Drucksache 17 / 16 263 Schriftliche Anfrage 17. Wahlperiode Schriftliche Anfrage des Abgeordneten Alexander Spies (PIRATEN) vom 26. Mai 2015 (Eingang beim Abgeordnetenhaus am 27. Mai 2015) und Antwort Die reale Versorgungssituation taubblinder Menschen in Berlin Die Drucksachen des Abgeordnetenhauses sind bei der Kulturbuch-Verlag GmbH zu beziehen. Hausanschrift: Sprosserweg 3, 12351 Berlin-Buckow · Postanschrift: Postfach 47 04 49, 12313 Berlin, Telefon: 6 61 84 84; Telefax: 6 61 78 28. Im Namen des Senats von Berlin beantworte ich Ihre Schriftliche Anfrage wie folgt: 1. Wie viele betroffene taubblinde Menschen gibt es in Berlin (dazu zählen auch Menschen mit hochgradiger Seh- und Hörbehinderung)? Zu 1.: Mit Stand 01. Juni 2015 lebten in Berlin 33 Personen, bei denen nach dem Schwerbehindertenrecht gleichzeitig die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkeichens „Bl“ (blind) und „Gl“ (gehörlos) festgestellt wurden. Grundsätzlich kann bei diesem Personenkreis vom Vorliegen einer Taubblindheit ausgegangen werden. Darüber hinaus liegt dem Senat kein valides Zahlenmaterial zu dem Personenkreis vor, bei dem gleichzeitig eine hochgradige Seh- und Hörbe- hinderung vorliegt. Hinsichtlich der Definition des Perso- nenkreises, der taubblind ist, verweist der Senat im Übri- gen auf die Antwort zu Frage 3. 2. Welche Erkenntnisse hat der Senat über die reale Lebenssituation taubblinder Menschen in Berlin, inklusi- ve der bestehenden Einschränkungen und Probleme im täglichen Leben? Zu 2.: Dem Senat liegen keine wissenschaftlich erho- benen Erkenntnisse über die reale Lebenssituation taub- blinder Menschen in Berlin vor. Der Senat geht bisher davon aus, dass die im Nationalen Aktionsplan der Bun- desregierung zur Umsetzung der UN-Behindertenrechts- konvention vorgesehene Studie zur Untersuchung der Lebenslagen „Taubblindheit“ nähere Erkenntnisse auch über die Lebenslagen der taubblinden Menschen in Berlin geben wird. Wertvolle Erkenntnisse liefert in diesem Kontext aktuell die von der Universität zu Köln durchge- führte Studie zu Teilhabe und Inklusion von Menschen mit Hörschädigung in unterschiedlichen Lebenslagen in Nordrhein-Westfalen, die im Internet unter http://www.landtag.nrw.de/portal/WWW/dokumenten- archiv/Dokument/MMV16-1085.pdf veröffentlicht wurde. Die darin gewonnenen Erkenntnisse über die Lebenslagen von taubblinden Menschen dürften dem Grunde nach auch für Berlin Gültigkeit haben. 3. Unterstützt das Land Berlin in Bund-Länder- Angelegenheiten die Einführung des eigenständigen Merkzeichens „TBl“? Wenn nein, warum nicht? Zu 3.: Der auf der 89. Arbeits- und Sozialministerkon- ferenz (ASMK) 2012 gefasste Beschluss zur Einführung eines Merkzeichens „Tbl“ wurde auch vom Land Berlin unterstützt. Der Beschluss lautet wie folgt: „Die Ministerinnen und Minister, Senatorinnen und Senatoren für Arbeit und Soziales der Länder haben einstimmig be- schlossen: Die Ministerinnen und Minister, Senatorinnen und Senatoren für Arbeit und Soziales der Länder bitten die Bundesministerin für Arbeit und Soziales unter Beteili- gung des Ärztlichen Sachverständigenbeirats Versor- gungsmedizin, die gesundheitlichen Voraussetzungen für ein Merkzeichen „Tbl“ zu definieren und das Merkzeichen durch Änderung der Schwerbehindertenausweisver- ordnung einzuführen. Darüber hinaus sollen daraus fol- gende Änderungsbedarfe bei der Blindenhilfe im SGB XII, im Behindertengleichstellungsgesetz (BGG) und der Kommunikationshilfenverordnung und der Verordnung über barrierefreie Dokumente in der Bundesverwaltung (VBD) geprüft werden.“ Für den Senat hat in diesem Zusammenhang eine besondere Bedeutung, dass das Merkzeichen nur dann signifikante Wirkungen entfalten kann, wenn gleichzeitig notwendige Nachteilsausgleiche für taubblinde Menschen geschaffen werden, die mit diesem Merkzeichen in Anspruch genommen werden können. 4. Wann wird es das Merkzeichen „TBl“ geben? Zu 4.: Dem Senat ist nicht bekannt, wann die Bundes- regierung den in 2012 gefassten Beschluss der ASMK abschließend umsetzt. Zwischenzeitlich hat es mehrfach Gespräche zwischen Bund und Ländern zu dieser Thema- tik gegeben, die noch fortzusetzen sind. Abgeordnetenhaus Berlin – 17. Wahlperiode Drucksache 17 / 16 263 2 5. Steht für die Betroffenen ausreichend qualifiziertes Assistenzpersonal zur Verfügung, das über Kompetenzen in Führtechniken für blinde Menschen verfügt sowie Gesprächsinhalte und zusätzliche Informationen bedarfs- gerecht, bspw. durch das Lormen, vermitteln kann? 6. Wie stellt der Senat sicher, dass Menschen mit Taubblindheit in ausreichendem Umfang Zugang zur Taubblinden-Assistenz haben? Wird die Ausbildung zur Taubblinden-Assistenz vom Senat gefördert und finan- ziert, um den Betroffenen ein selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen und ihre Lebensbedingungen zu verbessern? Wenn nein, warum nicht? 7. Was gedenkt der Senat zu tun, um eine geregelte, kostenfreie Ausbildung zur Taubblinden-Assistenz si- cherzustellen? Zu 5. bis 7.: Der Senat verweist in Beantwortung der Fragen 5 bis 7 insbesondere auf die oben genannte Studie zu Teilhabe und Inklusion von Menschen mit Hörschädi- gung in unterschiedlichen Lebenslagen in Nordrhein- Westfalen (Abschnitt 7.3., Seiten 142 ff.) sowie auf die Veröffentlichungen des Gemeinsamen Fachausschusses Hörseh-behindert/Taubblind (GFTB) beim Deutschen Blinden- und Sehbehindertenverband e. V. (http://www.dbsv.org/dbsv/unsere- struktur/uebergreifende-fachausschuesse/gftb/). Danach gibt es noch kein bundesweit anerkanntes Berufsbild einer Taubblindenassistenz. Ebenso gibt es neben dem Nach- teilsausgleich der Rundfunkgebührenbefreiung keine speziellen bundesweit einheitlich geregelten Nachteils- ausgleiche für taubblinde Menschen. Auch in Kenntnis dieser Sachlage wurde der oben genannte ASMK- Beschluss in 2012 gefasst. Dem Senat liegen aktuell keine Anhaltspunkte dafür vor, dass taubblinde Menschen in Berlin die im Einzelfall erforderlichen Unterstützungsleistungen - einschließlich Assistenzleistungen - nicht bzw. in nicht ausreichendem Umfang gewährt werden. Insofern sieht der Senat auf Landesebene derzeit keinen akuten Handlungsbedarf. 8. Werden Verwaltungsmitarbeiter der Berliner Ein- gliederungshilfeträger für die Bedarfe taubblinder Men- schen qualifiziert und sensibilisiert? Wenn nein, warum nicht? Zu 8.: Maßnahmen der Eingliederungshilfe zur Unter- stützung der Teilhabe am Arbeitsleben und zum Leben in der Gesellschaft für Menschen mit einer Behinderung werden in den bezirklichen Sozialämtern Berlins gewährt. Seit dem Jahr 2006 erfolgt die Leistungsgewährung im Verwaltungsprozess Fallmanagement. Die Fallmanagerinnen und Fallmanager beraten be- troffene Menschen persönlich und individuell und gewäh- ren personenzentrierte, passgenaue Hilfen. Hierbei bezie- hen sie gezielt alle notwendigen Kooperationspartnerin- nen und Kooperationspartner, wie Medizinerinnen und Mediziner, Dolmetscherinnen und Dolmetscher, Bezugs- betreuerinnen und Bezugsbetreuer, aber auch Familienan- gehörige und Vertrauenspersonen des sozialen Umfeldes, ein. Fallmanagerinnen und Fallmanager erhalten in einer modular angelegten Basisqualifizierung u. a. medizini- sches Hintergrundwissen, vertiefte Kenntnisse zu Lebens- lagen sowie zur Anwendung von Methoden zur Steuerung des Eingliederungshilfeprozesses mit den verschiedenen Kooperationspartnerinnen und Kooperationspartnern. Das Erlernen und Anwenden verschiedener Gespräch- stechniken, auch zur Bewältigung schwieriger Gesprächs- situationen, ist ebenfalls ein Schwerpunkt des Schulungs- programmes für Fallmanagerinnen und Fallmanager. Neben der Wissensvermittlung und der Einübung ver- schiedener Techniken werden selbstverständlich auch Fragen der persönlichen Haltung, als Grundlage für einen sensiblen Umgang mit den Bedarfen von Menschen mit verschiedensten Teilhabeeinschränkungen, thematisiert. 9. Gibt es in Anbetracht der geringen Zahl der Be- troffenen schwerpunktbezogenes und ausreichend qualifi- ziertes Personal für Beratungsdienste zu Hilfsmöglichkei- ten? Wenn nein, was unternimmt der Senat, um den Per- sonalbedarf zu decken? Zu 9.: Beispielhaft verweist der Senat auf die Bera- tungsangebote des Allgemeinen Blinden- und Sehbehin- dertenvereins Berlin gegr. 1874 e. V. (ABSV) sowie auf das Kompetenzzentrum Taubblinde im Oberlinhaus Pots- dam. 10. Können taubblinde Schülerinnen und Schüler wohnortnah und mit der entsprechenden Unterstützung von geschulten Sonderpädagogen, die über spezielle Kenntnisse in der Förderung von Taubblinden verfügen, inklusiv beschult werden? Wenn nein, warum nicht? Zu 10.: Die Anzahl von Schülerinnen und Schülern die gleichzeitig gehörlos und hochgradig sehbehindert oder blind sind, ist zu gering, um eine sehr spezielle son- derpädagogische Unterstützung wohnortnah und inklusiv zu organisieren. Hinzu kommt, dass es keine spezielle sonderpädagogische Fachrichtung für die universitäre sonderpädagogische Ausbildung gibt, welche sich gezielt an diesen Personenkreis wendet. Abgesehen von den beiden gleichzeitig bestehenden Sinnesbehinderungen ist der Personenkreis auch nicht homogen. Gleichzeitig ge- hörlose und hochgradig sehbehinderte Schülerinnen und Schüler können zusätzlich auch körperbehindert und geistig behindert sein. Gelegentlich wird fachlich auch von „Schwerstmehrfachbehinderungen“ gesprochen, wenn ein Mensch umfassend und hochgradig in den ge- nannten Dimensionen betroffen ist. Äußerst selten sind Schülerinnen und Schüler, die ohne kognitive Einschrän- kungen zielgleich bei gleichzeitiger hochgradiger Sehbe- hinderung oder Blindheit und Gehörlosigkeit unterrichtet werden. Dies bedarf immer einer auf den Einzelfall bezo- genen multiprofessionellen und mehrdimensionalen son- Abgeordnetenhaus Berlin – 17. Wahlperiode Drucksache 17 / 16 263 3 derpädagogischen Beratung mehrerer Fachkräfte. In der sonderpädagogischen Ausbildung können für diesen Per- sonenkreis in bis zu vier verschiedenen sonderpädagogi- schen Fachrichtungen Kenntnisse erworben werden, den sonderpädagogischen Fachrichtungen für „Geistige Entwicklung “, „Körperliche und motorische Entwicklung“, „Hören“ und „Sehen“. Eine sonderpädagogische Lehrkraft verfügt über ein Studium von zwei miteinander kombinierbaren sonderpädagogischen Fachrichtungen und kann sich bei Bedarf fort- und weiterbilden, um in weiteren Fachrichtungen Kenntnisse zu erwerben. Son- derpädagogische Lehrkräfte mit fundierten umfassenden Kenntnissen in der Unterrichtung und Förderung soge- nannter „taubblinder“ Menschen sind selten und selbst an spezialisierten Schulen mit sonderpädagogischen Förder- schwerpunkten nicht häufig anzutreffen. 11. Gibt es für das Land Berlin Richtlinien für die Be- darfsermittlung für taubblinde Menschen? Wenn nein, warum nicht? Zu 11.: Die Ermittlung des individuellen Bedarfs an Leistungen der Eingliederungshilfe erfolgt anhand von ärztlichen Gutachten oder Zeugnissen, fachpädagogischen Stellungnahmen und Sozialberichten, daneben auch mit Instrumenten, die auf wissenschaftlichen Methoden (in Berlin insbesondere „Hilfe für Menschen mit Behinderung -Wohnen“ sowie „Berliner Behandlungs- und Rehabilitationsplan “) basieren. Die Ergebnisse der Bedarfsermittlung münden in einen Gesamtplan. Eine besondere Richtlinie zur Bedarfsermittlung für taubblinde Menschen gibt es nicht und wird auch nicht für erforderlich gehalten. Die ärztlichen Gutachten über die Zugehörigkeit zum Personenkreis und damit die Leistungsberechtigung nach dem Landespflegegeldgesetz (LPflGG) werden nach der Versorgungsmedizin-Verordnung und der Anlage „Versorgungsmedizinische Grundsätze“ des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales erstellt. 12. Welche Hilfestellung wird taubblinden Menschen in Berlin derzeit gewährt? Zu 12.: Menschen, die blind und gleichzeitig gehörlos sind, erhalten derzeit ein Pflegegeld nach dem LPflGG in Höhe von 1.189,00 Euro monatlich; für Menschen mit einer hochgradigen Sehbehinderung und gleichzeitiger Gehörlosigkeit werden derzeit 256,20 Euro gewährt. Berlin ist damit einer Länderumfrage Ende 2012 zu- folge – neben Schleswig-Holstein –das einzige Bundesland , das Blindheit bei gleichzeitiger Gehörlosigkeit so- wie hochgradige Sehbehinderung bei gleichzeitiger Ge- hörlosigkeit als eigenständige Sinnesbehinderung aner- kennt und zum (teilweisen) Ausgleich der behinderungs- bedingten Mehraufwendungen besondere pauschale Geld- leistungen gewährt. Daneben haben die Betroffenen ggf. einen Anspruch auf Leistungen der Eingliederungshilfe. Pflegeleistungen nach dem SGB XI sind bei Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen ebenfalls möglich. Berlin, den 08. Juni 2015 In Vertretung Dirk G e r s t l e _____________________________ Senatsverwaltung für Gesundheit und Soziales (Eingang beim Abgeordnetenhaus am 10. Juni 2015)