Drucksache 17 / 17 049 Schriftliche Anfrage 17. Wahlperiode Schriftliche Anfrage der Abgeordneten Katrin Möller (LINKE) vom 21. September 2015 (Eingang beim Abgeordnetenhaus am 22. September 2015) und Antwort Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge - Verordnete Verwandtschaft? Die Drucksachen des Abgeordnetenhauses sind bei der Kulturbuch-Verlag GmbH zu beziehen. Hausanschrift: Sprosserweg 3, 12351 Berlin-Buckow · Postanschrift: Postfach 47 04 49, 12313 Berlin, Telefon: 6 61 84 84; Telefax: 6 61 78 28. Im Namen des Senats von Berlin beantworte ich Ihre Schriftliche Anfrage wie folgt: 1. Welches Verfahren wurde per 17. Juni 2015 von wem, mit welcher Zielstellung und mit welcher Begründung geändert, wonach seitens der für Jugend zuständigen Senatsverwaltung keine „Prüfung einer Familienzusammenführung “ stattfindet, wenn unbegleitete minderjährige Flüchtlinge gemeinsam mit vermutlich volljährigen Personen einreisen? 2. In wie vielen Fällen wurde das von der Mitarbeiterin der für Jugend zuständigen Senatsverwaltung, Frau U.W., unterzeichnete Schreiben von der Erstaufnahmeund Clearingstelle ausgegeben, wonach unter Verweis auf die o.g. Verfahrensänderung unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen ein jugendhilfegerechtes Erstaufnahme- und Clearingverfahren verweigert und diese an das LAGeSo und die Sammel- und Notunterkünfte verwiesen wurden? 3. Wie ist es zu erklären, dass o.g. Schreiben ohne jeden Verweis auf die ihm zugrunde liegenden rechtlichen Grundlagen und ohne Rechtsmittelbelehrung die/den mit dem unbegleiteten minderjährigen Flüchtling Mitreisenden zu Erziehungsberechtigten macht, ohne deren verwandtschaftliches Verhältnis zu klären, ohne deren Eignung zu prüfen, den Willen der Beteiligten zu erfahren, ohne jeden rechtlichen Beistand zu sichern und ohne jede familiengerichtliche Entscheidung einzuholen? 4. Wie bewertet der Senat Einschätzungen, wonach die o.g. und offenbar mehrfach geübte Praxis seitens der für Jugend zuständigen Senatsverwaltung jedweder rechtlichen Grundlage entbehrt und nur dem Ziel dient, die Zahl der unbegleitet einreisenden Minderjährigen zu begrenzen und deren jugendhilfegerechte Unterbringung und Betreuung aus Kostengründen zu vermeiden? 5. Welche rechtlichen Voraussetzungen müssen erfüllt sein, um mitreisende Personen für den unbegleitet einreisenden minderjährigen Flüchtling im Sinne des Gesetzes verantwortlich zu machen? Wer entscheidet darüber nach welchem Verfahren und welchen Kriterien? 10. Wie wird der Senat garantieren, dass die Rechte unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge gewahrt bleiben, auch wenn sie mit Erwachsenen einreisen und Dritte mit der Übernahme von Verantwortung nicht überfordert werden? 11. Wird der Senat o.g. Schreiben zurückziehen und dafür Sorge tragen, dass ernsthafte und mit dem Recht übereinstimmende Einzelfallprüfungen durch die für die Jugendhilfe zuständigen Behörden stattfinden, der Wille der Betroffenen gehört wird und Geschwister, auch im Interesse des Kindeswohls, nicht auseinandergerissen werden? Zu 1. bis 5. und 10. bis 11.: Die Senatsverwaltung ist verpflichtet unbegleitete minderjährige Flüchtlinge gemäß § 42 SGB VIII in Obhut zu nehmen. Die gesetzliche Formulierung stellt in Absatz 1 Nr. 3 klar, dass dieser Fall vorliegt, wenn sich „weder Personensorge- noch Erziehungsberechtigte im Inland aufhalten.“ Damit ist bereits im Gesetz unzweifelhaft formuliert, dass eine die Inobhutnahme ausschließende Begleitung auch vorliegt, wenn zwar nicht die sorgeberechtigten Eltern jedoch andere Erziehungsberechtigte die Minderjährige bzw. den Minderjährigen begleiten oder im Inland aufhältlich sind. Bezogen auf die Definition des Erziehungsberechtigten wird auf § 7 Nr.6 SGB VIII verwiesen.: „Erziehungsberechtigter ist der Personensorgeberechtigte und jede sonstige Person über 18 Jahre, soweit sie aufgrund einer Vereinbarung mit den Personensorgeberechtigten nicht nur vorübergehend und nicht nur für einzelne Verrichtungen Aufgaben der Personensorge wahrnimmt“. Abgeordnetenhaus Berlin – 17. Wahlperiode Drucksache 17 / 17 049 2 Die Verfahrensänderung vom 17.06.2015 beinhaltet lediglich, dass die Angaben der Personen, die mit Minderjährigen einreisen, zum Ausgangspunkt für das weitere Verfahren gemacht werden, um gemeinsam Eingereiste zunächst nicht zu trennen. Dies entspricht der EU Verordnung 604/2013, wonach minderjährige Flüchtlinge nicht unbegleitet sind, solange sie sich tatsächlich in der Obhut von verantwortlichen Erwachsenen befinden. Sind Minderjährige begleitet eingereist und erklären die Verwandten , sich nicht weiter um sie kümmern zu können, sind diese an die Erstaufnahmeeinrichtung für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge (EAC) weiterzuleiten. Bei Minderjährigen, die bereits durch das Landejugendamt in Obhut genommen wurden, erfolgt eine Prüfung unter Berücksichtigung der Angaben der betreffenden Personen und ggf. vorgelegten Unterlagen. 6. Welchen Stellenwert hat bei der Entscheidung über die Übernahme der Erziehungsberechtigung für einen unbegleiteten minderjährigen Flüchtling das Kindeswohl und Wille und Eignung der Personen? 7. Welche besonderen Verfahren gelten, wenn ältere Geschwister oder andere nahe Verwandte die Verantwortung für Minderjährige übernehmen sollen? Wer prüft das Verwandtschaftsverhältnis, deren Eignung und wer entscheidet letztendlich? 8. Welche Regelungen kommen zur Anwendung, wenn Minderjährige mit jungen volljährigen Geschwistern einreisen, die Älteren jedoch, z.B. aufgrund eigener Traumatisierung, nicht in der Lage sind, Verantwortung zu übernehmen? Zu 6., 7. und 8.: Wie in der Definition in § 7 Nr. 6 SGB VIII deutlich wird, liegt die Entscheidung, ob und wer als Erziehungsberechtigte/r benannt wird und handeln soll, in der Entscheidung des Sorgeberechtigten, d.h. in der Regel der Eltern. Soweit ein/e Erziehungsberechtigter /e offenkundig nicht in der Lage oder Willens ist, die damit verbundene Verantwortung zu tragen, liegt eine Begleitung im Sinne des § 42 Abs. 1 Nr. 3 SGB VIII nicht vor. Damit sind die Voraussetzungen einer Inobhutnahme gemäß § 42 SGB VIII gegeben. Auch eine volljährige Schwester bzw. ein volljähriger Bruder kann nur ein Erziehungsberechtigte/r sein, wenn sie oder er in der Lage ist, die entsprechende Verantwortung zu übernehmen. 9. Wie wird garantiert, dass die Familie zusammenbleibt und Jüngere gemeinsam mit den älteren Geschwistern oder anderen nahen Verwandten nach Jugendhilferecht untergebracht und versorgt werden, eingedenk der Tatsache, dass das SGB VIII auch für junge Volljährige zuständig ist? Zu 9.: Das Kinder- und Jugendhilferecht ist maßgeblich , soweit die Voraussetzungen erfüllt sind. Die Voraussetzungen der Inobhutnahme sind unmittelbar der gesetzlichen Regelung zu entnehmen. Danach scheidet eine Inobhutnahme einer/eines Volljährigen aus. Bei der Verteilung von volljährigen Flüchtlingen ist darauf zu achten, dass Verwandte und Familien nicht regional getrennt untergebracht werden. Volljährige können – soweit diese unter 21 Jahre sind-, einen Antrag auf Hilfe für junge Volljährige gemäß § 41 SGB VIII stellen. Die entsprechende Prüfung und eventuell Hilfeplanung erfolgt durch das zuständige Jugendamt. Berlin, den 07. Oktober 2015 In Vertretung Sigrid Klebba Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Wissenschaft (Eingang beim Abgeordnetenhaus am 12. Okt. 2015)