichen Ausbildungsleiterinnen und Ausbildungsleiter aufstocken. Hierfür werden 5 weitere Stellen in der BJV benötigt. 6. Welche Veränderungen plant der Senat hinsichtlich der Personalbemessung in den jeweiligen Einrichtungen des Justizvollzuges bzw. grundsätzlich für den Berliner Justizvollzug perspektivisch in den Grundzügen? Zu 6.: Bereits bei der Fusion der JVA des Offenen Vollzuges und der JVA Plötzensee sowie bei Neueinrich- tung der JVA Heidering wurde das Personal der einzelnen Dienstgruppen im Allgemeinen Vollzugsdienst, Kranken- pflegedienst und im Werkdienst auf Grundlage der Jah- resnettoarbeitszeit von 1.504 Stunden pro Jahr pro Be- dienstete und Bediensteten berechnet. Die Jahresnettoar- beitszeit setzt sich aus den tatsächlichen Arbeitstagen zusammen. D. h. Ausfallzeiten wie z. B. Urlaub, Fortbil- dung und auch durchschnittliche Krankentage (13% = 27 Tage) werden hierbei berücksichtigt. Da grundsätzlich an 365 Tagen im Drei-Schicht-system gearbeitet wird, ergibt sich die Stellenausstattung (Dienstposten) aus den benöti- gen Jahresarbeitsstunden für 252 Tage (Montag bis Frei- tag) bzw. 113 Tagen (Samstag, Sonntag und Feiertag) unter Berücksichtigung eines entsprechenden Vertre- tungsschlüssels. Die Stellenausstattung für die übrigen Berufsgruppen erfolgte aufgrund einzelner Festlegungen, anhand der wahrzunehmenden Aufgabengebiete. Dieses war auch die Grundlage zur Festlegung des Personalbe- darfs im Rahmen der Organisationsbetrachtungen. Eine Veränderung der Berechnungsweise zur Perso- nalbedarfsbemessung ist nicht geplant. 7. Welche Auswirkungen haben die organisatorischen Veränderungen bzw. die geplante Entwicklung des Perso- nals auf die Arbeitssituation der Bediensteten in den je- weiligen Einrichtungen? Zu 7.: Die erarbeitete künftige Sollstruktur ab 01.01.2016 und die sich daraus ableitenden Mittelanmel- dungen sowie die personellen Mehr- oder Minderbedarfe aller JVA‘en sind in die Haushaltsplananmeldung 2016/2017 eingeflossen. Ob die Umsetzung aller oder einzelner Ergebnisse der Organisationsbetrachtungen möglich sein wird, ist abhän- gig davon, ob im Rahmen des Doppelhaushalts 2016/ 2017 die entsprechende Ausstattung (Mittel und Stellen) in den JVA‘en zur Verfügung stehen wird. Erst hiernach können die Auswirkungen betrachtet und bewertet wer- den. 8. Welche Auswirkungen haben die organisatorischen Veränderungen bzw. die geplante Organisations- und Personalentwicklung auf die Inhaftierten in den jeweili- gen Einrichtungen (Aufschlusszeiten, Besuchszeiten, Lockerungsmöglichkeiten, Arbeits- und Ausbildungs- möglichkeiten, Freizeitgestaltung, individuelle und Grup- penbetreuung zur Sicherung des Resozialisierungsauf- trags)? Zu 8.: Wie zu 4. berichtet, wurden vollzugliche Stan- dards, Leistungen und Qualitäten nicht verändert, sondern lediglich die Organisationen ausschließlich anhand beste- hender oder künftiger Aufgaben angepasst. So haben z. B. die erhöhten gerichtlichen Anforderungen an eine verfas- sungsgemäße Gestaltung der Straf- und Untersuchungs- haft Berücksichtigung gefunden. Weiterhin war, durch die Festlegung von einheitlichen Aufschlusszeiten am Wo- chenende und Feiertagen, die Aufschlusszeit an Wochen- enden und Feiertagen in der JSA auf acht Stunden anzu- passen. Zukünftig ist nicht auszuschließen, dass im Falle einer personellen Unterdeckung, bestimmte Leistungen der JVA‘en entsprechend angepasst werden müssen. Dies könnte dann auch einen Einfluss auf die Inhaftierten der jeweiligen Einrichtungen haben. Berlin, den 29. April 2015 In Vertretung Straßmeir Senatsverwaltung für Justiz und Verbraucherschutz (Eingang beim Abgeordnetenhaus am 04. Mai 2015)