Drucksache 17 / 16 428 Schriftliche Anfrage 17. Wahlperiode Schriftliche Anfrage des Abgeordneten Hakan Taş (LINKE) vom 10. Juni 2015 (Eingang beim Abgeordnetenhaus am 11. Juni 2015) und Antwort Zukunft des Berliner Abschiebeknastes Die Drucksachen des Abgeordnetenhauses sind bei der Kulturbuch-Verlag GmbH zu beziehen. Hausanschrift: Sprosserweg 3, 12351 Berlin-Buckow · Postanschrift: Postfach 47 04 49, 12313 Berlin, Telefon: 6 61 84 84; Telefax: 6 61 78 28. Im Namen des Senats von Berlin beantworte ich Ihre Schriftliche Anfrage wie folgt: Vorbemerkung: Dem Senat ist kein „Abschiebeknast“ im Land Berlin bekannt. Es wird davon ausgegangen, dass die im Land Berlin bestehende Abschiebungsge- wahrsamseinrichtung Gegenstand der Schriftlichen An- frage ist. 1. Welchen Bedarf an Abschiebungshaftplätzen prognostiziert der Senat kurz- und mittelfristig für das Land Berlin? 2. Welchen Bedarf prognostiziert der Senat für den Fall, dass der Gesetzentwurf zur Neubestimmung des Bleiberechts und der Aufenthaltsbeendigung (Bundes- tagsdrucksache 18/4097) in seiner jetzigen Fassung be- schlossen wird? Zu 1. und 2.: Eine verlässliche Prognose zur Entwick- lung der Abschiebungshaftzahlen ist aufgrund der Viel- zahl der äußeren Einflussfaktoren nicht möglich. Auch mit Blick auf den Gesetzentwurf zur Neubestimmung des Bleiberechts und der Aufenthaltsbeendigung kann kein konkreter Bedarf prognostiziert werden. So ist beispiels- weise noch nicht absehbar, inwieweit sich ein Ausreise- gewahrsam nach § 62 b des Aufenthaltsgesetz-Entwurfes auf die Abschiebungshaftzahlen auswirken wird. Jedoch ist in Anbetracht der in § 2 Absatz 14 des Gesetzentwur- fes vorgesehenen Definition des Begriffes der Fluchtge- fahr von einer wieder ansteigenden Zahl von Haftfällen im Zusammenhang mit Überstellungen im Rahmen der Dublin -III-Verordnung zu rechnen. 3. Wie viele eigene Abschiebungshaftplätze will das Land Berlin kurz- und mittelfristig selbst vorhalten, und wie viele sollen in Brandenburg oder anderen Bundeslän- dern für Berlin geschaffen bzw. vorgehalten werden? Zu 3.: Es wird auf die Beantwortung zu Frage 1 ver- wiesen. Da eine verlässliche Prognose zur Anzahl per- spektivisch benötigter Haftplätze nicht möglich ist, sind hierzu flexible Lösungen gefragt. So stehen im Abschie- bungsgewahrsam Berlin Kapazitäten von bis zu 214 Haft- plätzen zur Verfügung. Aufgrund der geringen Bele- gungszahlen wird jedoch derzeit nur ein Teilbereich des Gewahrsams bewirtschaftet und der Berliner Gewahr- samsbetrieb zur Senkung der Personal- und Sachmittel- kosten seit dem vierten Quartal 2014 auf zwei Etagen mit jeweils 30 Insassinnen bzw. Insassen reduziert betrieben. Die bundesweite, länderübergreifende Suche nach kosteneffizienten Lösungsmöglichkeiten bezüglich des Betriebs von Abschiebungshafteinrichtungen ist noch nicht abgeschlossen. Hinsichtlich gegebenenfalls andern- orts zu nutzender Haftplatzkapazitäten kann daher noch keine konkrete Aussage getroffen werden. Vor dem Hin- tergrund der Beantwortung zu Frage 1 wären auch hier flexible Lösungen zu präferieren. 4. Was ist derzeit der konkrete Sachstand zur Koope- ration beim Abschiebungshaftvollzug zwischen dem Land Berlin, dem Land Brandenburg und gegebenenfalls weite- ren Bundesländern bezüglich der kurz- und mittelfristigen Standortwahl, etwaiger Neubauten, Kooperationsverein- barungen etc., und welche Meinungsverschiedenheiten und sachlichen Differenzen existierten und existieren noch zwischen den Ländern? Zu 4.: Aus den bundesgesetzlichen ausländerrechtli- chen Regelungen ergibt sich für die Länder die Pflicht, eine Abschiebungsgewahrsamseinrichtung vorzuhalten. In Berlin erfolgt dies durch die Einrichtung in Berlin Grün- au. Die Zahl der dort eingebrachten Personen ist seit Jah- ren rückläufig. Gleichzeitig sind die durch die Einrichtung verursachten Kosten für den Betrieb und die Instandhal- tung der Anlage auf konstant hohem Niveau. Abgeordnetenhaus Berlin – 17. Wahlperiode Drucksache 17 / 16 428 2 Zur Senkung der Personal- und Sachmittelkosten hat die Polizei Berlin bereits die oben beschriebene Reduzie- rung des Gewahrsamsbetriebs vorgenommen. Diese Maß- nahme allein genügt jedoch nicht, um die mit dem Betrieb der Anlage verbundenen Kosten auf ein aus wirtschaftli- chen Gesichtspunkten verträgliches Niveau zu senken. Bundesweit wird derzeit nach kosteneffizienten Lö- sungsmöglichkeiten bezüglich des Betriebs von Abschie- bungsgewahrsamseinrichtungen gesucht. Gegenstand langfristiger Überlegungen ist dabei auch die Einrichtung und der Betrieb einer gemeinsamen länderübergreifenden Einrichtung, durch mehrere regional zusammenhängende Bundesländer. Ein Ergebnis liegt hierzu noch nicht vor. Deshalb bedarf es für Berlin einer kurz- bzw. mittel- fristigen Lösung, um die oben dargelegten Kosten zu vermindern. Eine solche könnte in einer Mitnutzung der Abschiebungsgewahrsamseinrichtung in Eisenhüttenstadt liegen. Die Senatsverwaltung für Inneres und Sport befin- det sich deshalb im intensiven Dialog mit dem Ministeri- um des Innern und für Kommunales des Landes Branden- burg. Eine entsprechende Vereinbarung ist vorbereitet bislang aber noch nicht abgeschlossen worden. 5. Soll die Berliner Abschiebungshafteinrichtung in Grünau geschlossen werden? Wenn ja, zu welchem Ter- min, und welcher Anschlussverwendung will der Senat das derzeit genutzte Gebäude zuführen? Zu 5.: Auf die Beantwortung zu Frage 4 wird verwie- sen. Sofern eine Mit- bzw. gemeinsame Nutzung einer Abschiebungshafteinrichtung im Verbund mit anderen Bundesländern erreicht werden kann, ist der weitere Be- trieb einer eigenen Einrichtung nicht vorgesehen. Verläss- liche zeitliche Planungen liegen hierzu noch nicht vor. Planungen hinsichtlich einer möglichen Anschlussnut- zung des Gebäudes obliegen der Berliner Immobilien Management GmbH (BIM). 6. Was ist derzeit der konkrete Sachstand der Koope- rationsvereinbarung zwischen dem Land Berlin und dem Land Brandenburg, und was beinhaltet die Kooperations- vereinbarung im Originalwortlaut (bitte beifügen)? Zu 6.: Auf die Beantwortung der Frage 4 wird verwie- sen. Vor dem Hintergrund des noch andauernden Dialo- ges mit dem Ministerium des Innern und für Kommunales des Landes Brandenburg erfolgen derzeit keine Angaben zu noch nicht abschließend erörterten Inhalten. 7. Welche konkrete Kritik hat der Senat an der Quali- tät der Brandenburger Abschiebungshafteinrichtung in Eisenhüttenstadt geäußert, inwiefern wurden die kritisier- ten Sachverhalte inzwischen verbessert, und an welchen Qualitätsstandards orientiert sich der Senat bei seiner Kritik (vgl. Jahresbericht des Rechnungshofs Berlin 2015, S. 100f)? Zu 7.: Die in der Vergangenheit seitens des Senats ge- äußerten fachlichen Bedenken hinsichtlich einer Koopera- tion zur gemeinsamen Nutzung der Abschiebungshaftein- richtung Eisenhüttenstadt (AHE) bezogen sich in erster Linie auf die dort vorhandene Haftplatzkapazität und die Betreuungsqualität. Darüber hinaus wurde der Bedarf an verbesserten Beschäftigungsmöglichkeiten für die dort eingebrachten Personen, einer Milderung der gefängnis- ähnlichen Atmosphäre, dem Angebot einer kostenlosen Rechtsberatung sowie einer bedarfsgerechteren ärztlichen Versorgung und sozialen Betreuung bzw. regelmäßigen Anwesenheit einer Psychologin bzw. eines Psychologen in Ergänzung zu den Sozialarbeitern erkannt. Die Qualitätsstandards haben zwischenzeitlich in allen Bereichen eine deutliche Verbesserung erfahren und ha- ben sich den für das Abschiebungsgewahrsam Berlin bestehenden aktuellen Standards weitgehend angenähert. So wurde bzw. wird in der AHE eine Bibliothek einge- richtet, die Raumatmosphäre gestalterisch verbessert, eine kostenfreie Rechtsberatung angeboten, eine durchgehende medizinische Versorgung sichergestellt sowie eine Psy- chologin bzw. ein Psychologe dauerhaft eingesetzt sowie kompetentes Personal ausgewählt und die Gebäudeauftei- lung optimiert. Als Orientierung für die erforderlichen bzw. zu for- dernden Qualitätsstandards dienen die Bestimmungen des Europäischen Komitee zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe (CPT-Standards) sowie die gesetzlichen Bestim- mungen und die eigenen, in der Ordnung für den Ab- schiebungsgewahrsam im Land Berlin (Gewahrsamsord- nung) enthaltenen Standards. 8. Wie werden die Verfahrensabläufe zwischen dem Land Berlin und dem Land Brandenburg im Rahmen einer Kooperation beim Abschiebungshaftvollzug konkret ausgestaltet sein? 9. Wie wird die Rechts- und Fachaufsicht geregelt sein, wenn das Land Berlin ausreisepflichtige Personen in seiner Zuständigkeit in Brandenburg unterbringt? 10. Wie wird die Kostenverteilung zwischen dem Land Berlin und dem Land Brandenburg im Rahmen einer Kooperation beim Abschiebungshaftvollzug konkret ausgestaltet sein? Welcher Tageskostensatz wurde ver- einbart, und trägt das Land Berlin darüber hinaus weitere Kosten? Wenn ja, welche und in welcher Höhe? 11. Welcher personelle Mehraufwand kommt auf das Land Berlin für die Bewachung und Betreuung der Inhaf- tierten, die Durchführung von Arztvorstellungen, die Abwicklung des Besuchsverkehrs etc. hinzu, wenn es ausreisepflichtige Personen in seiner Zuständigkeit in der Abschiebungshafteinrichtung Eisenhüttenstadt unter- bringt? Zu 8. bis 11: Es wird auf die Beantwortung der Frage 6 verwiesen. Abgeordnetenhaus Berlin – 17. Wahlperiode Drucksache 17 / 16 428 3 12. Welche Aufgaben sind in der Abschiebungs- hafteinrichtung Eisenhüttenstadt nach welchen Aus- schreibungen auf welche privaten Dienstleister ausgela- gert, und wie bewertet der Senat dies? Zu 12.: Diese Fragestellung ist an das Ministerium des Innern und für Kommunales des Landes Brandenburg zu richten. Eine Bewertung des Senats erfolgt hierzu nicht. 13. Wie bewertet der Senat Alternativen zur Abschie- bungshaft wie Meldeauflagen, Kautionszahlungen etc., und auf welche konkreten Erfahrungen oder Untersu- chungen auf empirischer Basis bezieht er sich in seiner Bewertung? Zu 13.: Die in der Fragestellung genannten Alternati- ven zur Abschiebungshaft reichen in der Regel nicht aus, um eine Fluchtgefahr zu verhindern. Empirische Erhe- bungen hierzu liegen nicht vor. 14. Gibt es Überlegungen im Senat, Alternativen zur Abschiebungshaft auf Landesebene konsequent zu nutzen sowie sich für eine Rechtsänderung auf Bundesebene einzusetzen? Wenn nein, warum nicht? Zu 14.: Bereits jetzt werden die bestehenden Alterna- tiven zur Abschiebungshaft konsequent genutzt. Mit Blick auf das Verhältnismäßigkeitsgebot nach § 62 Absatz 1 Satz 1 Aufenthaltsgesetz wird stets geprüft, ob der Zweck der Haft – nämlich die Abschiebung – durch ein milderes, ebenfalls ausreichendes Mittel erreicht werden kann. Die Abschiebungshaft als „ultima ratio“ kommt immer erst dann in Betracht, wenn alle anderen Mittel zur Durchsetzung einer vollziehbaren Ausreiseverpflichtung ausgeschöpft sind. So wird fast jeder/jedem ausreise- pflichtigen Ausländer/in (nicht Personen in Strafhaft oder Betroffene, die wegen erheblicher Straftaten ausgewiesen wurden) zunächst die Möglichkeit gegeben, freiwillig auszureisen. Erfolgt keine freiwillige Ausreise, prüft die Ausländerbehörde grundsätzlich, ob eine Abschiebung im Rahmen der Selbstgestellung versucht werden kann. Bei Verzicht auf eine Selbstgestellung oder wenn die Be- troffenen der Aufforderung zur Selbstgestellung nicht gefolgt sind, wird die Direktabschiebung ohne Haft vor- bereitet. Wenn auch dieses Mittel nicht zum Erfolg führt, bemüht sich die Ausländerbehörde um einen Haftbe- schluss, um die Abschiebung aus der Abschiebungshaft zu betreiben. Im Ergebnis ist festzustellen, dass die Abschiebungs- haft nach Ansicht des Senats ein unverzichtbares – und im Übrigen nach geltendem Recht auch in § 62 Absatz 3 Satz 1 Aufenthaltsgesetz unter den dort genannten Vorausset- zungen zwingend vorgeschriebenes – Mittel zur Sicherung der Abschiebung bleiben wird. Dies gilt insbesonde- re für Straftäter/in und für Personen, die sich der Aufent- haltsbeendigung aktiv entzogen haben. Berlin, den 25. Juni 2015 In Vertretung Bernd Krömer Senatsverwaltung für Inneres und Sport (Eingang beim Abgeordnetenhaus am 02. Juli 2015)