Drucksache 17 / 16 175 Schriftliche Anfrage 17. Wahlperiode Schriftliche Anfrage des Abgeordneten Hakan Taş (LINKE) vom 07. Mai 2015 (Eingang beim Abgeordnetenhaus am 08. Mai 2015) und Antwort Abschiebungen leicht gemacht (IV) – Verzweiflungstaten bei der zwangsweisen Durchsetzung der Ausreisepflicht Die Drucksachen des Abgeordnetenhauses sind bei der Kulturbuch-Verlag GmbH zu beziehen. Hausanschrift: Sprosserweg 3, 12351 Berlin-Buckow · Postanschrift: Postfach 47 04 49, 12313 Berlin, Telefon: 6 61 84 84; Telefax: 6 61 78 28. Im Namen des Senats von Berlin beantworte ich Ihre Schriftliche Anfrage wie folgt: 1. In wie vielen und welchen Fällen haben Personen in den Jahren seit 2009 sich selbst verletzt, sich versucht, selbst zu verletzen oder dies angedroht im Zusammen- hang mit Maßnahmen, die darauf gerichtet waren, ihre Ausreisepflicht zwangsweise durchzusetzen (bitte nach Datum, Örtlichkeit, Staatsangehörigkeit, Geschlecht, Alter sowie Anlass aufschlüsseln)? 2. In wie vielen und welchen Fällen haben Personen in den Jahren seit 2009 Suizidabsichten geäußert, ange- droht oder vollzogen im Zusammenhang mit Maßnahmen, die darauf gerichtet waren, ihre Ausreisepflicht zwangs- weise durchzusetzen (vgl. etwa „Angst vor Abschiebung – Flüchtling drohte mit Suizid“, tagesspiegel.de vom 11. Februar 2015)? (Bitte nach Datum, Örtlichkeit, Staats- angehörigkeit, Geschlecht, Alter sowie Anlass aufschlüs- seln.) Zu 1. und 2.: Selbstverletzungen, Selbstverletzungs- versuche, Androhungen von Selbstverletzungen sowie Äußerungen oder Androhungen von Suizidabsichten oder der Vollzug von Suiziden im Zusammenhang mit Maß- nahmen, die auf die zwangsweise Durchsetzung der Aus- reisepflicht der betreffenden Personen ausgerichtet waren, werden im Sinne der speziellen Fragestellung statistisch nicht erfasst. Es sind lediglich Angaben zu Suiziden, Suizidversu- chen und Selbstverletzungen durch asylsuchende, gedul- dete oder sonstige ausreisepflichtige Personen vorhanden, die sich im Bereich des Berliner Landesamtes für Ge- sundheit und Soziales (LAGeSo), der Ausländerbehörde Berlin oder in polizeilichem Gewahrsam ereignet haben. Diese basieren auf einer Abfrage der genannten Behör- den. Erkenntnisse zur individuellen Motivation für diese Handlungen liegen nicht vor. Über einen möglichen Zu- sammenhang dieser Handlungen mit Maßnahmen zur zwangsweisen Durchsetzung der Ausreisepflicht kann daher ebenfalls keine Aussage getroffen werden. Für den Zeitraum 2009 bis 2012 wird auf die Beant- wortung der Kleinen Anfrage Nr. 17/11577 verwiesen. Das Jahr 2013 wurde mit der Schriftlichen Anfrage Nr. 17/13882 und das Jahr 2014 zudem mit der Schriftlichen Anfrage Nr. 17/15332 abgebildet. Für das 1. Quartal 2015 liegt noch keine abschließende Auswertung vor. Demnach wurden für die Jahre 2009 bis 2014 folgen- de Handlungen der betreffenden Personengruppe in den jeweiligen Bereichen bekannt: LAGeSo: Das LAGeSo führt erst seit Ende 2012 eine genaue Statistik über Suizide, Suizidversuche und Selbstverlet- zungen der genannten Personengruppe. Eine Befragung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter hat fünf besondere Vorfälle für die Jahre 2011 und 2012 ergeben: 2011: - Selbstverletzung, bei der sich die Person die Puls- adern mit einem Messer aufgeschnitten hat (Vorfall im Bereich einer Toilette) - Selbstverletzung, bei der die Person einen Spiegel mit Kopfstößen zertrümmert und sich danach mit den Glassplittern die Pulsadern aufgeschnitten hat (Vorfall im Bereich einer Toilette) 2012: - Selbstverletzung, bei der eine Person versucht hat, sich mit einer Schere den Unterarm aufzuschneiden (Vor- fall im Bereich der zentralen Leistungsgewährung) - Suizidversuch, indem eine Person sich dem Fenster genähert hatte und davon abgehalten werden musste, hinauszuspringen (Vorfall ereignete sich im Bereich der zentralen Leistungsgewährung) - Selbstverletzung einer antragstellenden Person (Vor- fall im Bereich der Erstvorsprache), zwei Wachschützer unterbunden die weitere Ausführung der Selbstverletzung In den Jahren 2013 und 2014 wurden keine derartigen Fälle bekannt. Abgeordnetenhaus Berlin – 17. Wahlperiode Drucksache 17 / 16 175 2 Ausländerbehörde Berlin: Im Jahr 2013 wurde ein Vorfall einer versuchten Selbsttötung eines zu diesem Zeitpunkt 50 Jahre alten türkischen Staatsangehörigen bekannt, dessen Niederlas- sungserlaubnis nach § 51 Absatz 1 Nr. 6 Aufenthaltsge- setz wegen eines mehr als sechsmonatigen Auslandsauf- enthaltes erloschen war. Während einer Vorsprache im zuständigen Sachgebiet gelang es dem Betroffenen, auf das Fensterbrett zu steigen und das Fenster zu öffnen. Er begehrte die Rückgabe des eingezogenen Passes. Die Situation konnte deeskaliert werden. Weitere Fälle sind dem Senat nicht bekannt geworden. Polizeilicher Gewahrsam: Im Zeitraum zwischen 2009 und 2012 kam es zu 52 Selbstverletzungen bzw. Suizidversuchen der genannten Personengruppe. Der Aufenthaltsstatus dieser Personen wird durch die Polizei Berlin nicht erfasst. 20 dieser Selbstverletzungen bzw. Suizidversuche ereigneten sich im Abschiebungsgewahrsam. Die Einzelheiten sind der tabellarischen Übersicht in Anlage 1 zu entnehmen. Zu Hintergründen bzw. Auslösern sind keine Angaben mög- lich. Im Jahr 2013 wurden insgesamt acht Selbstverletzun- gen bzw. Suizidversuche von ausreisepflichtigen Perso- nen bekannt. Eine genaue Unterscheidung zwischen Selbstverletzung und Suizidversuch ist abschließend nicht möglich. Die verfügbaren Daten sind der Tabelle in der Anlage 2 zu entnehmen. Am 11. März 2014 nahm eine 39-jährige nigerianische Staatsangehörige im Rahmen ihres Aufenthaltes im Ab- schiebungsgewahrsam eine geringe Menge Shampoo zu sich. Die Beweggründe oder Absichten hierzu sind nicht bekannt. 3. In welchen der unter 1. und 2. aufgelisteten Fälle kam es zu einem Abbruch der Maßnahme? In welchen Fällen wurde die Maßnahme fortgesetzt, wer bewertet solche Absichtsäußerungen, Androhungen und Ankündi- gungen in der Regel und wer entscheidet ggf. über die Beiziehung ärztlich-psychiatrischer oder psychologischer Fachkompetenz? Zu 3.: Zu den erfragten Fällen liegt keine statistische Erfassung vor. Eine Bewertung von Absichtsäußerungen, Androhun- gen bzw. Ankündigungen im Sinne der Fragestellung und Entscheidung über eine gegebenenfalls erforderliche ärztliche Einschätzung bzw. Untersuchung erfolgt seitens der für die Anordnung der Abschiebung zuständigen Behörde. Sofern die Ausländerbehörde eine Abschiebung nach § 58 Aufenthaltsgesetz betreibt, entscheidet sie auch über das Vorliegen von tatsächlichen und rechtlichen Abschie- bungsverboten und erteilt gegebenenfalls eine Duldung. Soweit das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge nach § 34 a Asylverfahrensgesetz eine Anordnung zur Abschiebung in einen sicheren Drittstaat oder in einen für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat erlässt, liegt die Prüfung von Abschiebungsverboten in dessen Zuständigkeit. Während der unmittelbaren Durchführung der Maß- nahme entscheidet die jeweils vollziehende Behörde, das heißt die Bundes- bzw. Landespolizei, gegebenenfalls in Abstimmung mit der anordnenden Behörde. Liegen im Rahmen polizeilicher Maßnahmen Einzel- fälle vor, in denen Suizidabsichten geäußert oder Selbst- verletzungen angedroht oder vollzogen wurden, wird die Abschiebung erforderlichenfalls abgebrochen. Die not- wendige medizinische Versorgung wird - wie in jedem anderen Fall auch – unverzüglich sichergestellt. Die zuständige Ausländerbehörde erhält zur weiteren Entschei- dung und Veranlassung Kenntnis über den Sachverhalt. 4. In wie vielen und welchen Fällen haben in Ab- schiebungshaft befindliche Personen in den Jahren seit 2009 versucht, durch Selbstverletzungen, Schlucken von Gegenständen, nicht zum Verzehr geeigneten Flüssigkei- ten, durch Hungerstreik etc. die Haft- und Verwahrunfä- higkeit herzustellen? In welchen Fällen haben die in Ab- schiebungshaft befindlichen Personen eine Haftentlassung erwirkt, in welchen Fällen nicht (bitte nach Datum, Ört- lichkeit, Staatsangehörigkeit, Geschlecht, Alter sowie Anlass aufschlüsseln)? Zu 4.: Auf die Beantwortung der Frage 1 wird verwie- sen. Gründe, die zu einer Haftentlassung führen, werden statistisch nicht erfasst. 5. In wie vielen Fällen haben Personen in den Jahren seit 2009 aktive oder passive Widerstandshandlungen begangen im Zusammenhang mit Maßnahmen, die darauf gerichtet waren, ihre Ausreisepflicht zwangsweise durch- zusetzen? In wie vielen Fällen kam es deswegen zu einem Abbruch der Maßnahme? In welchen Fällen wurde die Maßnahme fortgesetzt, in welchen Fällen nicht (bitte nach Jahr aufschlüsseln)? Zu 5.: Eine statistische Erfassung von Widerstands- handlungen im Sinne der Fragestellung erfolgt nicht. In wie vielen Fällen die Maßnahme daraufhin abgebrochen oder fortgesetzt wurde, wird ebenfalls statistisch nicht erfasst. Berlin, den 22. Mai 2015 In Vertretung Bernd Krömer Senatsverwaltung für Inneres und Sport (Eingang beim Abgeordnetenhaus am 28. Mai 2015) Anlage 2 Jahr 2013 Datum Örtlichkeit Land m/w Alter Anlass/kurze Beschreibung 26.02.2013 Abschiebungsgewahrsam Grünauer Str. 140 12557 Berlin Algerien m 21 Der Insasse verletzte sich unmittelbar vor seiner Abschiebung im Rahmen eines Toilettenganges sowie bei der anschließenden Überführung ins Krankenhaus mit einem scharfkantigen Gegenstand am linken Handgelenk. 01.03.2013 Flüchtlingsunterkunft Rognitzstr. 8 14057 Berlin Tunesien m 38 Der Betroffene versuchte bei der Durchsetzung seiner Ausreisepflicht erfolglos, seinen Unterarm mit einem Messer zu verletzen. 22.03.2013 Abschiebungsgewahrsam Grünauer Str. 140 12557 Berlin Nigeria m 43 Der Insasse verschluckte anlässlich seiner bevorstehenden Abschiebung diverse Geldmünzen. 30.03.2013 Abschiebungsgewahrsam Grünauer Str. 140 12557 Berlin Bosnien m 35 Der Insasse verschluckte Geldmünzen. 30.03.2013 Abschiebungsgewahrsam Grünauer Str. 140 12557 Berlin Türkei m 38 Der Insasse verschluckte Geldmünzen. 09.05.2013 Abschiebungsgewahrsam Grünauer Str. 140 12557 Berlin Kongo m 34 Der Insasse randalierte einen Tag vor seiner geplanten Abschiebung und schlug sich ins Gesicht. 29.08.2013 Abschiebungsgewahrsam Grünauer Str. 140 12557 Berlin Serbien m 23 Der Insasse verletzte sich unmittelbar vor seiner Abschiebung im Rahmen eines Toilettenganges mit einem Plastikmesser leicht am linken Unterarm. 29.10.2013 Flüchtlingsunterkunft Lahnstr. 56, 12055 Berlin Serbien m 58 Der Betroffene griff bei der Durchsetzung seiner Ausreisepflicht unvermittelt nach einer Glasflasche und zerschlug sie auf seinem Hinterkopf. Den Rest führte er zum eigenen Hals und fügte sich eine oberflächliche und nicht lebensbedrohende Schnittwunde im Bereich des Halses zu. S17-16175 S1716175 Anlage 1 S1716175 Anlage 2