Drucksache 17 / 16 555 Schriftliche Anfrage 17. Wahlperiode Schriftliche Anfrage des Abgeordneten Fabio Reinhardt (PIRATEN) vom 02. Juli 2015 (Eingang beim Abgeordnetenhaus am 06. Juli 2015) und Antwort Zur Situation unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge in Berlin Die Drucksachen des Abgeordnetenhauses sind bei der Kulturbuch-Verlag GmbH zu beziehen. Hausanschrift: Sprosserweg 3, 12351 Berlin-Buckow · Postanschrift: Postfach 47 04 49, 12313 Berlin, Telefon: 6 61 84 84; Telefax: 6 61 78 28. Im Namen des Senats von Berlin beantworte ich Ihre Schriftliche Anfrage wie folgt: 1. Wie viele unbegleitete minderjährige Flüchtlinge wurden in den letzten fünf Jahren (2010-2015) in Berlin in Obhut genommen (bitte nach Kindern gesamt, schulpflichtigen Kindern, minderjährigen unbegleiteten Flüchtlingen unter 16 Jahren, minderjährigen unbegleiteten Flüchtlingen zwischen 16 und unter 18 Jahren, Herkunftsland , Geschlecht, Aufenthaltsstatus [Asylsuchende, Geduldete , Sonstige] getrennt auflisten)? Zu 1.: In der Erstaufnahme- und Clearingstelle des Landes Berlin (EAC) angekommene junge unbegleitete Flüchtlinge: Jahr Anzahl 2010 651 2011 546 2012 738 2013 882 2014 1085 2015 (bis 30. Juni) 666 Im vergangenen Jahr kamen die jungen Flüchtlinge aus über 50 Staaten und Palästina. Die größten Gruppen stammten aus Syrien, Afghanistan , Vietnam, Guinea, Marokko, Bangladesch, Somalia, der Russischen Föderation oder waren Palästinenserinnen und Palästinenser. Sie sind überwiegend männlich und im Alter zwischen 15 und 18 Jahren. Eine darüber hinaus gehende Aufschlüsselung liegt nicht vor. 2. In welchen Unterkünften sind die in Berlin aufgenommenen unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge untergebracht (bitte nach Alter, Geschlecht und Art der Unterbringung, Dauer des Aufenthalts getrennt auflisten)? 3. Ist es zutreffend, dass das Land Berlin unbegleitete minderjährige Flüchtlinge in Hostels und Notunterkünften unterbringt? Wenn ja, müssen unbegleitete minderjährige Flüchtlinge sich selbstständig einen Platz in einem Hostel suchen? Wie viele unbegleitete minderjährige Flüchtlinge sind zum Stichtag 30. Juni 2015 in Hostels und Notunterkünften untergebracht und wie lang? 4. Wie stellt der Senat die Beschulung und das Clearingverfahren von unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen sicher, wenn er diese in Hostels und Notunterkünften unterbringt? Hält der Senat qualifiziertes Betreuungspersonal in den vorgenannten Unterkünften bereit? Wenn nein, warum nicht? 5. Welche Maßnahmen ergreift der Senat, um eine Kindeswohlgefährdung bei der Unterbringung in Hostels und Notunterkünften auszuschließen? Zu 2.-5.: Junge unbegleitete Flüchtlinge werden gemäß § 42 Sozialgesetzbuch (SGB) VIII im Auftrag des Landes Berlin in der Erstaufnahme- und Clearingstelle (EAC) in Obhut genommen. Sie durchlaufen ein Clearingverfahren und werden im Anschluss durch die Berliner Jugendämter in Jugendhilfeeinrichtungen betreut. Nachdem am 14. April die EAC infolge eines Großbrandes unbewohnbar wurde, konnten alle Bewohnerinnen und Bewohner in einem Hostel des Trägers der Einrichtung untergebracht und dort von den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der EAC betreut werden. Nach der Herrichtung des von Brandschäden weitestgehend verschont gebliebenen Gebäudeteils erfolgte Mitte Juni der Rückzug aller jungen Flüchtlinge in die EAC. Angesichts der sprunghaft steigenden Zahl der monatlich Ankommenden konnte in zusätzlicher Kooperation mit dem Deutschen Roten Kreuz, den Berliner Johannitern und Maltesern, dem Deutschen Jugendherbergswerk und sozialpädagogischen Netzwerken die Erstaufnahme und jugendhilfegerechte Betreuung erfolgen. Eine wie oben gewünschte Aufschlüsselung liegt nicht vor. Abgeordnetenhaus Berlin – 17. Wahlperiode Drucksache 17 / 16 555 2 Das Recht auf Bildung wird für alle unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge von Beginn des Clearingverfahrens an realisiert. Alle Bewohner und Bewohnerinnen der EAC erhalten sofort Deutschunterricht, der werktäglich vormittags im Hause stattfindet und auf der Grundlage einer psychologisch betreuten Sprach- und Kulturvermittlung erfolgt. Schulpflichtige werden nach der Eignungsuntersuchung in spezielle Lerngruppen für Neuzugänge ohne Deutschkenntnisse eingeschult. Über 16- Jährigen wird entweder ein Schulplatz oder ein dreistufiger Deutschkurs beim Sozialpädagogischen Institut Berlin „Walter May“ (Stiftung SPI) - Projekt „Flucht nach vorn“ - angeboten. 6. Wie erfolgt die Altersfestsetzung und durch wen, wie oft, mit welchen Untersuchungsmethoden und mit welchen Ergebnissen wurde dieses Verfahren in den letzten fünf Jahren in Berlin angewandt (bitte nach Jahr, Funktion sowie Qualifikation des/der Durchführenden, Untersuchungsmethode und Ergebnissen aufschlüsseln)? Wie genau sind diese Untersuchungsmethoden? 7. Ist es zutreffend, dass sich unbegleitete minderjährige Flüchtlinge für die Untersuchung entkleiden müssen? Wenn ja, wie begründet der Senat diese Untersuchungsmethode ? Welche negativen Konsequenzen sieht der Senat für die unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge in dieser Untersuchungsmethode (suizidale Tendenzen u.ä.)? Zu 6.-7.: Medizinische Altersgutachten werden seit Mai 2014 durch das Centrum für Forensische Altersbestimmung (CFAB) Charité/Universitätsklinikum Hamburg -Eppendorf (UKE) nach den Richtlinien der Arbeitsgemeinschaft für forensische Altersdiagnostik (AGFAD) erstellt. Im Vorfeld wird den jungen Flüchtlingen durch die beauftragte ärztliche Fachkraft und unter Beiziehung einer Sprachmittlerin/eines Sprachmittlers sowohl mündlich als auch schriftlich der Inhalt und Umfang der vorgesehenen Untersuchungen erklärt. Bei Einverständnis werden dann bei weiblichen jungen Flüchtlingen durch die Fachärztin und bei männlichen jungen Flüchtlingen durch den Facharzt die Begutachtungen der einzelnen Körperregionen nacheinander durchgeführt. Der für Jugend zuständigen Senatsverwaltung ist kein Fall bekannt, in dem es hierbei zu suizidalen Tendenzen geführt hat. 8. Wie viele der derzeit in Berlin lebenden unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge haben einen Amtsvormund ? Wie viele werden durch einen Einzelvormund vertreten (bitte nach Alter, Geschlecht, Art der Vormundschaft , Sitz des Vormundes, Gesamtzahl der auf jeden Vormund entfallenden Mündel und der darin enthaltenen Anzahl unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge aufschlüsseln )? Zu 8.: Die gewünschten Angaben werden zentral nicht statistisch erfasst. 9. Wie viele der derzeit in Berlin lebenden unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge erhalten Leistungen nach § 1a Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) (bitte aufschlüsseln nach Geschlecht, Altersgruppen: 0 bis 15 Jahre , 16 bis 18 Jahre, Dauer des Leistungsbezugs nach § 1a AsylbLG)? Zu 9.: Zum 31. Dezember 2014 erhielten von den 764 von den Berliner Jugendämtern Betreuten insgesamt 17 unbegleitete minderjährige Flüchtlinge, die sich der sozialpädagogischen Betreuung dauerhaft entzogen, Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz. Die Erhebung zum 30. Juni 2015 liegt noch nicht vor. 10. Wie viele der in den Jahren 2010 bis 2015 eingereisten unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge stellten keinen Asylantrag, welche aufenthaltsrechtlichen Folgen hatte dies (bitte aufschlüsseln nach Alter, Geschlecht, Herkunftsland, Aufenthaltsdauer)? 11. Wie viele Anträge auf eine Aufenthaltserlaubnis nach § 23a bzw. § 25a Aufenthaltsgesetz wurden in den letzten fünf Jahren von (ehemaligen) unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen gestellt? Wie viele dieser Anträge wurden mit der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis beschieden, wie viele wurden abgelehnt? Welche Gründe lagen für eine Ablehnung vor? 12. Wie viele der derzeit in Berlin lebenden unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge besuchen eine Schule bzw. absolvieren eine berufliche Ausbildung oder berufsvorbereitende Maßnahmen (bitte nach Altersgruppen: 0 bis 15 Jahre, 16 bis 18 Jahre, Geschlecht, Herkunftsland, Art der Schule, Art der Ausbildung und Art der Unterbringung aufschlüsseln)? 13. In wie vielen Fällen hat die Ausländerbehörde Berlin in den letzten fünf Jahren bei (ehemaligen) unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen, die in Berlin eine Ausbildung erfolgreich abgeschlossen haben, eine Erlaubnis zur Arbeitsaufnahme erteilt oder verweigert? Aus welchen Gründen hat die Ausländerbehörde die Erlaubnis zur Arbeitsaufnahme verweigert? Zu 10.-13: Die gewünschten Angaben werden statistisch nicht erfasst. 14. Welche Konsequenzen hat die Vollendung des 18. Lebensjahres bei bis dahin vom Jugendamt in Obhut genommenen unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen in den Bereichen Unterbringung, Betreuung, Bildung, Aufenthaltsstatus? Zu 14.: Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge werden im Rahmen der Erstaufnahme in Obhut genommen. Wird vom Familiengericht ein Vormund bestellt wurde, erfolgen Anschlusshilfen gemäß § 34 SGB VIII. Mit der Vollendung des 18. Lebensjahres endet die vormundschaftliche Vertretung. Unabhängig hiervon wird durch Abgeordnetenhaus Berlin – 17. Wahlperiode Drucksache 17 / 16 555 3 die betreuenden Jugendämter geprüft, ob der junge Volljährige weiterer sozialpädagogischer Hilfen gemäß §41 SGB VIII bedarf. Zum Stichtag 31. Dezember 2014 erhielten 230 der 764 von den bezirklichen Jugendämtern Betreuten diese Hilfen. 15. Ist es zutreffend, dass städtische Wohnungsbaugesellschaften an (ehemalige) unbegleitete minderjährige Flüchtlinge keine Wohnungen vermieten, weil ihre Aufenthaltsgestattung oder Duldung nicht mindestens ein Jahr gültig ist? Wie bewertet der Senat dieses Verhalten? Zu 15.: Der Senat ist sich der angespannten Wohnungssituation im Land bewusst. Der für Jugend zuständigen Senatsverwaltung liegen zu dem konkret angesprochenen Sachverhalt jedoch keine Informationen vor. 16. Wie viele unbegleitete minderjährige Flüchtlinge befanden sich in den letzten fünf Jahren in Abschiebehaft ? Wie viele waren in der Justizvollzugsanstalt (bitte jeweils nach Jahr, Alter, Geschlecht, Herkunftsland und Haftdauer aufschlüsseln)? 17. Wie viele aufenthaltsbeendende Maßnahmen wurden in den letzten fünf Jahren in Berlin bei unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen durchgeführt (bitte aufschlüsseln nach Jahr, Alter, Geschlecht, Herkunftsland und Zielstaat)? 18. Wie viele Dublin-II-Überstellungen wurden in den letzten fünf Jahren in Berlin bei unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen durchgeführt (bitte aufschlüsseln nach Jahr, Alter, Geschlecht, Herkunftsland und Zielstaat)? Zu 16.-18.: Die gewünschten Angaben werden statistisch nicht erfasst. Ohne Beteiligung der gesetzlichen Vertretung eines unbegleiteten minderjährigen Flüchtlings bzw. des zuständigen Jugendamtes können die oben genannten Maßnahmen nicht vollzogen werden. 19. Wie positioniert sich der Senat zur geplanten Gesetzesänderung der Zuständigkeitsregelung für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge? Zu 19.: Berlin trägt gemeinsam mit den Ländern das Vorhaben einer bundesweiten Aufnahmepflicht zur Ermöglichung eines am Kindeswohl orientierten landesinternen und bundesweiten Verteilungsverfahrens mit. Das geplante Vorhaben bietet die Chance, die Entwicklungspotenziale der jungen Flüchtlinge, die motiviert, zielorientiert und einsatzbereit sind, besser zu fordern und zu fördern und Entwicklungschancen zu bieten. Berlin, den 23. Juli 2015 In Vertretung Sigrid Klebba Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Wissenschaft (Eingang beim Abgeordnetenhaus am 24. Juli 2015)