Drucksache 17 / 16 528 Schriftliche Anfrage 17. Wahlperiode Schriftliche Anfrage des Abgeordneten Dr. Klaus Lederer (LINKE) vom 30. Juni 2015 (Eingang beim Abgeordnetenhaus am 01. Juli 2015) und Antwort Wie wirkt sich die „Null-Toleranz-Zonen“-Regelung zu Cannabis und Marihuana aus? Die Drucksachen des Abgeordnetenhauses sind bei der Kulturbuch-Verlag GmbH zu beziehen. Hausanschrift: Sprosserweg 3, 12351 Berlin-Buckow · Postanschrift: Postfach 47 04 49, 12313 Berlin, Telefon: 6 61 84 84; Telefax: 6 61 78 28. Im Namen des Senats von Berlin beantworte ich Ihre Schriftliche Anfrage wie folgt: 1. Welche Orte in Berlin sind gegenwärtig solche, die nach gemeinsamer Feststellung des Polizeipräsidenten in Berlin und des Generalstaatsanwalts in Berlin „durch Drogenhandel […] merklich beeinträchtigt“ sind (bitte aufzählen)? Zu 1.: Als ein solcher Ort, der regelmäßig auch von Kindern und Jugendlichen aufgesucht wird und an dem nach der gemeinsamen Feststellung des Generalstaatsanwaltes in Berlin und des Polizeipräsidenten in Berlin gemäß Ziffer II. 3. der Gemeinsamen Allgemeinen Verfügung (GAV) der Senatsverwaltung für Justiz und Verbraucherschutz , der Senatsverwaltung für Inneres und Sport sowie der Senatsverwaltung für Gesundheit und Soziales zur Umsetzung des § 31a Betäubungsmittelgesetz (BtMG) vom 26. März 2015 (GAV) temporär eine die bestimmungsgemäße Nutzung merklich beeinträchtigende Belastung durch Drogenhandel beziehungsweise damit zusammenhängende Straftaten zu verzeichnen ist, gilt zurzeit der Görlitzer Park und dessen Umgebung. 2. Wie oft und in welchem Verfahren wird über die Festlegung oder Streichung solcher „beeinträchtigter Orte“ entschieden und auf welche Weise wird darüber Transparenz hergestellt? Zu 2.: Die Festlegung dieser Orte wird gemeinsam vom Generalstaatsanwalt in Berlin und vom Polizeipräsidenten in Berlin vorgenommen. Grundlage für die Festlegung und gegebenenfalls Streichung entsprechender Orte sind aktuelle Erkenntnisse insbesondere der Kriminalitätsentwicklung . Vor diesem Hintergrund existieren keine festen terminlichen Vorgaben. Vielmehr werden bei Bedarf im Wege der engen und vertrauensvollen Zusammenarbeit beider Behörden kurzfristig Absprachen getroffen . 3. Welche Kriterien liegen der Einschätzung des Polizeipräsidenten bzw. Generalstaatsanwalts zugrunde, nach der ein Ort ein solcher ist, an dem eine „merklich beeinträchtigende Belastung durch Drogenhandel“ vorliegen soll? Zu 3.: Die Belastung bemisst sich vor allem an den festgestellten Straftaten, vorrangig dabei Verstöße gegen das Betäubungsmittelgesetz. 4. Wie kann auch an solchen „temporären Orten“, an denen schon jede noch so geringe Menge im Besitz zur Strafverfolgung führen soll, sichergestellt werden, dass die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 9.März 1994 (2 BvL 43/92) beachtet wird, wonach völlig eindeutig „bei Verhaltensweisen …, die ausschließlich den gelegentlichen Eigenverbrauch geringer Mengen von Cannabisprodukten vorbereiten und nicht mit einer Fremdgefährdung verbunden sind, … die Strafverfolgungsorgane nach dem Übermaßverbot von der Verfolgung der in § 31a BtMG bezeichneten Straftaten grundsätzlich abzusehen haben.“? 5. Wie wird in Berlin das Tatbestandsmerkmal des „öffentlichen Interesses an der Strafverfolgung“ (§ 31a BtMG) unter Berücksichtigung der BVerfG-Entscheidung von 1994 ausgelegt, um zu vermeiden, dass in der Umsetzung der Gemeinsamen Allgemeinen Verfügung zur Umsetzung des § 31a BtMG das verfassungsrechtliche Übermaßverbot unterlaufen wird und es letztlich doch vor allem zur Kriminalisierung des gelegentlichen Konsums kommt, was mit § 31a BtMG gerade verhindert werden soll? Zu 4. und 5.: Die GAV weist ausdrücklich auf den Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 9. März 1994 - 2 BvL 43/92 - hin und stellt diese Entscheidung nicht in Frage. Vielmehr legt sie ausdrücklich fest, dass bei Verhaltensweisen , die ausschließlich den gelegentlichen Abgeordnetenhaus Berlin – 17. Wahlperiode Drucksache 17 / 16 528 2 Eigenverbrauch geringer Mengen von Cannabisprodukten betreffen, eine Strafverfolgung nur dann ausnahmsweise in Betracht kommt, wenn der Rechtsfrieden über den Lebenskreis des Betroffenen hinaus gestört ist, also fremde Schutzgüter und rechtliche Interessen betroffen sind. Als Regelbeispiel für eine solche Störung, die in der GAV daher auch als „Fremdgefährdung“ bezeichnet wird und maßgeblich für die Annahme des öffentlichen Interesses an der Strafverfolgung ist, wird unter anderem die merkliche Beeinträchtigung der bestimmungsgemäßen Nutzung von öffentlichen Grün- und Erholungsanlagen durch Drogenhandel und damit zusammenhängende Straftaten benannt . In einer solchen Konstellation sieht der Senat im Regelfall ein öffentliches Interesse an der Verfolgung auch von Taten, die nur geringe Mengen von Cannabisprodukten zum Eigenverbrauch betreffen, um kriminalitätsfördernden Strukturen entgegenzuwirken und das für die bestimmungsgemäße Nutzung einer Grün- und Erholungsanlage notwendige soziale Gefüge wiederherzustellen . Der Fokus liegt dabei weiter auf der Bekämpfung des Drogenhandels. Dem verfassungsrechtlichen Übermaßverbot wird im Übrigen auch durch das in der Regelung verankerte Zeit- und Ortsmoment Rechnung getragen. Letztlich kann und soll die Regelung die Strafverfolgungsbehörden auch nicht von einer die verfassungsrechtlichen Vorgaben wahrenden Entscheidung im Einzelfall entbinden, was redaktionell auch durch die Bezeichnung als so genanntes Regelbeispiel zum Ausdruck gebracht wird. 6. Auf welche Weise wird die temporäre lokale Entwicklung des Drogenhandels bzw. damit zusammenhängender Straftaten kontinuierlich evaluiert, wer evaluiert diese Entwicklung und auf welche Weise wird die Entwicklungsdynamik öffentlich transparent bzw. nachvollziehbar gemacht? Zu 6.: Durch die entsprechenden Dienststellen der Polizei Berlin wird die Entwicklung am Görlitzer Park und in der näheren Umgebung fortlaufend betrachtet und es wird lageangepasst reagiert. Die gesamte Entwicklung des Drogenhandels im Görlitzer Park wird im Rahmen einer ganzheitlichen Kriminalitäts- und Einsatzanalyse evaluiert . Dafür werden von der Polizei Berlin sämtliche zur Verfügung stehenden Informationen ausgewertet (unter anderem die im Rahmen der kriminalpolizeilichen Sachbearbeitung gewonnenen Erkenntnisse). Darüber hinaus findet ein regelmäßiger Informations- und Erfahrungsaustausch mit der zuständigen Staatsanwaltschaft Berlin unter Einbeziehung der Auswertungsergebnisse sowie der Verfahrensausgänge statt. Die Strafverfolgungsbehörden geben zur Entwicklung der Kriminalitäts- und Einsatzsituation anlassbezogen Auskunft. 7. Liegen dem Senat Anhaltspunkte für Verdrängungseffekte oder Verlagerungstendenzen des Handels mit Cannabis an andere Orte vor? Wenn ja, welche und mit welchen Folgen, und welche Schlussfolgerungen zieht der Senat daraus gegebenenfalls? Zu 7.: Seit Inkrafttreten der Neuregelung der GAV hat sich das Verhalten der Erwerberinnen und Erwerber von Drogen und Drogenhändlerinnen und –händler im Park nicht grundlegend geändert. Die Händlerszene reagiert, wie schon seit Beginn der Intensivierung der polizeilichen Einsatzmaßnahmen im Görlitzer Park im November 2014, sehr sensibel. Während der Durchführung polizeilicher Maßnahmen ist eine temporäre Verdrängung in angrenzende Straßenzüge sowie den im Osten angrenzenden Schlesischen Busch zu beobachten. Lageangepasst werden die Maßnahmen dann in jene Bereiche ausgedehnt. Im Anschluss an nach außen erkennbare polizeiliche Maßnahmen ist jedoch auch regelmäßig wieder eine Rückkehr des Händlerklientels in den Parkbereich zu beobachten. Umfassende und dauerhafte Verlagerungseffekte konnten von der Polizei Berlin bisher nicht festgestellt werden. 8. Wie viele Anzeigen wegen BtMG-Straftaten in Bezug auf Cannabis bzw. Marihuana sind in den Monaten seit dem 1.1.2014 jeweils gefertigt worden? Wie viele davon betrafen den Besitz? 9. Wie viele Strafverfahren wegen BtMG-Straftaten in Bezug auf Cannabis bzw. Marihuana sind in den Monaten seit dem 1.1.2014 jeweils eingeleitet worden? Wie viele davon betrafen den Besitz? Zu 8. und 9.: Die von der Polizei Berlin eingeleiteten Strafverfahren sind der Anlage 1 zu entnehmen. Eine Unterscheidung zwischen Anzeige und Strafverfahren wird bei der statistischen Erfassung nicht durchgeführt. Die der tabellarischen Übersicht zu entnehmende Einteilung der Straftaten resultiert aus den entsprechenden Erfassungsschlüsseln der Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS). Die PKS bietet jedoch keinen Erfassungsschlüssel, der ausschließlich den Besitz von Cannabis oder Marihuana abbildet. Unter einer Schlüsselzahl werden die sogenannten allgemeinen Verstöße gegen § 29 BtMG im Zusammenhang mit Cannabis und Zubereitungen abgebildet. Der § 29 BtMG enthält zwar vielfältige Begehungsformen des illegalen Umgangs mit Betäubungsmitteln, dieser Schlüssel umfasst jedoch erfahrungsgemäß vor allem die hier angefragten Fälle des Erwerbs und Besitzes von Cannabisprodukten. Eine weitere häufige Begehungsform des § 29 BtMG, der Handel und Schmuggel, wird einem gesonderten Schlüssel zugeordnet. Ein weiterer Erfassungsschlüssel der PKS enthält auch eine Begehungsform des Besitzes von Cannabisprodukten , nämlich den Besitz und auch die Abgabe in nicht geringen Mengen. Vor diesem Hintergrund wurden im Hinblick auf die angefragten BtMG-Straftaten, die ausschließlich den Besitz von Cannabis und Marihuana betreffen , die unter diesen beiden Erfassungsschlüsseln gezählten Straftaten zusammengenommen. Abgeordnetenhaus Berlin – 17. Wahlperiode Drucksache 17 / 16 528 3 10. Wie viele Strafverfahren wegen BtMG-Straftaten in Bezug auf Cannabis bzw. Marihuana sind in den Monaten seit dem 1.1.2014 jeweils wegen § 31a eingestellt worden? Wie viele davon betrafen den Besitz? Zu 10.: Entsprechende statistische Erhebungen werden bei der Staatsanwaltschaft Berlin nicht geführt. 11. Welche Mengen an Cannabis bzw. Marihuana sind in den Monaten seit dem 1.1.2014 jeweils beschlagnahmt worden? Zu 11.: Die von der Polizei Berlin beschlagnahmten Mengen an Cannabis und Marihuana seit dem 01.01.2014 sind der Anlage 2 zu entnehmen. 12. Wie hoch schätzt der Senat die konkreten Mehraufwendungen durch Einführung der „Null-ToleranzZonen “-Regelung ein bzw. den Aufwand, der für andere Aufgaben der Polizei nicht zur Verfügung stand (bitte in Arbeitsstunden und Überschlag an Personalkosten)? Zu 12.: Ausgaben für Polizeieinsätze sind grundsätzlich durch die im Gesetz über die Feststellung des Haushaltsplans von Berlin für die Polizei eingestellten Haushaltsmittel gedeckt, spezifische Daten werden hierzu nicht erfasst. 13. Wie wird der Senat den gesundheitspolitisch sinnvollen Antrag des Bezirksamtes Friedrichshain-Kreuzberg beim Bund unterstützen, eine regulierte, den Schwarzmarkt verdrängende, Abgabe von Cannabis bzw. Marihuana modellhaft zu erproben? Zu 13.: Gar nicht, da der Senat die Sinnhaftigkeit des Antrages in Frage stellt. Berlin, den 13. Juli 2015 In Vertretung Bernd Krömer Senatsverwaltung für Inneres und Sport (Eingang beim Abgeordnetenhaus am 21. Juli 2015) S17-16528 S1716528 Anlage 1 S1716528 Anlage 2