Drucksache 17 / 16 231 Schriftliche Anfrage 17. Wahlperiode Schriftliche Anfrage des Abgeordneten Dr. Klaus Lederer (LINKE) vom 19. Mai 2015 (Eingang beim Abgeordnetenhaus am 20. Mai 2015) und Antwort Spontan feiern im öffentlichen Raum – eine legale Option für Free Open Airs in Berlin? Die Drucksachen des Abgeordnetenhauses sind bei der Kulturbuch-Verlag GmbH zu beziehen. Hausanschrift: Sprosserweg 3, 12351 Berlin-Buckow · Postanschrift: Postfach 47 04 49, 12313 Berlin, Telefon: 6 61 84 84; Telefax: 6 61 78 28. Im Namen des Senats von Berlin beantworte ich Ihre Schriftliche Anfrage wie folgt: Frage 1: Welche Rolle spielen Free Open Airs, also spontane, nichtkommerzielle Partys im Freien, aus der Sicht des Senats im soziokulturellen Leben Berlins? Antwort zu 1: Spontane, nichtkommerzielle Partys im Freien sind ein Teil des vielfältigen soziokulturellen Le- bens in Berlin. Sie werden nach Kenntnis des Senats überwiegend von Menschen jüngerer Altersgruppen nachgefragt und wahrgenommen. Der Senat von Berlin schätzt die Berliner Musikszene bzw. -wirtschaft und ihre kulturelle sowie wirtschaftliche Bedeutung. Kreativität, Spontaneität und Freiräume gehö- ren – gerade in Berlin – selbstverständlich dazu. Aus diesem Grund unterstützt der Senat von Berlin die profes- sionelle Musikszene und gründete zu diesem Zweck das Musicboard Berlin, das finanziell fördert, vermittelt und als Schnittstelle zwischen professioneller Musikszene und Verwaltung berät. „Free Open Airs“ ist dabei eines von vielen Formaten, in welchen die Musikkultur Berlins ihren Ausdruck findet. Wie andere Veranstaltungen auch haben sie Rechte und Pflichten, wozu auch Akzeptanz und Rücksicht gehören. Frage 2: Sind dem Senat Zahlen zur Entwicklung der Free Open Airs in Berlin bekannt und lassen sich hieraus Tendenzen ableiten? Antwort zu 2: Dem Senat sind keine validen Zahlen hierzu bekannt. Da es sich bei den sog. „Free Open Airs“ um spontane Partys handelt, für die in der Regel keine Anmeldungen oder Buchungen von Veranstaltungsorten getätigt und Genehmigungen beantragt werden, ist keine Grundlage für eine systematische Datenerhebung gege- ben. Die Clubcommission Berlin e.V. schätzt, dass in der Zeit zwischen April und September durchschnittlich drei Veranstaltungen pro Woche mit einer durchschnittlichen Teilnehmerzahl von 100 Personen stattfinden. Frage 3: Wie viele solcher Free Open Airs sind in den zurückliegenden 5 Jahren jährlich durch die Berliner Ordnungsbehörden abgebrochen worden? Antwort zu 3: Eine spezifische Statistik über den ord- nungsbehördlichen Abbruch von sog. „Free open Airs“ wird vom Senat nicht geführt. Frage 4: Welche Probleme und Herausforderungen muss die Berliner Verwaltung – insbesondere die Ordnungsverwaltung – im Umgang mit derartigen Free Open Airs meistern und welche (personellen, finanziellen?) Ressourcen werden dadurch in Anspruch genommen? Antwort zu 4: Die Berliner Verwaltung einschließlich der Ordnungsverwaltung hat auch im Umgang mit den sog. „Free Open Airs“ u.a. die Aufgabe, auf Grundlage der geltenden rechtlichen Bestimmungen eine lebenswerte Umwelt für alle Menschen in Berlin zu gewährleisten. Dabei ist neben der Sicherstellung von Sicherheit und Ordnung im öffentlichen Raum auch der Schutz des Ei- gentums sowie der Schutz der Lebensräume von Flora und Fauna sicherzustellen. Ein nicht zu unterschätzendes Einzelthema ist dabei die Abfallbeseitigung, die neben der Kostenproblematik im Falle von Glasflaschen zugleich auch ein Sicherheits- und Gesundheitsthema darstellen kann. Um der dargestellten Aufgabe zu entsprechen, wer- den von der Berliner Verwaltung sowohl personelle als auch finanzielle Ressourcen in Anspruch genommen. Neben den Problemen und Herausforderungen der Berliner Verwaltung sollten aus Sicht des Senats die Probleme und Herausforderungen für die in einer Groß- stadt lebenden Menschen im Umgang mit den sog. „Free Open Airs“ nicht übersehen werden. Insbesondere Arbeitnehmende benötigen in der Mehrzahl Ruhe für ihre notwendige Erholung und suchen diese oft in Ruhezonen wie den verkehrsfreien grünen Freiräumen in der Stadt. Der ungestörte Genuss der vom stetigen Alltagslärm oder fremdbestimmter Musikbeschallung nicht oder nur wenig beeinträchtigten Naturgeräusche sind relevante Faktoren für das Wohlbefinden vieler Bürgerinnen und Bürger. Abgeordnetenhaus Berlin – 17. Wahlperiode Drucksache 17 / 16 231 2 Frage 5: Ist dem Senat der seit 2013 praktizierte An- satz der Stadt Halle (Saale) bekannt, sogenannte „Spontanpartys “ ohne aufwendiges Anmeldeverfahren und mit flexiblen und verwaltungsarmen Prozessen durch geregel- te Duldung/Ermöglichung zu fördern, wenn diese 24 Stunden vorher bei der Stadtverwaltung angezeigt wer- den? Frage 6: Welche Erfahrungen aus Halle und ggf. wei- teren Städten mit ähnlichen Konzepten sind dem Senat bekannt? Welche Auswirkungen hat das insbesondere auf Lärmbelästigungen und Nutzungskonfliktlagen und die damit zusammenhängende Inanspruchnahme von Verwal- tungsbehörden (Ordnungsämter, Umweltämter, Polizei, etc.) Antwort zu 5 und 6: Die Rahmenbedingungen des An- satzes „Spontanpartys“ der Stadt Halle (Saale) sind bekannt . Die zuständigen Behörden stellen eine höhere Transparenz fest, da Kontaktdaten und erwartete Teil- nehmerzahlen bekannt sind. Beschwerden über Lärmbe- lästigung und Verschmutzung liegen jedoch weiterhin zahlreich vor. Valide Zahlen dazu liegen dem Senat nicht vor. Ein ähnlicher Ansatz ist zudem aus Zürich bekannt. Dort wurde eine „Jugendbewilligung“ eingeführt. Erfahrungen sind aus Protokollen der Stadt- und Gemeinderäte Zürichs bekannt. Darin wird festgestellt, dass sowohl bei bewilligten Partys weiterhin Polizeieinsätze wegen Lärm- belästigung stattfanden sowie dass die Anzahl der auf Grund von Lärmbeschwerden bekannt gewordenen illega- len Partys abgenommen habe. Inwiefern sich die Nut- zungskonfliktlagen insgesamt verringert haben oder nur eine Verschiebung stattgefunden hat, ist nicht bekannt. Frage 7: Welche grundsätzlichen Erwägungen spre- chen für bzw. gegen eine Anwendung des in Halle erprob- ten Modells in Berlin? Welche Modifizierungen dieses Modells wären aus der Sicht des Senats ggf. sinnvoll? Antwort zu 7: Für eine Anwendung des in Halle (Saa- le) erprobten Modells spricht das zugrundeliegende Ziel, dass Veranstalter, Genehmigungs- und Ordnungsbehör- den sowie Polizei innerhalb der gesetzlichen Rahmenbe- dingungen kooperieren und auf Kommunikation statt Konfrontation setzen. Nach Anzeige einer Spontanparty (keine Genehmigung) werden beispielsweise die Kon- taktdaten der Veranstalter an Ordnungsbehörden und Polizei weitergeleitet, die im Regelfall vor Ort die Einhal- tung der Rahmenbedingungen überprüfen (Spontaneität innerhalb von max. 24 Stunden, nur in ausgewiesenen Flächen, keine kommerziellen Tätigkeiten usw.). Darüber hinaus sind die Veranstalter in gleicher Weise wie bei genehmigten Veranstaltungen an die rechtlichen Rah- menbedingungen gebunden. Aus Sicht des Immissionsschutzes müssen Spontan- partys im Freien unter der Bedingung stehen, dass dadurch für die Allgemeinheit und Nachbarschaft insbe- sondere keine erhebliche Belästigungen durch Lärm ver- ursacht werden. Auf Grund des begrenzten Informations- standes sind keine Modifizierungen dieses Modells mög- lich. Das in Halle (Saale) erprobte „verwaltungsarme“ Modell würde auch in Berlin einen zusätzlichen Verwal- tungsaufwand nach sich ziehen. Sowohl Terminkontin- gente, zeitliche Beschränkungen, Schalldruckpegelaufla- gen usw. als auch die kurzfristigen Anzeigen bedürfen einer zeitnahen Bearbeitung und Kontrolle. Die Geneh- migungsfreiheit und eine entsprechend fehlende vertragli- che Bindung könnten darüber hinaus zu einem mangeln- den Verantwortungsgefühl für die Folgen einer Veranstal- tung beitragen. Das Modell der Spontanparty der Stadt Halle (Saale) wird daher nur begrenzt als geeignet für eine Anwendung in Berlin gesehen, da die Probleme, insbesondere Lärm- konflikte und Müllentsorgung, aus Sicht des Senats damit nicht gelöst würden. Frage 8: Welche gesetzlichen Grundlagen müssten im Einzelnen verändert werden, um eine solche Option für Free Open Airs zu ermöglichen, und in welchen Berei- chen wären ggf. spezifizierende Regelungen erforderlich (etwa in Bezug auf Lautstärke, Nachtruhe, Müllentsor- gung, und die (Über-)Nutzung von Grünflächen)? Antwort zu 8: Eine Änderung von gesetzlichen Grundlagen (insbesondere Landes- Immissionsschutzgesetz Berlin, Landeswaldgesetz, Berli- ner Naturschutzgesetz, Grünanlagengesetz) in Bezug auf Lärmimmission, Umwelt- und Grünflächenschutz (bzw. Lautstärke, Nachtruhe, Müllentsorgung und die (Über)Nutzung von Grünflächen) ausschließlich für die sog. „Free Open Airs“ wird nicht für sinnvoll erachtet. Die sog. „Free Open Airs“ sind ein Interesse unter vielen Ansprüchen, die auf städtische Flächen und ihre Zweckbestimmungen (und darüber hinaus) wirken. Natür- liche, naturnahe oder auch gärtnerisch gestaltete Grünflä- chen (Wälder, Naturschutzgebiete, Landschaftsschutzge- biete, Parks, Stadtplätze und Grünzüge) sind dabei nicht oder im Einzelfall nur eingeschränkt geeignet für Veran- staltungen. Entweder die Durchführung von Veranstal- tungen verbietet sich unmittelbar aufgrund der speziellen Eigenschaft einer Fläche einschließlich ihrer Flora und Fauna (Naturschutzrelevanz, Schutzziele, Störungsemp- findlichkeit) oder aufgrund der berechtigten Interessen anderer Benutzerinnen und Benutzer oder aber die Art der beabsichtigten Benutzung kollidiert mit weiteren Belan- gen wie z.B. den Interessen von im Umfeld lebenden Menschen. Abgeordnetenhaus Berlin – 17. Wahlperiode Drucksache 17 / 16 231 3 Öffentliche Grün- und Erholungsanlagen sind im Grundsatz keine Veranstaltungsflächen, sondern wie es der Name schon sagt, Grün- und Erholungsanlagen, die nicht nur unter Naturschutzbelangen sondern auch nach dem Gesetz zum Schutz, zur Pflege und zur Entwicklung der öffentlichen Grün- und Erholungsanlagen (Grünanla- gengesetz) Ruhezonen und damit eben auch Erholungsan- lagen sein sollen. Daher sind Beeinträchtigungen beson- ders begründungsnotwendig. Für Events, welcher Art auch immer, können auch andere Flächen als öffentliche Grünanlagen gefunden werden, da diese im Rahmen der Daseinsvorsorge eine grundsätzliche Funktion haben. Frage 9: Bis wann sieht der Senat in Kooperation mit den Bezirken die Identifikation von Flächen als möglich an, die prinzipiell für eine Nutzung durch Free Open Airs geeignet sind und welchen Kriterien müssten solche Flä- chen genügen? Antwort zu 9: Dem Senat ist keine zwingende Not- wendigkeit bekannt, die eine Identifikation von geeigne- ten Flächen für sog. „Free Open Airs“ in Berlin erforderlich machen würde. Der öffentliche Raum in Berlin steht allen Menschen frei, die sich dort entsprechend rück- sichtsvoll und nichtkommerziell aufhalten wollen. In Berlin gibt es zahlreiche Spielstätten, die über einen Außenbereich verfügen. Inwiefern Flächen und öffentli- che Räume stärker für kulturelle Veranstaltungen und damit auch sog. „Free Open Airs“ genutzt werden können , obliegt den jeweils zuständigen Behörden unter Be- rücksichtigung anderweitiger Nutzungen und möglicher Nutzungskonflikte. Das Musicboard Berlin befindet sich gemeinsam mit der Clubcommission Berlin e.V. in einem kontinuierli- chen Austausch mit den Behörden über mögliche Hand- lungsoptionen, die sowohl die Veranstalter von sog. „Free Open Airs“ als auch die Berliner Verwaltung betreffen. Mehrere Projekte in diesem Bereich wurden vom Music- board Berlin finanziell und ideell gefördert. Frage 10: Wie beurteilt der Senat die bisher im Rah- men des Projekts „Geplantes Chaos – Berliner Dialog über Free Open Airs im öffentlichen Raum“ entwickelten Ansätze zur Realisierung nichtkommerzieller Free Open Airs unter dem Gesichtspunkt der Sicherung von öffentli- chen Flächen und Räumen für die spontane und kreative Freizeitgestaltung? Antwort zu 10: Der Senat begrüßt ausdrücklich den Ansatz, interessierte junge Kulturschaffende im Dialog mit verschiedenen Verantwortungsträgern über die Rechtslage und die zu beachtenden Rahmenbedingungen für Veranstaltungen im öffentlichen Raum zu informieren und ein gegenseitiges Verständnis zu entwickeln. Das Ziel des Projekts „Geplantes Chaos“ wird positiv bewertet und der Senat von Berlin zeigt sich offen gegen- über den Ergebnissen des Projekts. Es gibt eine hohe Bereitschaft, die Rahmenbedingungen für Musikveran- staltungen in Berlin im Dialog mit den unterschiedlichen Interessen kontinuierlich zu evaluieren und wo nötig und möglich zu verbessern. Die kulturelle Nutzung von Räu- men und Flächen wird im Rahmen der transparenten Liegenschaftspolitik ständig geprüft und die für Kultur und Musicboard Berlin zuständigen Stellen involviert. Ein Vorrang des Interesses an speziell gesicherten öf- fentlichen Flächen für sog. „Free Open Airs“ gegenüber anderen Interessen wie insbesondere dem Ruhe- und Erholungsbedürfnis vieler Menschen, dem Erfordernis zum Schutz empfindlicher Naturräume oder der Beach- tung von Infrastrukturanforderungen und Fürsorgepflich- ten (z.B. Sicherheit, Notdurftverrichtung) lässt sich daraus aus Sicht des Senats nicht ableiten. Berlin, den 04. Juni 2015 In Vertretung C h r i s t i a n G a e b l e r ................................ Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Umwelt (Eingang beim Abgeordnetenhaus am 08. Juni 2015)