Drucksache 17 / 16 207 Schriftliche Anfrage 17. Wahlperiode Schriftliche Anfrage der Abgeordneten Evrim Sommer und Elke Breitenbach (LINKE) vom 13. Mai 2015 (Eingang beim Abgeordnetenhaus am 15. Mai 2015) und Antwort Besonders schutzbedürftige Flüchtlinge und Opfer von Menschenhandel in Flüchtlings- unterkünften Die Drucksachen des Abgeordnetenhauses sind bei der Kulturbuch-Verlag GmbH zu beziehen. Hausanschrift: Sprosserweg 3, 12351 Berlin-Buckow · Postanschrift: Postfach 47 04 49, 12313 Berlin, Telefon: 6 61 84 84; Telefax: 6 61 78 28. Im Namen des Senats von Berlin beantworte ich Ihre Schriftliche Anfrage wie folgt: Vorbemerkung: Während Verordnungen der Europäi- schen Union (EU) allgemeine Geltung entfalten und un- mittelbar in den Mitgliedstaaten der EU anwendbar sind, sind EU-Richtlinien zwar hinsichtlich des zu erreichenden Ziels verbindlich, bedürfen hinsichtlich ihrer Umsetzung jedoch der Aufnahme in nationalstaatliches Recht. Hierfür ist in der Regel ein Bundesgesetz oder eine entsprechende Verordnung erforderlich. Nur, wenn eine EU-Richtlinie nicht fristgerecht umge- setzt wird, wirkt sie unmittelbar, soweit sie inhaltlich hinreichend konkret gefasst ist. Die EU-Aufnahmerichtlinie ist bis zum 20. Juli 2015 in innerstaatliches Recht umzusetzen. Die Länderarbeitsgemeinschaft für Migration und Flüchtlinge hat Anfang April 2014 die Einsetzung einer Arbeitsgruppe zur Umsetzung der EU-Aufnahmerichtlinie beschlossen, die seither dreimal getagt hat. 1. Welche Verfahrensregelungen bestehen in Berlin, um, wie durch die EU-Aufnahmerichtlinie 2013/33/EU gefordert, möglichst frühzeitig besonders schutzbedürfti- ge Personen, insbesondere Opfer von Menschenhandel, zu identifizieren? 4. Mit welchen Maßnahmen und Angeboten sichert der Senat, dass Opfer von geschlechtsspezifischer Gewalt und Menschenhandel identifiziert und sodann entspre- chend den Vorgaben der EU-Aufnahmerichtlinie 2013/33/EU untergebracht, beraten und unterstützt wer- den? Zu 1. und 4.: Im Rahmen des Berliner Netzwerks für besonders schutzbedürftige Flüchtlinge (BNS) ist erstmals im Jahre 2009 ein Informationsblatt entwickelt worden, das bei Vorsprache in der Erstaufnahme wie auch in den Leistungsbehörden an die Asylsuchenden und Flüchtlinge ausgehändigt werden soll. Er soll die Kontaktaufnahme zu den in das Netzwerk eingebundenen Nicht- regierungsorganisationen erleichtern, die ggf. eine Be- scheinigung über das Vorliegen einer besonderen Schutz- bedürftigkeit ausstellen sowie eine Einschätzung zum Leistungsumfang abgeben. Zu den eingebundenen Fach- stellen gehören u. a. Xenion e. V. und speziell für Opfer von Menschenhandel die Beratungsstelle Ban Ying. Die Fachstellen des BNS sind wiederum gut mit weiteren Unterstützungs- und Beratungsangeboten für Migrantin- nen und Migranten sowie mit Frauenprojekten vernetzt, so dass auch Klientinnen mit sehr spezifischen Bedarfsla- gen an geeignete Anlaufstellen weitervermittelt werden können. Die für besonders Schutzbedürftige über die Regel- leistungen hinaus zugänglichen sonstigen Leistungen sind in einem Rundschreiben zusammengefasst worden, das durch die Fachverwaltung im Austausch mit dem BNS und einigen Leistungsbehörden erarbeitet worden ist (Fundstelle: http://www.berlin.de/sen/soziales/berliner- sozialrecht/land/rdschr/2015_02.html). 2. Welche systematischen Untersuchungen erfolgen in den Erstaufnahmeeinrichtungen, Gemeinschafts- und Notunterkünften in Berlin, um besonders schutzbedürftige Personen, insbesondere Opfer von Menschenhandel, zu identifizieren? Zu 2.: Systematische Untersuchungen in Erstaufnah- meeinrichtungen, Gemeinschafts- und Notunterkünften werden nicht durchgeführt und werden auch nicht für sinnvoll gehalten. Die möglichen besonderen Schutzbe- dürfnisse sind inhaltlich breit gefächert. Insbesondere jene Personenkreise, deren besondere Schutzbedürftigkeit im Zusammenhang mit Traumata oder anderen psychischen Problemen steht, können kaum im Rahmen einer „Reihenuntersuchung “ identifiziert werden. In diesem Zusammenhang wird die relativ niedrigschwellige Vorgehens- weise, Kontakte zu Fachberatungsstellungen herzustellen, für sinnvoller gehalten. Abgeordnetenhaus Berlin – 17. Wahlperiode Drucksache 17 / 16 207 2 3. Wie gut funktioniert nach Einschätzung des Senats die Ermittlung, Feststellung, Weiterleitung und Versor- gung von besonders schutzbedürftigen Personen, insbe- sondere Opfern von Menschenhandel, in Berlin? Welchen Verbesserungsbedarf sieht der Senat und was plant er diesbezüglich? Zu 3.: Das bisherige Verfahren stellt aus Sicht des Se- nats einen sinnvollen Weg zu einer Identifizierung dar, der eine gezielte Weiterverweisung ermöglicht. Diese Aufgabe nehmen in der Regel die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Landesamtes für Gesundheit und Soziales (LAGeSo) und der Sozialämter sowie das Fachpersonal in den Erstaufnahmeeinrichtungen und Gemeinschaftsunter- künften wahr. Angesichts der Herausforderung, die die adäquate Unterbringung und Betreuung geflüchteter Men- schen derzeit für alle beteiligten Institutionen darstellt, entwickeln die Senatsverwaltung für Gesundheit und Soziales sowie die Senatsverwaltung für Arbeit, Integrati- on und Frauen derzeit ein Maßnahmenpaket, das die Iden- tifizierung von Flüchtlingen mit besonderen Bedarfen – darunter auch gewaltbetroffene Frauen sowie Betroffene von Menschenhandel – erleichtern sowie ihrer gezielten Unterstützung dienen soll. Hierzu gehört die Erarbeitung bzw. Zusammenstellung relevanter Informationsmateria- lien sowie die Konzipierung und Durchführung von In- formations- und Fortbildungsveranstaltungen für Mitar- beiterinnen und Mitarbeiter des LAGeSo sowie der Flüchtlingsunterkünfte. Darüber hinaus wird zurzeit ein allgemein verständli- cher Fragebogen erarbeitet, der möglichst viele Anhalts- punkte für besondere Schutzbedürfnisse abfragen soll. Dieser soll insbesondere im Rahmen der Erstaufnahme von Asylsuchenden eingesetzt werden, kann darüber hinaus aber auch durch andere Dienststellen oder Sozial- arbeiterinnen und Sozialarbeitern in den Unterkünften verwendet werden. 5. Wie viele Flüchtlinge in Erstaufnahmeeinrichtun- gen, Gemeinschafts- und Notunterkünften in Berlin wur- den in den Jahren seit 2009 als besonders schutzbedürfti- ge Personen identifiziert und weitervermittelt, wie viele davon waren Opfer von Menschenhandel (bitte nach Jahr und Geschlecht aufschlüsseln)? Zu 5.: Nach Auskunft des BNS konnten im Jahre 2014 insgesamt 658 besonders schutzbedürftige Flüchtlinge identifiziert werden. Daneben hat eine stichprobenartige Abfrage bei den Beratungs- und Unterbringungseinrichtungen für Opfer von Menschenhandel ergeben, dass beispielsweise die Zu- fluchtswohnung Ban Ying in den Jahren 2010 bis 2013 vier Frauen aufgenommen hat, die aus einer Gemein- schaftsunterkunft vermittelt wurden. Des Weiteren sind Frauen, die in Gemeinschaftsunterkünften untergebracht waren und sich in unterschiedlichen Phasen ihres Asyl- verfahrens befanden, von den Fachberatungsstellen als Klientinnen betreut worden (z. B. SOLWODI, IN VIA). 6. Auf welcher Grundlage und mit welchen finanziel- len und personellen Kapazitäten arbeitet das Berliner Netzwerk für besonders schutzbedürftige Flüchtlinge, und wie werden die Ergebnisse und Erfahrungen der bisheri- gen Modellphasen umgesetzt? Zu 6.: Das BNS arbeitet auf der Grundlage der EU- Aufnahmerichtlinien (2003/9/EG und 2013/33/EU) und finanzierte sich bisher über Projektgelder überwiegend des Europäischen Flüchtlingsfonds EFF bis Ende 2014. Zwei Projektanträge wurden an den Asyl- und Migrati- onsfonds, der den EFF abgelöst hat gestellt, eine mögliche Bewilligung seitens des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF) steht noch aus. Daher ist die Arbeit des Netzwerks derzeit finanziell nicht abgesichert. Ziel der Fachstellen des BNS ist es, die Ergebnisse der Modellphase 2015 bis 2017 weiterzuentwickeln und nachhaltig zu verankern. Dies betrifft zum einen das Ber- liner Verfahren zur Ermittlung und Identifizierung beson- ders Schutzbedürftiger, welches auf einer Kooperation zwischen staatlichen und nichtstaatlichen Akteuren der Berliner Flüchtlingsarbeit basiert. Zudem soll die Struktur des BNS weiterentwickelt und dem steigenden Bedarf und geänderten Bedarfslagen angepasst werden. 7. Welche weiteren Kooperationen gibt es zwischen Behörden und NGOs zur sachgerechten und qualifizierten Ermittlung und Feststellung von besonderer Schutzbe- dürftigkeit neu einreisender Flüchtlinge? Zu 7.: Über die im Rahmen des BNS vereinbarten Kooperationen mit den Fachstellen hinaus sind keine Kontakte institutionalisiert worden. Im Übrigen wird auf die Antwort zu den Fragen 1 und 4 verwiesen. 8. Gibt es in Erstaufnahmeeinrichtungen, Gemein- schafts- und Notunterkünften für die Bewohner*innen regelmäßig Informationsveranstaltungen und besondere Beratungsangebote zu geschlechtsspezifischer Gewalt und Menschenhandel? Wenn ja, welche? 9. Wie werden die Beschäftigten in Erstaufnahmeein- richtungen, Gemeinschafts- und Notunterkünften zum Thema Menschenhandel geschult und über Indikatoren informiert, die auf eine Opfereigenschaft schließen las- sen? Wie viele Beschäftigte von welchen Heimbetreibern haben in den Jahren seit 2009 eine entsprechende Schu- lung absolviert (bitte nach Jahr, Heimbetreiber und An- zahl aufschlüsseln)? Zu 8. und 9.: Regelmäßige Informationsveranstaltun- gen für die Bewohnerinnen und Bewohner werden nicht angeboten. Bemühungen spezialisierter Einrichtungen wie beispielsweise LARA, vor Ort Beratung anzubieten, ge- stalteten sich aufgrund der hochgradigen Tabuisierung bestimmter Themen und der Angst der Betroffenen vor einer Stigmatisierung schwierig. Wie in der Antwort zur Frage 3 ausgeführt, erscheint es daher sinnvoller, das Fachpersonal in den Einrichtungen durch Fortbildungen Abgeordnetenhaus Berlin – 17. Wahlperiode Drucksache 17 / 16 207 3 und Informationspakete zu sensibilisieren und somit in die Lage zu versetzen, Betroffene gezielt an die passende Einrichtung weiterzuvermitteln. In einigen Unterkünften sind entsprechende Veranstaltungen bereits mit Bera- tungseinrichtungen aus dem Anti-Gewalt-Bereich, darun- ter Fachberatungsstellen für Opfer von Frauenhandel, durchgeführt worden (z. B. BIG-Hotline, SOLWODI; für Juni 2015 ist eine Fortbildungsveranstaltung von Ban Ying und dem Frauenhaus Cocon in einer weiteren Un- terkunft geplant). 10. Welche präventiven Maßnahmen und Angebote gibt es in Berlin, um Flüchtlinge in Erstaufnahmeeinrich- tungen, Gemeinschafts- und Notunterkünften davor zu schützen, Opfer von Menschenhandel zu werden (bitte Übersicht beifügen/verlinken)? Zu 10.: Nach Ansicht des Senats haben die in den vo- rigen Antworten aufgeführten Maßnahmen – Sensibilisierung aller Beteiligten für die Thematik des Menschenhan- dels, Hinweis auf und gezielte Weitervermittlung an spe- zifische Unterstützungsangebote, Vernetzung mit spezia- lisierten Hilfesystemen – durchaus auch einen präventiven Effekt. Berlin, den 02. Juni 2015 In Vertretung Dirk G e r s t l e _____________________________ Senatsverwaltung für Gesundheit und Soziales (Eingang beim Abgeordnetenhaus am 03. Juni 2015)