Drucksache 17 / 16 499 Schriftliche Anfrage 17. Wahlperiode Schriftliche Anfrage des Abgeordneten Benedikt Lux (GRÜNE) vom 25. Juni 2015 (Eingang beim Abgeordnetenhaus am 26. Juni 2015) und Antwort „Standardisierte Bearbeitung“ der Berliner Polizei – Verstoß gegen das Legalitätsprinzip ? Die Drucksachen des Abgeordnetenhauses sind bei der Kulturbuch-Verlag GmbH zu beziehen. Hausanschrift: Sprosserweg 3, 12351 Berlin-Buckow · Postanschrift: Postfach 47 04 49, 12313 Berlin, Telefon: 6 61 84 84; Telefax: 6 61 78 28. Im Namen des Senats von Berlin beantworte ich Ihre Schriftliche Anfrage wie folgt: 1. Was versteht der Senat unter „effizienzorientierter Bearbeitung“ von Deliktgruppen, was unter „standardisierter “ Bearbeitung? Wie unterscheidet sich diese von der qualifizierten Bearbeitung“? Zu 1.: Die „standardisierte Bearbeitung“ bezeichnet eine Ausprägung der Effizienzorientierung, die insbesondere bei Massendelikten angewandt wird, bei denen nur geringe oder gar keine Ermittlungsanhalte vorliegen und bestimmte Bearbeitungsabläufe identifiziert werden können , die sich immer wiederholen. Die Bearbeitung kann nach einem festgelegten Muster erfolgen. Das Pendant hierzu ist die „qualifizierte Bearbeitung“, bei der aufgrund von Ermittlungsanhalten verschiedene Optionen für weitergehende Ermittlungen vorliegen. Für beide Methoden gelten die Anforderungen an eine „effizienzorientierte Bearbeitung“. Diese bezeichnet eine Strategie in der Vorgangsbearbeitung zur Konzentration personeller und materieller Ressourcen vor dem Hintergrund der Erfolgswahrscheinlichkeit unter Wahrung der Verhältnismäßigkeit. 2. Sind die Darstellungen von Polizeipräsident Klaus Kandt in der Berliner Zeitung vom 1. Januar 2015 so zu verstehen, dass Anzeigen von Fahrraddiebstahl ohne erfolgversprechende Ermittlungsanhalte in Effekt sofort eingestellt werden? Wie verträgt sich diese Einstellung mit dem Legalitätsprinzip? Zu 2.: Mit beispielhaften Ausführungen zum Fahrraddiebstahl in dem hier zitierten Presseartikel veranschaulichte der Polizeipräsident die verstärkte Ausrichtung polizeilicher Ermittlungsarbeit im Sinne eines effizienten Einsatzes der zur Verfügung stehenden personellen und materiellen Ressourcen. Eine effizienzorientierte Vorgangsbearbeitung steht dem Legalitätsprinzip nicht entgegen, da grundsätzlich alle Strafanzeigen – auch die wegen Verdachts des Fahrraddiebstahls – bei der Polizei Berlin bearbeitet werden. Liegen zureichende tatsächliche Anhaltspunkte für eine verfolgbare Straftat vor, wird nach dem Legalitätsprinzip unabhängig von den Aufklärungsaussichten stets und ohne Ausnahme ein Ermittlungsverfahren eingeleitet. Der Umfang der weiteren Ermittlungen orientiert sich sodann an den Umständen des Einzelfalls, das heißt an der Existenz konkreter Ermittlungsanhalte. Die Entscheidung über die Einstellung des Verfahrens obliegt der Justiz. Gemäß § 170 Absatz 2 Strafprozessordnung sind Strafermittlungsverfahren insbesondere einzustellen, wenn eine Täterin oder ein Täter nicht ermittelt wurde und keine weiteren Ermittlungsanhalte vorliegen. 3. Für welche Delikte bzw. Deliktsgruppen gibt es mit der Staatsanwaltschaft abgestimmte standardisierte Bearbeitungsverfahren im Sinne der „effizienzorientierten Bearbeitung“, für welche solche der qualifizierten Bearbeitung ? Wie sind diese Bearbeitungsverfahren dem Parlament zur Kenntnis gegeben worden und wie der Öffentlichkeit ? Zu 3.: Erste Abstimmungen zur Effizienzorientierung polizeilicher Ermittlungsarbeit bei Delikten der minderschweren Kriminalität erfolgten schon vor Jahren mit der Amts- und Staatsanwaltschaft. Sie fanden ihren Niederschlag in unterschiedlichen Vorschriftenlagen, zum Beispiel in der „Geschäftsanweisung über die Bearbeitung von Delikten der Kleinkriminalität“ sowie deren Vorgänger . Eine von einer gemeinsamen Arbeitsgruppe der Polizei Berlin und der Staatsanwaltschaft Berlin mit dem Ziel eines möglichst effizienten Ressourceneinsatzes abgestimmte standardisierte Bearbeitung findet derzeit bei der Bearbeitung von Betrugsfällen statt. Im Rahmen der Bearbeitungszentralisierung von Betrugsdelikten im Landes- Abgeordnetenhaus Berlin – 17. Wahlperiode Drucksache 17 / 16 499 2 kriminalamt (LKA) im April 2011 wurden die polizeilichen Bearbeitungsmodalitäten zu einer Vielzahl von Massendelikten in diesem Deliktsfeld mit der Justiz entsprechend der „Gemeinsamen Allgemeinen Verfügung betreffend die Zusammenarbeit von Staatsanwaltschaft und Polizei vom 11. November 2012“ abgestimmt. Da es sich hierbei um dienstinterne Abläufe handelt, ist eine Veröffentlichung nicht geboten. 4. Für welche Delikte und Deliktsgruppen wurden seit 2010 erstmalig Vorgaben für standardisierte bzw. qualifizierte Bearbeitungsverfahren erstellt? Wann wurden jeweils die entsprechenden Anweisungen den Beschäftigten und wann dem Parlament zugeleitet? Zu 4.: Im Rahmen der Bearbeitungszentralisierung von Betrugsdelikten im LKA im April 2011 wurden unter Beteiligung der mit der Betrugssachbearbeitung betrauten Dienstkräfte neue prozess- und ablauforganisatorische Maßnahmen mit Unterscheidung in „standardisierte“ und „qualifizierte“ Bearbeitung erarbeitet und umgesetzt. Parallel mit Beginn der Erprobung von Abschnittskommissariaten wurde die „Geschäftsanweisung Kleinkriminalität “, die am 01. Juli 2007 in Kraft trat, novelliert und in die „Geschäftsanweisung über die Bearbeitung von Delikten der minderschweren Kriminalität“ überführt. Hier wurden konkrete Aspekte zur standardisierten Vorgangsbearbeitung und Effizienzorientierung ergänzt. Diese Geschäftsanweisung trat am 30.06.2015 in Kraft. Alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Polizei Berlin werden mit Inkrafttreten neuer Vorschriften über das polizeiliche Intranet darüber informiert. Da es sich dabei um innerdienstliche Anweisungen der Polizei Berlin handelt, unterliegen diese keinem Parlamentsvorbehalt und werden dem Parlament nicht zugeleitet . 5. Welche Kriterien beinhalten diese Bearbeitungsverfahren für die Definition von geringen bzw. nichtvorliegenden Ermittlungsanhalten in Abgrenzung zu erfolgversprechenden Ermittlungsanhalten? Zu 5.: Kriterien oder eine Definition für das Vorliegen von Ermittlungsanhalten sind in den vorhandenen Vorschriften nicht enthalten. Grundsätzlich sind Ermittlungsanhalte dann gegeben, wenn Beweismaterial erhoben werden kann, das eine Ermittlung der oder des Tatverdächtigen und den Nachweis ihrer oder seiner Täterschaft möglich erscheinen lässt. Darüber hinaus wird auf die Antwort zur Frage 1 verwiesen. 6. Inwieweit ist die Entscheidung über ein standardisiertes oder qualifiziertes Bearbeitungsverfahren von anderen Kriterien, etwa der Schadenssumme, abhängig? Zu 6.: Die vereinfachte polizeiliche Vorgangsbearbeitung soll insbesondere dann angewandt werden, wenn die Personalien der wesentlichen Verfahrensbeteiligten bekannt sind, der Sachverhalt eindeutig ist, keine zusätzlichen Beweiserhebungen erforderlich werden und die Auswirkungen der Tat als gering anzusehen sind. Sie soll auch dann angewandt werden, wenn die Ermittlungen von Anfang an gegen Unbekannt geführt werden und keine Indizien für die Begründung eines konkreten Tatverdachts vorliegen. Eine Abhängigkeit von der Schadenssumme besteht dabei grundsätzlich nicht. Die vereinfachte polizeiliche Vorgangsbearbeitung ist hingegen ausgeschlossen bei einer Beteiligung von Kindern und Jugendlichen, Straftaten mit politischem, religiösem , rassistischem, fremdenfeindlichem oder sexuellem Bezug, Straftaten im Zusammenhang mit Straßenverkehrsunfällen , Straftaten begangen im Zusammenhang mit häuslicher Gewalt, bei Anhaltspunkten für einen Zusammenhang mit einer Tatserie, Haftsachen oder einer besonderen Bedeutung des Sachverhalts im Einzelfall. 7. Inwieweit ist es Praxis oder in Planung, die standardisierte Bearbeitung von Tarifbeschäftigten vornehmen zu lassen? Zu 7.: Seit vielen Jahren werden in der Polizei Berlin Tarifbeschäftigte im Ermittlungsdienst zur Bearbeitung von einfachen Ermittlungsvorgängen eingesetzt. Dieses Modell hat sich bewährt und wird behördenweit praktiziert , um die Polizeidienstkräfte für qualifizierte Vollzugsaufgaben so weit wie möglich zu entlasten. 8. Wie viele Fälle von Fahrraddiebstahl wurden im Jahr 2014 wegen fehlender oder geringer Ermittlungsanhalten unter der „standardisierten Bearbeitung“ bearbeitet und wie viele hatten erfolgversprechende Ermittlungsanhalte und wurden somit „qualifiziert“ bearbeitet? Wie hoch war jeweils die Aufklärungsquote? Zu 8.: Statistisch differenzierte Erhebungen zu standardisierter / qualifizierter Vorgangsbearbeitung erfolgen bei der Polizei nicht. 9. Welche Arbeitsabläufe umfasst die „standardisierte Bearbeitung“ von Fahrraddiebstahl? Welche die qualifizierte ? Zu 9.: In der Polizei Berlin existieren bislang keine festgelegten Standards für die Bearbeitung von Fahrraddiebstählen . Bei allen Strafanzeigen, zu denen erfolgversprechende Ermittlungsansätze vorhanden sind, werden die im Einzelfall kriminalistisch gebotenen Ermittlungshandlungen durchgeführt. Abgeordnetenhaus Berlin – 17. Wahlperiode Drucksache 17 / 16 499 3 Zu den elementaren Ermittlungsschritten bei Fahrraddiebstählen gehören: - Fertigung und Erfassung der Strafanzeige im Polizeilichen Landessystem zur Information, Kommunikation und Sachbearbeitung (POLIKS), - Ermittlung der individuellen Rahmennummer des entwendeten Fahrrades - Fahndungseingabe in POLIKS, - Klärung, ob Reste des aufgebrochenen Fahrradschlosses aufgefunden wurden, damit diese gegebenenfalls der Kriminaltechnik zur Untersuchung übersandt werden können. Eine beim Stab des Polizeipräsidenten eingerichtete Arbeitsgruppe (AG) Qualitätsstandards erarbeitet zurzeit Mindeststandards für die Bearbeitung von Fahrraddiebstahlsdelikten , die sich an den vorgenannten Punkten orientieren werden. 10. Wie viele Fälle von Betrug wurden im Jahr 2014 wegen fehlender oder geringer Ermittlungsanhalten unter der „standardisierten Bearbeitung“ bearbeitet und wie viele hatten erfolgversprechende Ermittlungsanhalte und wurden somit „qualifiziert“ bearbeitet? Wie hoch war jeweils die Aufklärungsquote? Zu 10.: Die effizienzorientierte Bearbeitung von Betrugsverfahren in der Polizei Berlin im Sinne dieser Anfrage erfolgt seit Januar 2015 in 29 Kommissariaten des LKA 2 (vorher LKA 3), die alle angehalten sind, Ermittlungsvorgänge effizienzorientiert nach einheitlichen und insgesamt bewährten Standards zu bearbeiten. Automatisierte statistische Auswertungen von „standardisierter/ qualifizierter“ Vorgangsbearbeitung mit differenzierten Aussagen zur Aufklärungsquote können nicht vorgenommen werden. 11. Welche Arbeitsabläufe umfasst die „standardisierte Bearbeitung“ bei Betrug? Welche die qualifizierte? Zu 11.: Bei allen im LKA 2 eingehenden Betrugsanzeigen werden zunächst folgende elementare Bearbeitungsschritte vorgenommen: - Prüfung der fallrelevanten Daten wie Namen, Anschriften , Kommunikations- und Kontodaten auf vorhandene Erkenntnisse, - Grundabfragen bei bekannten Personalien in polizeilichen Datensystemen, - Prüfung und Einleitung erforderlicher Sofortmaßnahmen , - Erfassung der Strafanzeige im POLIKS bei schriftlichen oder über die Internetwache der Polizei Berlin erstatteten Anzeigen. Im Übrigen richten sich die jeweiligen Arbeitsabläufe nach den kriminalistischen Erfahrungen zu den jeweiligen Phänomenbereichen und Betrugssachverhalten sowie den Vorgaben der Amts- und Staatsanwaltschaft. Alle Dienstkräfte im LKA 2 sind gehalten, dabei mit der Justiz abgestimmte, einheitliche Formulare, Anschreiben und Vermerke zur Vorgangsbearbeitung zu verwenden und die Ermittlungsverfahren unter effizienzorientierten und kriminalistischen Gesichtspunkten einzelfallbezogen sachgerecht zu bearbeiten. 12. Wie viele Fälle von Taschendiebstahl wurden im Jahr 2014 wegen fehlender oder geringer Ermittlungsanhalten unter der „standardisierten Bearbeitung“ bearbeitet und wie viele hatten erfolgversprechende Ermittlungsanhalte und wurden somit „qualifiziert“ bearbeitet? Wie hoch war jeweils die Aufklärungsquote? Zu 12.: Die kriminalpolizeiliche Bearbeitung aller Delikte des Taschendiebstahls erfolgte in 2014 in einem Kommissariat des LKA. Eine statistische Differenzierung nach „standardisierter/ qualifizierter“ Bearbeitung erfolgte dabei nicht. 13. Welche Arbeitsabläufe umfasst die „standardisierte Bearbeitung“ bei Taschendiebstahl? Welche die qualifizierte ? Zu 13.: Festgelegte Standards für eine „standardisierte “ oder „qualifizierte“ Bearbeitung von Taschendiebstählen existieren in der Polizei Berlin nicht. Die Mehrzahl der Ermittlungsverfahren wegen Taschendiebstahls ist dadurch gekennzeichnet, dass - weder der Tatort noch die Tatzeit durch die/ den Geschädigte/n genau eingegrenzt werden können, - keine sachdienlichen Angaben der/ des Geschädigten zum eigentlichen Tatablauf möglich sind, - keine Beschreibung des/ der Tatverdächtigen durch die/ den Geschädigte/n erfolgen kann, - keine auswertbaren Videoaufzeichnungen und - keine neutralen Tatzeuginnen oder -zeugen vorhanden sind. Sofern im Einzelfall keine Ermittlungsanhalte vorliegen , werden diese Ermittlungsvorgänge in Absprache mit der Amts-/Staatsanwaltschaft Berlin ohne weitere Ermittlungshandlungen (mit Ausnahme von etwaigen Sachfahndungsausschreibungen ) unverzüglich abgeschlossen. Bei allen anderen Strafanzeigen, zu denen erfolgversprechende Ermittlungsansätze vorhanden sind, werden die im Einzelfall kriminalistisch gebotenen Ermittlungshandlungen durchgeführt. 14. In welchem Bearbeitungsstadium befindet sich die Neufassung der „Geschäftsanweisung über die Bearbeitung von Delikten der Kleinkriminalität“, wann wird diese dem Abgeordnetenhaus zur Kenntnis gegeben und wann ist mit einer Verabschiedung zu rechnen? Zu 14.: Siehe Antwort zu Frage 4. Abgeordnetenhaus Berlin – 17. Wahlperiode Drucksache 17 / 16 499 4 15. Für welche Delikte bzw. Deliktsgruppen gilt diese GA Kleinkriminalität? Zu 15.: Diese Geschäftsanweisung gilt grundsätzlich für alle Straftaten der minderschweren Kriminalität, die im Wesentlichen in den Polizeiabschnitten bearbeitet werden. Hierzu zählen insbesondere die Antrags- und/ oder Privatklagedelikte. Die Entscheidung über die Anwendung der effizienzorientierten Vorgangsbearbeitung trifft die Dienstgruppen-/ Kommissariatsleitung in jedem Einzelfall. Berlin, den 10. Juli 2015 In Vertretung Bernd Krömer Senatsverwaltung für Inneres und Sport (Eingang beim Abgeordnetenhaus am 14. Juli 2015)