Drucksache 17 / 16 172 Schriftliche Anfrage 17. Wahlperiode Schriftliche Anfrage des Abgeordneten Hakan Taş (LINKE) vom 06. Mai 2015 (Eingang beim Abgeordnetenhaus am 08. Mai 2015) und Antwort Grundlagen und Praxis der Gefährderansprachen in Berlin Die Drucksachen des Abgeordnetenhauses sind bei der Kulturbuch-Verlag GmbH zu beziehen. Hausanschrift: Sprosserweg 3, 12351 Berlin-Buckow · Postanschrift: Postfach 47 04 49, 12313 Berlin, Telefon: 6 61 84 84; Telefax: 6 61 78 28. Im Namen des Senats von Berlin beantworte ich Ihre Schriftliche Anfrage wie folgt: 1. Welche Definition von „Gefährder“ legen die Berliner Polizei und der Verfassungsschutz ihrer Praxis der Gefährderansprachen und Gefährderanschreiben zugrunde und in welchen Gesetzen, Verordnungen, Dienstanwei- sungen und Vorschriften sind Definition und Praxis gere- gelt (bitte jeweils im Wortlaut anführen)? Zu 1.: Der Begriff des „Gefährders“ leitet sich aus den Regelungen des § 13 des Allgemeinen Gesetzes zum Schutz der öffentlichen Sicherheit und Ordnung in Berlin (ASOG Bln) ab und ist damit legaldefiniert. Die „Gefährderansprache “ oder das „Gefährderanschreiben“ finden ihre Rechtsgrundlage im § 17 ASOG. Hierbei handelt es sich um eine an keine Form gebundene, jeweils aber ein- zelfallbezogene Maßnahme, die einen mündlichen oder schriftlichen Appell an die Betroffene oder den Betroffe- nen darstellt, sich gesetzeskonform zu verhalten. Voraus- setzung für die „Gefährderansprache“ ist eine auf Tatsachen beruhende Prognose, dass eine Gefahr für die öffent- liche Sicherheit, namentlich durch das Begehen von Straf- taten, besteht. Für den Verfassungsschutz gibt es keine Gesetze, Verordnungen, Dienstanweisungen und Vorschriften, die die Definition und Praxis im Umgang mit „Gefährdern“ regeln. Natürlich sind Erkenntnisse zu Personen, bei de- nen Anhaltspunkte bestehen, dass sie politisch motivierte Straftaten von erheblicher Bedeutung begehen, auch für die Aufgabenerfüllung des Verfassungsschutzes relevant, soweit diese Ausdruck einer Bestrebung gegen die im § 5 Absatz 2 Verfassungsschutzgesetz Berlin (VSG Bln) genannten Schutzgüter sind. Daher erfolgt zu solchen Personen selbstverständlich ein Austausch zwischen Poli- zei und Verfassungsschutz. Der Begriff „Gefährder“ bleibt jedoch eine polizeiliche Kategorie. 2. In welchen Datenbanken und Dateien von Polizei und Verfassungsschutz des Landes werden Personen als „Gefährder“ erfasst und aus welchem Jahr stammt die jeweilige Datei-Errichtungsanordnung? Zu 2.: Die polizeiliche Maßnahme der Durchführung einer „Gefährderansprache“ wird im Polizeilichen Landesinformations - und Kommunikationssystem (POLIKS) mittels eines Tätigkeitsberichtes als sogenannter Anwen- dungsfall erfasst. Eine darüber hinausgehende Erfassung in Datenbanken oder sonstigen Dateien findet nicht statt. Die Errichtungsanordnung für POLIKS in der aktuell gültigen Fassung datiert auf den 27. April 2006. Eine Datenbank zur Erfassung von „Gefährdern“ wird beim Berliner Verfassungsschutz nicht geführt. Zu Zwe- cken der Aufklärung und Bekämpfung des internationalen Terrorismus sowie des gewaltbezogenen Rechtsextre- mismus nutzen Polizei und Verfassungsschutz die Anti- terrordatei (ATD) und die Rechtsextremismusdatei (RED) als Verbunddateien. Darin werden bei Vorliegen der ge- setzlichen Voraussetzungen Personen gespeichert, die in den Gesetzen näher definierte Bezüge zu einer terroristi- schen Vereinigung oder zum Anwenden, Aufrufen, Un- terstützen, Vorbereiten oder vorsätzlichen Hervorrufen extremistisch motivierter Gewalt aufweisen. 3. In welchem Verhältnis stehen diese Erfassungen als „Gefährder“ zu den in den Personengebundenen Hinweisen (PHW) unter dem Hinweis „Gefährdungslagebild“ erfassten Personen? Zu 3.: Die als „Gefährder“ im Kontext der „Gefährderansprachen “ bezeichneten Personen stehen grundsätzlich in keinem kausalen Verhältnis zu denen im Gefähr- dungslagebild - auch dies ein Anwendungsfall innerhalb des POLIKS - erfassten Personen, da es sich bei den letztgenannten vornehmlich um Personen handelt, von denen mit hinreichender Wahrscheinlichkeit eine Indivi- dualgefährdung gegen konkret bezeichnete Dritte ausgeht. 4. Wie viele Personen sind aktuell in den Bereichen, die der „politisch motivierten Kriminalität links“, „politisch motivierten Kriminalität rechts“ und „politisch motivierten Ausländerkriminalität“ zuzuordnen sind, erfasst (bitte entsprechend getrennt anführen)? Abgeordnetenhaus Berlin – 17. Wahlperiode Drucksache 17 / 16 172 2 Zu 4.: Die Grundlage für die Beantwortung dieser Frage bildet der „Kriminalpolizeiliche Meldedienst in Fällen Politisch motivierter Kriminalität“ (KPMD-PMK). Dabei handelt es sich entgegen der „Polizeilichen Kriminalstatistik “ (PKS) um eine Eingangsstatistik. Die Fallzählung und somit auch die Zählung der bekannt gewor- denen Tatverdächtigen erfolgt tatzeitbezogen, unabhängig davon, wann das Ermittlungsverfahren an die Staatsan- waltschaft abgegeben wurde. Dabei wird eine Tatverdäch- tige beziehungsweise ein Tatverdächtiger statistisch so oft gezählt, wie er mit Fällen der PMK in Erscheinung getre- ten ist, unabhängig davon, in welchem Bundesland die Täterin oder der Täter zum Tatzeitpunkt ihren oder seinen Wohnsitz hatte. Im Rahmen des KPMD-PMK gespeicherte Personen werden nach einer Laufzeit von fünf Jahren automatisiert anonymisiert. Die nachfolgenden Zahlen enthalten dem- nach nur die Personen, deren Anonymisierungsprüffrist noch nicht erreicht ist. Es handelt sich um den aktuellen Gesamtbestand (Stand: 12. Mai 2015): Phänomenbereich Anzahl PMK - rechts 2863 PMK - links 3012 PMAK 977 Sonstige/Nicht zuzuordnen 1914 5. Wie hat sich die Zahl der von der Berliner Polizei und dem Verfassungsschutz aus dem rechten Spektrum als „Gefährder“ erfassten Personen seit 2012 entwickelt (bitte nach Jahren getrennt aufführen)? Zu 5.: Für Berlin waren seit 2012 keine Personen als „Gefährder“ der PMK-rechts eingestuft. 6. Welche Maßnahmen außer Gefährderansprachen und Gefährderanschreiben sind nach welchen gesetzli- chen Regelungen gegenüber Personen möglich, die von Polizei und Verfassungsschutz als „Gefährder“ eingestuft und erfasst worden sind? Zu 6.: Für den Bereich der Polizei Berlin sind unter Berücksichtigung des Grundsatzes der Verhältnismäßig- keit grundsätzlich alle gefahrenabwehrrechtlichen und strafprozessualen Maßnahmen anwendbar, sofern dafür im konkreten Einzelfall die tatbestandlichen Vorausset- zungen erfüllt sind. 7. Hatte die Berliner Polizei eigene und Erkenntnisse anderer Landes- oder Bundesbehörden (bitte nennen) über die 26 Personen, die sie einer Gefährderansprache aus- setzte, mit denen über die Erfassung als „Gefährder“ hinaus die für eine solche Maßnahme notwendige konkre- te Gefahr für Aktivitäten am diesjährigen 1. Mai hervor- ging? Zu 7.: Für den Bereich der PMK-links lagen eigene Erkenntnisse vor. In Fällen störanfälliger Versammlungs- lagen werden im Vorfeld „Gefährderansprachen“ mit den Personen geführt, die in jüngerer Vergangenheit (zuletzt wurden in der Regel die letzten zwölf Monate betrachtet) im Rahmen relevanter/vergleichbarer Einsatzlagen durch die Begehung von Gewaltstraftaten in Erscheinung getre- ten sind und eine Einzelfallprüfung unter Einbeziehung aller vorliegenden Erkenntnisse dazu führt, dass die Maß- nahme geboten und geeignet erscheint. Erkenntnisse aus anderen Bundesländern oder von Stellen des Bundes flossen nicht in die Betrachtung ein. 8. Welche Delikte aus dem Katalog des §100 Straf- prozessordnung (StPO) waren durch die in Frage 7 ge- nannten Aktivitäten an diesem 1. Mai berührt? Zu 8.: Es wird hier davon ausgegangen, dass der Fra- gesteller auf den Straftatenkatalog des § 100a Strafpro- zessordnung (StPO) abzielt, da der Regelungsgehalt des § 100 StPO (Zuständigkeit bei der Postbeschlagnahme) keine Auswirkung auf den Abwägungsprozess bei der Bewertung beziehungsweise Einstufung von Personen als „Gefährder“ hat. Bei den angefragten Katalogdelikten handelte es sich um Straftaten gemäß §§ 211 (Mord) und 306 (Brandstif- tung) Strafgesetzbuch (StGB). Darüber hinaus fanden weitere Straftatbestände des StGB Beachtung im Rahmen der Gesamtabwägung, so zum Beispiel Landfriedensbruch im besonders schweren Fall, gefährliche Körperverlet- zung und weitere versammlungstypische Delikte, bei denen Gewalt als ein wesentliches Moment der Tatbe- standsmerkmale angesehen werden kann. 9. Wurden die aus dem rechten Spektrum als „Gefährder “ erfassten Personen im Vorfeld des 1. Mai unter dem Gesichtspunkt einer von ihnen möglicherweise ausgehen- den konkreten Gefahr überprüft? Wenn ja, von wem? Wenn nein, warum nicht? 10. Aus welchen Gründen wurden mit den aus dem rechten Spektrum als „Gefährder“ erfassten Personen keine Gefährderansprachen durchgeführt und aufgrund welcher Erkenntnisse wurde eine von diesen Personen an diesem Tag ausgehende konkrete Gefahr ausgeschlossen? Zu 9. und 10.: Unter Hinweis auf die Beantwortung der Frage 5., namentlich, dass im Bereich der PMK-rechts keine Personen mit dem Status des Gefährders erfasst sind, hat eine derartige Überprüfung nicht stattgefunden. 11. Wie überprüfen die Berliner Polizei und die Se- natsverwaltung für Inneres und Sport die Geeignetheit solcher Maßnahmen wie Gefährderansprachen, Freiheits- entzug, Platzverweise, Aufenthaltsverbote und Meldeauf- lagen im Vorfeld von Veranstaltungen und Versammlun- gen, wenn darüber, wie auf Drucksache 17/11337 ausge- führt, keine aussagekräftigen bzw. „belastbaren“ Statistiken geführt werden? Abgeordnetenhaus Berlin – 17. Wahlperiode Drucksache 17 / 16 172 3 Zu 11.: Im Rahmen eines entsprechenden Abgleichs konnte festgestellt werden, dass keine der Personen, die im Vorfeld des 1. Mai dieses Jahres mit einer „Gefährderansprache “ belegt wurden, anschließend im Zuge der polizeilichen Maßnahmen festgestellt oder nach entspre- chender Straftat festgenommen wurde. Insofern wird die Maßnahme aus polizeilicher Sicht als Erfolg betrachtet. 12. Wer/welche Instanz ordnet die konkreten Maß- nahmen im Vorfeld von Veranstaltungen und Versamm- lungen an und welche entscheidet nach welchen Verfah- ren über den jeweils betroffenen Personenkreis? Zu 12.: Nach Prüfung durch die für den Phänomenbe- reich zuständigen Auswerteeinheiten und einem entspre- chend begründeten Vorschlag, wird die Entscheidung, ob eine „Gefährderansprache“ durchgeführt wird, letztlich von einer Beamtin oder einem Beamten des höheren Dienstes, regelmäßig von der Dezernatsleiterin oder dem Dezernatsleiter des Phänomenbereichs, getroffen. Berlin, den 18. Mai 2015 In Vertretung Bernd Krömer Senatsverwaltung für Inneres und Sport (Eingang beim Abgeordnetenhaus am 28. Mai 2015)