Drucksache 17 / 16 656 Schriftliche Anfrage 17. Wahlperiode Schriftliche Anfrage der Abgeordneten Fabio Reinhardt (PIRATEN) und Hakan Taş (LINKE) vom 14. Juli 2015 (Eingang beim Abgeordnetenhaus am 15. Juli 2015) und Antwort „Deutschland, du mieses Stück Scheiße“ – Kriminalisierung, Datensammelwut und rechtliche Unkenntnis der Berliner Polizei Die Drucksachen des Abgeordnetenhauses sind bei der Kulturbuch-Verlag GmbH zu beziehen. Hausanschrift: Sprosserweg 3, 12351 Berlin-Buckow · Postanschrift: Postfach 47 04 49, 12313 Berlin, Telefon: 6 61 84 84; Telefax: 6 61 78 28. Im Namen des Senats von Berlin beantworte ich Ihre Schriftliche Anfrage wie folgt: 1. Wer (Einsatzleiter vor Ort) bzw. welche Gliederungseinheit der Berliner Polizei (Staatschutz, LKA 5) hat ggf. nach Rücksprache die Entscheidung getroffen, dass am 03.07.2015 bei der Versammlung „Nein! Oxi! No! zur Sparpolitik – Ja zur Demokratie!“ Transparente wie das mit der Aufschrift „Deutschland, du mieses Stück Scheiße “, die von Versammlungsteilnehmer*innen mitgeführt wurden, einen Anfangsverdacht nach § 90a Strafgesetzbuch (StGB) begründeten? Zu 1.: Die Entscheidung über den Anfangsverdacht zu einer Straftat nach § 90a Strafgesetzbuch (StGB) wurde vom zuständigen Leiter des Fachdezernats des Landeskriminalamts (LKA 52 – u. a. politisch motivierte Kriminalität – links) getroffen. 2. Aufgrund welcher konkreten Tatsachen wurde ein Anfangsverdacht nach § 90a StGB von den Entscheidungsträger *innen der Berliner Polizei als begründet angesehen, und teilt der Senat diese Ansicht? Zu 2.: Ein Anfangsverdacht nach § 90a StGB wurde angenommen, da bei der besagten Aufschrift des Transparentes das Tatbestandsmerkmal der „böswilligen Verächtlichmachung der Bundesrepublik Deutschland“ als erfüllt angesehen wurde. 3. Wie ist das generelle polizeiinterne Verfahren bei der Kontrolle von Transparenten im Rahmen von Versammlungen ? Wann und wie ist dabei der Staatsschutz involviert, und wer trifft letztendlich die Entscheidung, ob die Aufschriften auf Transparenten den Anfangsverdacht einer Straftat begründen? (Bitte eine detaillierte Darstellung , wer wann aufgrund welcher Einschätzung eine Entscheidung trifft.) Zu 3.: Es gibt kein standardisiertes Verfahren im Zusammenhang mit der Kontrolle von Transparenten /Plakaten bei Versammlungen und der damit verbundenen Anzeigenerstattung. In aller Regel entscheidet die Polizeiführung über die Strafbarkeit und Sicherstellung von Transparenten/Plakaten. Gegebenenfalls können die Fachdienststellen des LKA und/oder der Justiziar der Polizei Berlin in die Entscheidung eingebunden werden. 4. Wie oft kam es in den Jahren 2013, 2014 und 2015 vor, dass der Staatsschutz an den unter 3. genannten Entscheidungen beteiligt war, und sind Mitarbeiter*innen des Staatschutzes selbst vor Ort oder werden diese telefonisch kontaktiert? Zu 4.: Eine statistische Erhebung darüber, ob und wann der Polizeiliche Staatsschutz an den unter 3. genannten Entscheidungen beteiligt wird, erfolgt nicht. Es gibt keine generelle Vorgabe ob, wann und wie eine Dienstkraft des Polizeilichen Staatsschutzes bei Versammlungslagen vor Ort ist oder telefonisch kontaktiert wird. Hierbei handelt es sich jeweils um Einzelfallentscheidungen . 5. Wie viele Personen wurden bei dem unter 1. genannten Einsatz insgesamt jeweils in Gewahrsam genommen und warum? Wann wurden diese jeweils wieder freigelassen? Zu 5.: Es kam zu den nachfolgend tabellarisch aufgelisteten Ingewahrsamnahmen. Alle Personen wurden nach Bearbeitung der jeweiligen Strafanzeigen noch am Einsatzabend vor Ort entlassen. Freiheitsbeschränkung Anzahl Verunglimpfung des Staates und seiner Symbole 21 Verstoß Versammlungsgesetz 3 Verstoß Betäubungsmittelgesetz 2 Widerstand gegen 1 Abgeordnetenhaus Berlin – 17. Wahlperiode Drucksache 17 / 16 656 2 Polizeivollzugsbeamtinnen und - beamte Beleidigung 1 Sprengstoffgesetz 1 Gesamt 29 Freiheitsentziehung Anzahl Landfriedensbruch/Körperverletzung 3 Widerstand gegen Polizeivollzugsbeamtinnen und -beamte 1 Beleidigung/Widerstand 1 Landfriedensbruch 1 Gesamt 6 6. Bei wie vielen Personen wurden insgesamt die Personalien festgestellt und warum jeweils? Zu 6.: Insgesamt kam es zu 35 Personalienfeststellungen . Die Deliktsgründe sind ebenfalls der tabellarischen Auflistung in der Antwort zu Frage 5 zu entnehmen. 7. Welche personenbezogenen Daten der unter 5. und 6. genannten Personen wurden in welche polizeiliche Datenbank/Datei aufgenommen und warum jeweils? Zu 7.: Die Personalien der 35 festgestellten Personen wurden in 22 Strafanzeigen und drei Ordnungswidrigkeiten zu den in der Beantwortung unter Frage 5 aufgeführten Tatvorwürfen im Polizeilichen Informations- und Kommunikationssystem (POLIKS) erfasst. 8. Wurde an die unter 5. bis 6. genannten Personen der personengebundene Hinweis (PHW) „Straftäter linksmotiviert “ vergeben und wenn ja, an wie viele Personen und warum jeweils? Zu 8.: Es wurden keine personengebundenen Hinweise vergeben. 9. Wie viele Ermittlungsverfahren gegen Personen wurden im Zusammenhang mit dem unter 1. genannten Einsatz insgesamt eingeleitet? Zu 9.: Es wird auf die Beantwortung zu Frage 7 verwiesen . 10. Wie viele der eingeleiteten Ermittlungsverfahren wurden aufgrund welcher Vorschrift (§ 170 Abs. 2 Strafprozessordnung etc.) jeweils eingestellt? Zu10.: Die seitens der eingesetzten Beamtinnen und Beamten gefertigten zehn Strafanzeigen gemäß § 90 a StGB wurden direkt nach Vorliegen des Ergebnisses der bei der Staatsanwaltschaft Berlin (StA Berlin) unverzüglich eingeholten rechtlichen Würdigung als „Keine Straftat “ abgeschlossen und an die StA Berlin weitergeleitet. Zudem wurde im Zuge des Vorgangsabschlusses im POLIKS bei allen Beschuldigten der Verdachtsgrad von „Dringender Tatverdacht“ in „Kein Tatverdacht“ umgewandelt . Die weiteren 12 Strafanzeigen und drei Ordnungswidrigkeitenanzeigen mit bekannten Personen sowie sechs weitere Strafanzeigen gegen unbekannte Tatverdächtige mit den verschiedenen in der Beantwortung der Frage 5 aufgeführten Tatvorwürfen wurden ohne weitere Ermittlungen zunächst zur weiteren rechtlichen Würdigung /Entscheidung ebenfalls an die StA Berlin weitergeleitet . 11. Wurden alle personenbezogenen Daten der Betroffenen , die im Zusammenhang mit dem unter 1. genannten Einsatz erhoben worden sind, nach der Einstellung der Verfahren wieder gelöscht? a. Wenn ja, ausnahmslos? b. Wen nein, warum nicht, für welchen Zweck werden diese jeweils aufgrund welcher Rechtsgrundlage weiter verarbeitet? Zu 11.: Eine Löschung der jeweiligen personengebundenen Daten in den Vorgängen im POLIKS ist bislang nicht erfolgt. Die Daten werden zur zeitlich befristeten Dokumentation sowie zur Vorgangsverwaltung benötigt und nach § 42 des Berliner Allgemeinen Sicherheits- und Ordnungsgesetzes (ASOG Berlin) vorgehalten. Sie unterliegen den gesetzlich vorgeschriebenen Löschfristen aus § 48 ASOG Berlin. Diese personengebundenen Daten sind in keinerlei anderen Systemen erfasst und gespeichert. 12. Wurden alle PHW, die im Zusammenhang mit dem unter 1. genannten Einsatz vergeben wurden, nach der Einstellung der Verfahren wieder gelöscht und wenn nein, warum nicht? Zu 12.: Es wird auf die Beantwortung zur Frage 8 verwiesen. 13. Wie bewertet der Senat die Anzahl der eingestellten Verfahren und sieht der Senat Nachschulungsbedarf für die Polizei Berlin und insbesondere für den Staatschutz in Hinblick darauf, wann ein Anfangsverdacht für die Gefährdung des demokratischen Rechtstaates vorliegt und wann es sich um eine zulässige Äußerung innerhalb der Meinungsfreiheit nach Art. 5 Abs. 1 Grundgesetz (GG) handelt? Zu 13.: Die Einstellung von Verfahren stellt beim Vorliegen von zunächst unterschiedlichen Rechtsaufassungen zwischen der Polizei Berlin und der StA Berlin, insbesondere bei neuartigen Sachverhalten, einen ganz normalen Vorgang im rechtstaatlichen System dar. Innerhalb der Polizei Berlin werden die Entwicklungen im Bereich der Rechtslegung und -sprechung regelmäßig verfolgt und durch geeignete Aus- und Fortbildungsmaßnahmen fortwährend sowohl an Dienstkräfte mit besonderen Entscheidungsfunktionen als auch an alle anderen Dienstkräfte vermittelt. Einen darüber hinausge- Abgeordnetenhaus Berlin – 17. Wahlperiode Drucksache 17 / 16 656 3 henden Schulungsbedarf hält der Senat nicht für erforderlich . 14. Wie bewertet der Senat den Umstand, dass die rechtlich falsche Einschätzung der Polizei Berlin, dass ein Anfangsverdacht nach § 90a StGB vorliegen würde, zu erheblichen und einschneidenden Folgewirkungen (verzögerter Start der Demonstration, Personen wurden in Gewahrsam genommen, personenbezogene Daten wurden erhoben und weiter verarbeitet, Kriminalisierung von Personen etc.) für die Meinungs- und Versammlungsfreiheit der Betroffenen geführt hat? Zu 14.: Die Polizei Berlin ist sich der Tragweite der Entscheidungen gerade im Zusammenhang mit Versammlungen stets bewusst. Sie trifft daher ihre Entscheidungen immer nach pflichtgemäßem Ermessen und unter Berücksichtigung aller zum Zeitpunkt der Entscheidung vorliegenden Informationen. 15. Hat die Polizei Berlin aufgrund ihrer damaligen Fehleinschätzung vom 3. Juni 2014 im Zusammengang mit dem rechtswidrig abgehängten Wandbild mit der Aufschrift „NSU-Terror: Nazis und Staat Hand in Hand“ anlässlich des zehnten Jahrestages des Nagelbombenanschlags auf der Keupstraße von der Hauswand an der Ecke Manteuffelstr./ Oranienstraße Nachschulungsmaßnahmen für die damaligen Entscheidungsträger*innen durchgeführt und wenn ja, welche? Wenn nein, warum nicht? Zu 15.: Der angeführte Sachverhalt wurde mit den handelnden Personen in angemessener Weise ausgewertet . 16. Sieht die Polizei nach der erneuten rechtlichen Fehleinschätzung ihrer Entscheidungsträger*innen Nachschulungsbedarf und wenn ja, wie wird dieser konkret umgesetzt? Wenn nein, warum nicht? Zu 16.: Es wird auf die Beantwortung zu Frage 13 verwiesen. Berlin, den 27. Juli 2015 In Vertretung Bernd Krömer Senatsverwaltung für Inneres und Sport (Eingang beim Abgeordnetenhaus am 06. Aug. 2015