Drucksache 17 / 16 730 Schriftliche Anfrage 17. Wahlperiode Schriftliche Anfrage des Abgeordneten Stefan Evers (CDU) vom 03. August 2015 (Eingang beim Abgeordnetenhaus am 05. August 2015) und Antwort Entwicklung der Obdachlosenzahlen in Berlin Die Drucksachen des Abgeordnetenhauses sind bei der Kulturbuch-Verlag GmbH zu beziehen. Hausanschrift: Sprosserweg 3, 12351 Berlin-Buckow · Postanschrift: Postfach 47 04 49, 12313 Berlin, Telefon: 6 61 84 84; Telefax: 6 61 78 28. Im Namen des Senats von Berlin beantworte ich Ihre Schriftliche Anfrage wie folgt: Die nachfolgende Beantwortung ist unter Beteiligung der Senatsverwaltung für Inneres und Sport und der Bezirksämter von Berlin erfolgt. 1. Wie hat sich die Zahl wohnungsloser Menschen in Berlin nach den Erkenntnissen des Senats seit 2011 entwickelt ? Zu 1.: Die Unterbringung wohnungsloser Menschen ist eine bezirkliche Durchführungsaufgabe nach dem Allgemeinen Zuständigkeitsgesetz (AZG) i. V. m. dem Allgemeinen Sicherheits- und Ordnungsgesetz (ASOG Berlin). Die Vermittlung der Unterkunftsplätze erfolgt zum überwiegenden Teil über die Berliner Unterbringungsleitstelle (BUL), die im Landesamt für Gesundheit und Soziales (LAGeSo) angesiedelt ist. Zum Stichtag 31.12.2011 waren 4.765 Personen in nichtvertragsgebundenen Einrichtungen, die in der BUL gelistet sind und 505 Personen in kommunalen Einrichtungen bzw. in Einrichtungen mit bilateral (Bezirksamt und Einrichtungsbetreiber) vereinbarten Belegungsrechten , in Pensionen, Hostels etc. untergebracht. Zum Stichtag 31.12.2012 waren 5.881 Personen in nichtvertragsgebundenen Einrichtungen, die in der BUL gelistet sind und 413 Personen in kommunalen Einrichtungen bzw. in Einrichtungen mit bilateral (Bezirksamt und Einrichtungsbetreiber) vereinbarten Belegungsrechten , in Pensionen, Hostels etc. untergebracht. Die Validierung für die Jahre 2013 und 2014 ist noch nicht abgeschlossen . 2. Wie schätzt der Senat die Entwicklung der Zahl wohnungsloser Menschen in Berlin für das laufende Jahr ein? 5. Welchen Zusammenhang sieht der Senat zwischen der Entwicklung der Flüchtlingszahlen einerseits und der Entwicklung der Zahl wohnungsloser Menschen in Berlin andererseits? Zu 2. und 5.: Der Senat schätzt auch ohne endgültige Validierung der Daten ein, dass die Anzahl der wohnungslosen Menschen gestiegen ist. Verstärkt wird diese Entwicklung auch durch die Gruppe von Flüchtlingen, die nach den Sozialgesetzbüchern anspruchsberechtigt ist. Ein Leistungsanspruch auf Hilfen nach § 67 SGB XII kann dem Grunde nach dann bestehen, wenn das Aufenthaltsrecht unbefristet ist oder zum dauerhaften Verbleib erteilt wurde. Ist nicht von einem dauerhaften Aufenthalt auszugehen , kann über Leistungen nach Ermessen entschieden werden. Sobald ein Rechtsanspruch auf Leistungen nach § 67 SGB XII besteht, können Hilfen zur Überwindung besonderer sozialer Schwierigkeiten bewilligt werden. Das Anwachsen unterschiedlicher Zielgruppen führt dazu, dass sowohl im Segment der ordnungsrechtlichen Unterbringung als auch bei der Wohnraumversorgung eine Konkurrenzsituation entstehen kann. 3. Wie bewertet der Senat die bestehenden Angebote der Wohnungslosenhilfe angesichts des mutmaßlich gestiegenen Bedarfs? Zu 3.: Die Vermeidung von Wohnraumverlust ist das primäre Ziel der Berliner Wohnungslosenpolitik. Die Angebots- und Unterbringungssituation für wohnungslose Menschen in Berlin untergliedert sich wie folgt: Die ordnungsrechtliche Unterbringung wohnungsloser Menschen in Berlin liegt gemäß ASOG Berlin im Aufgabenbereich der Bezirke. Der Senat nimmt einen gestiegenen Bedarf an Unterbringungskapazitäten wahr und unterstützt die Bezirke bei der Schaffung neuer Kapazitäten. Dies ist angesichts des angespannten Immobilienmarktes kurzfristig nur schwer lösbar. Abgeordnetenhaus Berlin – 17. Wahlperiode Drucksache 17 / 16 730 2 Persönliche Hilfen zur Überwindung sozialer Schwierigkeiten gemäß § 67 SGB XII sind im Berliner Rahmenvertrag nach § 79 Abs.1 SGB XII zwischen dem Land Berlin und den Verbänden der freien Wohlfahrtspflege vereinbart. Es bestehen Vereinbarungen mit rund 50 Leistungsanbietern nach § 75 Abs. 3 SGB XII. Diese Angebote werden zwischen den Vertragspartnern fachlich ständig weiterentwickelt und an die Bedarfe angepasst. Eine bedarfsgerechte Versorgung wohnungsloser und von Wohnungslosigkeit bedrohter Menschen mit Wohnraum ist zunehmend problematisch in dem seit längerem angespannten Berliner Wohnungsmarkt. Die weiterhin gestiegenen Wohnungsmieten insbesondere im unteren Preissegment, das den Anforderungen der „Ausführungsvorschriften zur Gewährung von Leistungen gemäß § 22 SGB II und §§ 35 und 36 SGB XII (AV-Wohnen)“ von sozialhilferechtlich angemessenen Unterkunftskosten entspricht, erschweren die Vermittlung der Zielgruppe in eigenen Wohnraum. Darüber hinaus gibt es im Rahmen der Förderung durch das Integrierte Sozialprogramm (ISP) niedrigschwellige Projekte der Wohnungslosenhilfe. Ziel aller Angebote ist die Versorgung und Unterstützung Wohnungsloser , die Integration Menschen in die Regelversorgung . Im Laufe des bei der Senatsverwaltung für Gesundheit und Soziales bereits begonnenen Arbeitsprozesses der Überarbeitung der Leitlinien der Wohnungslosenhilfe und Wohnungslosenpolitik werden alle betroffenen Senatsverwaltungen , die Berliner Bezirke sowie die Spitzenverbände der freien Wohlfahrtspflege und die Träger sowie die Betroffenen durch Einbindung der Interessenvertretungen beteiligt. In diesem Zusammenhang werden die Bedarfe, die bestehenden Angebote und die Unterbringungssituation wohnungsloser und von Wohnungslosigkeit bedrohter Menschen analysiert, zentrale Fragestellungen herausgearbeitet und erforderliche Maßnahmen abgeleitet. 4. Wie bewertet der Senat die für die Wintermonate erwarteten Angebote der Kältehilfe angesichts des mutmaßlich gestiegenen Bedarfs? Zu 4.: Die „Kältehilfe“ ist ein Sonderprogramm für auf der Straße lebende Menschen, die die Regelversorgung nicht an Anspruch nehmen. Die „Kältehilfe“ ist in der Systematik der Versorgungsstruktur ein Notprogramm für wohnungslose Menschen, die den Zugang zur Regelversorgung noch nicht erreicht haben und/oder über keine Wohnung verfügen. Die „Kältehilfe“ beinhaltet primär die Schaffung von Notschlafplätzen, um dem Personenkreis ein niedrigschwelliges Angebot ohne Hürde (keine Vorlage von Ausweisdokumenten) zu unterbreiten. Ziel ist, die Menschen vor der Kälte zu schützen bzw. den Erfrierungstod zu verhindern. In der Bezirksstadträtesitzung im September 2015 wird mit den Sozialstadträtinnen und Sozialstadträten - wie jedes Jahr - die weitere Planung zur Vorbereitung der kommenden Kältehilfeperiode abgesprochen. Die Berliner Bezirke werden wie in den Vorjahren eine Vorsorge zur Einrichtung von Notschlafplätzen bis zu einer Höhe von 600 Plätzen treffen. Der Senat hat wegen der zu erwartenden stärkeren Inanspruchnahme der Kältehilfe durch Personen, die eigentlich im Bereich der Flüchtlingsunterkünfte eine Versorgung erhalten müssten, diese Thematik explizit in die Arbeit des mit Senatsbeschluss vom 11.08.2015 eingerichteten Landesweiten Koordinierungsstabes Flüchtlingsmanagement einbezogen. 6. Trifft nach den Erkenntnissen des Senats und der Bezirke die Wahrnehmung des Fragestellers zu, dass eine zunehmende Zahl von Menschen auf öffentlichem Straßenland und in Grünanlagen übernachten und wie bewertet der Senat diese Entwicklung? Zu 6.: Die bezirklichen Ordnungsämter führen keine Statistiken über die Zahl der von ihren Beschäftigten auf öffentlichem Straßenland oder in Grünanlagen nächtigend angetroffenen Personen. In der Mehrzahl der Berliner Bezirke haben die Außendienstkräfte der bezirklichen Ordnungsämter keine spürbaren Veränderungen feststellen können, zumal in der Regel der Streifendienst des Allgemeinen Ordnungsdienstes schon vor der gängigen Schlafzeit endet. Lediglich zwei Bezirke konnten signifikante Veränderungen von den Außendienstkräften der bezirklichen Ordnungsämter feststellen: In den Grünanlagen des Bezirks Mitte ist die Anzahl von campierenden wohnungslosen Menschen extrem stark angestiegen. In den letzten Monaten wurden daher eine ganze Reihe von gemeinsamen Räumungseinsätzen von Polizei und Ordnungsamt durchgeführt. Vor allem in der Nähe von Bahnhöfen, Bahnviadukten und anderen Unterstellmöglichkeiten häuft sich die Ausbreitung ganzer Zeltstädte mit den ganzen unschönen Hinterlassenschaften . Hingegen beobachtet das Ordnungsamt Mitte keine signifikanten Veränderungen der Zahl der Obdachlosen, die unter Brücken und an ähnlichen Orten nächtigen. Im Bezirksamt Treptow-Köpenick ist erstmalig in diesem Jahr das Phänomen von größeren Personengruppen (ca. 20-30 Personen) aufgetreten, die mehrere Grünanlagen nutzen, um dort zu schlafen. Tagsüber halten sich diese Personen an anderen, dem Bezirksamt nicht bekannten Orten auf. Es ist nicht auszuschließen, dass sie sich infolge eines Verdrängungseffekts aus anderen Bezirken nun in Treptow-Köpenick niederlassen. Abgeordnetenhaus Berlin – 17. Wahlperiode Drucksache 17 / 16 730 3 Da es sich bei Übernachtungen in Grünanlagen und auf öffentlichem Straßenland um keine Straftaten handelt, liegen der Berliner Polizei keine entsprechenden Erkenntnisse über zahlenmäßige Veränderungen bei den von der Fragestellung betroffenen Personen vor. 7. Wie ist die Rechtslage für die verschiedenen Möglichkeiten , sich zumindest vorübergehend für Übernachtungen auf öffentlichem Straßenland oder in Grünanlagen einzurichten (z.B. Zelt, Tarp, Biwaksack, Schlafsack mit Isomatte, Bau eines Shelters) und wie wird diese Rechtslage von den zuständigen Behörden gehandhabt? Zu 7.: Das Grünanlagengesetz geht in § 6 von einer schonenden Nutzung aus, bei der die Anpflanzungen und Ausstattungen der Grünanlagen nicht beschädigt, verschmutzt oder anderweitig beeinträchtigt werden und andere Anlagenbesucherinnen und Anlagenbesucher nicht gefährdet oder unzumutbar gestört werden. Es gibt keine expliziten Aussagen zum Übernachten in Grünanlagen in dieser Rechtsvorschrift. Allerdings werden sehr viele zu ahndende Verhaltensweisen ausdrücklich im § 7 Grünanlagengesetz aufgezählt, die häufig im Umfeld von Nachtschlafplätzen festgestellt werden: Dies sind; Beschädigungen von Anpflanzungen, freilaufende Hunde bzw. Hunde auf Liegewiesen und in Gewässern, Anzünden von Feuern und nicht unverzügliche Entfernung von Exkrementen. Darüber hinaus können die Bezirksverwaltungen gemäß § 6 Abs. 4 Grünanlagengesetz auch noch Beschränkungen bezüglich der Benutzungsarten und Öffnungszeiten ihrer Grünanlagen festsetzen und durch entsprechende Beschilderungen ausweisen. Verstöße gegen diese Bestimmungen können ebenfalls als Ordnungswidrigkeiten mit einer Geldbuße bis zu 5.000 € (§ 7 Abs. 3 Grünanlagengesetz ) geahndet werden. Das Nächtigen auf öffentlichem Straßenland gehört nicht zum Gemeingebrauch und unterliegt daher auch als Sondernutzung der Erlaubnis durch die Straßenbaubehörde (§ 11 Abs. 1 Berliner Straßengesetz). Entsprechende Genehmigungsverfahren sind dem Senat allerdings nicht bekannt. Die mit dem Nächtigen auf öffentlichem Straßenland häufig verbundenen Begleiterscheinungen stellen allerdings Ordnungswidrigkeiten nach § 9 Abs.1 Nr. 4 Straßenreinigungsgesetz dar und können geahndet werden Berlin, den 20. August 2015 Mario C z a j a _____________________________ Senator für Gesundheit und Soziales (Eingang beim Abgeordnetenhaus am 24. Aug. 2015)