Drucksache 17 / 16 016 Schriftliche Anfrage 17. Wahlperiode Schriftliche Anfrage der Abgeordneten Stefanie Remlinger (GRÜNE) vom 17. April 2015 (Eingang beim Abgeordnetenhaus am 20. April 2015) und Antwort Anerkennung der Dyskalkulie als Lernstörung Die Drucksachen des Abgeordnetenhauses sind bei der Kulturbuch-Verlag GmbH zu beziehen. Hausanschrift: Sprosserweg 3, 12351 Berlin-Buckow · Postanschrift: Postfach 47 04 49, 12313 Berlin, Telefon: 6 61 84 84; Telefax: 6 61 78 28. Im Namen des Senats von Berlin beantworte ich Ihre Schriftliche Anfrage wie folgt: 1. Inwiefern erkennt der Senat die Dyskalkulie ähn- lich der Legasthenie als Lernstörung an? Zu 1.: Der Senat erkennt Rechenstörungen als „besondere Schwierigkeiten im Rechnen“ gemäß der „Grundsätze zur Förderung von Schülerinnen und Schüler mit be- sonderen Schwierigkeiten im Lesen und Rechtschreiben oder im Rechnen“ (Beschluss der Kultusministerkonferenz vom 04.12.2003 i. d. F. vom 15.11.2007) als Teil- leistungsstörung an und regelt den Umgang damit in § 16 Abs. 10 der Grundschulverordnung und in den Ausfüh- rungsvorschriften zur besonderen Förderung bei Schwie- rigkeiten im Rechnen (AV Rechenstörungen) vom 16.01.2014. Der häufig als vermeintliches Synonym für Rechen- störungen verwendete Begriff Dyskalkulie suggeriert das Vorhandensein einer Störung mit Krankheitswert. Die Forschungslage bezüglich klarer Diagnose und möglichen Therapien wird jedoch nicht als fundiert genug einge- schätzt, um den Begriff Dyskalkulie in diesem Kontext zu verwenden (siehe auch Antwort zu Frage 9). 2. Welche weiteren Lernstörungen und –schwächen werden vom Senat anerkannt und auf welche Weise wer- den betroffene Kinder gefördert? Zu 2.: Weitere Lernstörungen werden nicht anerkannt. 3. Über welches Verfahren wird die Dyskalkulie bei Kindern festgestellt? Zu 3.: Die Voraussetzung für die Feststellung beson- derer Schwierigkeiten beim Rechnen ist ein fundiertes Wissen über die Denkprozesse und Lösungsstrategien der Kinder beim Erlernen des Rechnens. Diese erschließen sich vor allem aus der Beobachtung von Herangehenswei- sen an mathematische Aufgaben in Lernsituationen und aus Befragungen der Kinder zu ihrer jeweiligen Vorge- hensweise beim Lösen von Rechenaufgaben. Die das Fach Mathematik in der Primarstufe unterrichtende Lehr- kraft ist diejenige, die Hinweise auf mögliche Schwierig- keiten feststellt. Sie berücksichtigt dabei die laufenden Beobachtungen individueller Lernprozesse und den Kom- petenzzuwachs der Schülerinnen und Schüler. Die Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Wis- senschaft hat drei Instrumente in die Grundschulen ge- bracht, die die frühzeitige, prozessbegleitende Diagnose und Förderung der mathematischen Fähigkeiten zum Ziel haben: - „LauBe (Lernausgangslage Berlin)“, einem Testheft zur Erfassung der Lernausgangslage von Schulanfängerinnen und Schulanfängern in den Bereichen Sprache und Mathematik, - die Lerndokumentation Mathematik für die Kita und die Schulanfangsphase und - die Kartei „Auf dem Weg zum denkenden Rechnen “. Es können aber ggf. auch andere geeignete Diagnose- verfahren genutzt werden. Allerdings sind so genannte Etikettierungstests, mit denen sich besondere Schwierig- keiten beim Rechnen oder gar eine Dyskalkulie diagnosti- zieren ließen, unter den Fachdidaktikern und anderen Fachleuten sehr umstritten. Es gibt keinen Test, der bzgl. „schlecht in Mathematik“ und „rechengestört“ trennscharf wäre. 4. Welche Fördermaßnahmen und Unterstützungs- leistungen sind für betroffene Kinder vorgesehen und wie schätzt der Senat ihren Erfolg ein? Zu 4.: Die Maßnahmen sind in den AV Rechenstörun- gen vom 16.01.2014 geregelt. Ergeben sich deutliche Hinweise auf eine Rechenstörung, ist zuerst eine spezielle schulische Förderung zu gewährleisten. Dies geschieht in der Regel in temporären Lerngruppen, auch parallel zum Regelunterricht. Über die Inhaltsfelder der besonderen Abgeordnetenhaus Berlin – 17. Wahlperiode Drucksache 17 / 16 016 2 schulischen Förderung entscheidet die unterrichtende Lehrkraft nach der Diagnose der Schwierigkeiten und legt diese in einem individuellen Förderplan fest. Dabei ent- scheidet die Schulleitung auf Vorschlag der Klassenkon- ferenz über Art, Umfang und Dauer dieser Förderung. Darüber hinaus können Schülerinnen und Schülern mit festgestellter Rechenstörung durch weitere Maßnah- men bei der Leistungserhebung und der Leistungsbewer- tung Unterstützung erhalten. Bei schriftlichen Lerner- folgskontrollen im Fach Mathematik kann auf der Grund- lage des individuellen Förderplans ein Nachteilsausgleich (nur 3 und 4 Klasse) gewährt werden. Dabei kommen vorrangig in Betracht: - Verlängerung der Bearbeitungszeit um bis zu 25 %, - qualitativ und quantitativ differenzierte Aufgaben- stellungen, - Einsatz didaktisch-methodischer Hilfsmittel. Die Schulleiterin oder der Schulleiter kann auf Vor- schlag der Lehrkraft außerdem in den Jahrgangsstufen 3 und 4 die Benotung im Fach Mathematik für das jeweilige Schuljahr aussetzen, wenn die Schülerin oder der Schüler regelmäßig an Maßnahmen der speziellen Förderung teilnimmt. In besonders schwierigen Fällen, in denen Schülerin- nen und Schüler trotz Durchführung der Fördermaßnah- men nicht geholfen werden kann, und die Schwierigkeiten im Rechnen sich zu einer gravierenden Rechenstörung entwickeln, können die Sorgeberechtigten des Kindes beim zuständigen Jugendamt einen Antrag auf eine Integ- rative Lerntherapie nach § 35 a SGB VIII im Rahmen einer Eingliederungshilfe für seelisch behinderte Kinder und Jugendliche (außerschulische Förderung) stellen; siehe auch Antwort zu den Fragen 12 und 13. Der fachdi- agnostische Dienst, im o. g. Falle meist der Schulpsycho- logische Dienst, erstellt eine fachdiagnostische Stellung- nahme Die Senatsverwaltung für Bildung hält diesen Maß- nahmenkatalog für ausgewogen und zielführend. 5. Wie viele Kinder nahmen seit 2011 an diesen För- dermaßnahmen teil? (Bitte nach Bezirken aufschlüsseln) Zu 5.: Diese Daten werden nicht zentral erfasst. 6. Inwiefern erfolgt nach dem Abschluss der Förde- rung eine Evaluation über den Erfolg der Maßnahmen? Zu 6.: Effekte schulischer Fördermaßnahmen werden von den unterrichtenden Lehrkräften kontinuierlich ermit- telt und ausgewertet. Eine Förderung findet dann ihren Abschluss, wenn die jeweiligen Förderziele erreicht wur- den. 7. Sind dem Senat Schulen bzw. Schulleitungen be- kannt, die sich in besonderer Weise mit Themen wie Dyslexie und Dyskalkulie auseinandersetzen und entspre- chend gute Kenntnisse über Fördermaßnahmen für diese Kinder besitzen? Zu 7.: Die Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Wissenschaft geht davon aus, dass jede Grundschule gemäß der in § 16 der Grundschulverordnung sowie der in den AV Rechenstörungen vorgesehene Regelungen entsprechende Fördermaßnahmen konzipiert, veranlasst und ihren Erfolg auswertet und dokumentiert sowie im Bedarfsfall externe Unterstützungs- und Beratungsange- bote einbezieht. 8. Wie erklärt der Senat fachlich die widersprüchli- che Situation, dass eine Berücksichtigung und Förderung der Betroffenen bis zur 4. Klasse vorgesehen ist, danach jedoch nicht mehr, während die Legasthenie auch in spä- teren Jahrgangsstufen anerkannt wird? Zu 8.: Die Ausführungsvorschriften zur Förderung bei besonderen Schwierigkeiten im Rechnen (AV Rechenstö- rungen) gelten bis einschließlich Jahrgangsstufe 6, und damit auch die Berücksichtigung und Förderung der Schülerinnen und Schüler. Da besondere Schwierigkeiten im Rechnen in der Re- gel im Laufe der Schulanfangsphase, spätestens zum Ende des zweiten Schulbesuchsjahres diagnostiziert und in den Folgejahren durch entsprechende Förderung meist beho- ben werden können, knüpft Berlin mit der Möglichkeit des Aussetzens der Note in den Jahrgangsstufen 3 und 4 an die Vorgaben der KMK (s. o.) an. Das Aussetzen der Note hat allein den Zweck, den Erfolg der begleitenden intensiven Förderung, die an den individuellen Verständ- nisproblemen ansetzt, nicht durch demotivierende Noten zu beeinträchtigen. Ein Aussetzen der Note in den Jahr- gangsstufen 5 und 6 ist aus Gründen der Chancengleich- heit in Bezug auf den Übergang in die Schulen der Se- kundarstufe 1 nicht möglich. 9. Inwiefern hält der Senat diese Regelung in juristi- scher Hinsicht und in Anbetracht des Gleichbehandlungs- grundsatzes für haltbar? Zu 9.: Die Kultusministerkonferenz (KMK) weist in ihren „Grundsätzen zur Förderung von Schülerinnen und Schülern mit besonderen Schwierigkeiten im Lesen und Rechtschreiben oder im Rechnen“ (i. d. F. vom 15.11.2007) ausdrücklich darauf hin, dass ein Verzicht auf die Bewertung von Rechenleistung im Fach Mathe- matik und in den naturwissenschaftlichen Fächern nicht möglich ist. Bei einer Berücksichtigung von Rechenstö- rungen wäre eine Notengebung im Fach Mathematik ohne Verletzung des Grundsatzes einer vergleichbaren Leis- tungsbewertung nicht mehr möglich. Abgeordnetenhaus Berlin – 17. Wahlperiode Drucksache 17 / 16 016 3 Die Regelungen im Land Berlin stehen in Einklang mit der Rechtsprechung. Eine Gleichbehandlung ist recht- lich nicht geboten. Art und Umfang der Förderleistungen zu Lese- und Rechtschreibschwierigkeiten einerseits und Rechenstörungen andererseits unterscheiden sich sowohl im Rahmen des Nachteilsausgleichs als auch eines partiel- len Notenschutzes, weil eine Gleichsetzung beider Teil- leistungsschwächen nicht sachgerecht wäre. Bei Rechenstörungen scheiden gerade wegen der Be- achtung des Gleichbehandlungsgrundsatzes bestimmte Förderleistungen aus. Während Schülerinnen und Schüler mit einer Lese-Rechtschreibschwäche ihre fachbezogenen Kompetenzen und den kompetenten Umgang mit der Sprache durch mündliche Beiträge in den Unterricht ein- bringen können, ist eine vergleichbare Kompensation bei besonderen Schwierigkeiten im Rechnen im Fach Ma- thematik nicht möglich, weil Rechenleistungen konstitutiv für die Bewertung sind. 10. Wann und mit welcher Begründung ist die Finan- zierung von Lerntherapien durch die Krankenkassen ein- gestellt worden und inwiefern hält der Senat vor dem Hintergrund neuerer wissenschaftlicher Erkenntnisse etwa aus dem Bereich der Hirnforschung eine Neuaufnahme der Verhandlungen mit den Krankenkassen – ggf. auf Bundesebene – für sinnvoll und erfolgsversprechend? 11. Inwiefern hat der Senat nach Beendigung der För- derung durch die Krankenkassen die Finanzierung der Angebote übernommen – welche Änderungen und Rücknahmen gab es bei den Maßnahmen? Zu 10. und 11.: Aus Sicht der gesetzlichen Kranken- versicherung (GKV) ist Folgendes festzustellen: Gemäß § 92 Abs. 1 Satz 1 SGB V beschließt der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) die zur Sicherung der ärztlichen Versorgung erforderlichen Richtlinien über die Gewäh- rung für eine ausreichende, zweckmäßige und wirtschaft- liche Versorgung der Versicherten. Da die GKV aber nur für Leistungen bei Krankenbehandlungen zuständig ist und Teilleistungsstörungen wie Legasthenie oder Dyskal- kulie nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts aus dem Jahr 1979 keine Krankheiten i. S. d. Krankenver- sicherungsrechts sind (BSGE 48, 258, 264), nimmt der G- BA entsprechende Therapien nicht in den Leistungskata- log der GKV auf. Hier besteht kein Verhandlungsspiel- raum. Um Änderungen herbeizuführen, müsste der Bun- desgesetzgeber tätig werden. 12. Wie viele der Betroffenen erhalten Unterstützungs- leistungen nach §35a SGB VIII und über welches Verfah- ren und nach welche Kriterien wird ihr Anspruch festge- stellt? 13. Welcher Art sind die Leistungen und Maßnahmen nach dem SGB VIII für solcherart Betroffene und für welchen Zeitraum ist eine Inanspruchnahme möglich? Zu 12. und 13.: Im Rahmen der Eingliederungshilfe gemäß § 35a SGB VIII haben junge Menschen einen Rechtsanspruch auf eine Integrierte Lerntherapie (ILT), wenn ihre seelische Gesundheit mit hoher Wahrschein- lichkeit länger als sechs Monate vom alterstypischen Zustand abweicht und daher ihre Teilhabe am Leben der Gesellschaft beeinträchtigt ist. Die Notwendigkeit sowie Umfang und Dauer einer ILT wird im Rahmen der indivi- duellen Hilfeplanung gemäß den „Ausführungsschriften für Planung und Durchführung von Hilfe zur Erziehung und Eingliederungshilfe für seelisch behinderte Kinder und Jugendliche sowie Hilfe für junge Volljährige“ (AV Hilfeplanung) ermittelt. Bei Antrag zu einer ILT holt das Jugendamt zur Feststellung einer Lese- und Rechtschreib- störung oder Rechenstörung eine fachdiagnostische Stel- lungnahme ein, um auch prüfen zu können, ob durch die evtl. daraus resultierende seelische Behinderung die Teil- habe am Leben der Gesellschaft beeinträchtigt wird. Am Stichtag 31.12.2014 erhielten 1.972 junge Men- schen eine ILT nach § 35a SGB VIII. Eine Erfassung der Zahlen der ILT nach Art der Teilleistungsstörung erfolgt nicht. Berlin, den 04. Mai 2015 In Vertretung Mark Rackles Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Wissenschaft (Eingang beim Abgeordnetenhaus am 07. Mai 2015)