Drucksache 17 / 17 069 Schriftliche Anfrage 17. Wahlperiode Schriftliche Anfrage des Abgeordneten Tom Schreiber (SPD) vom 15. September 2015 (Eingang beim Abgeordnetenhaus am 23. September 2015) und Antwort Abschiebung aus dem Klassenzimmer – Gängige Praxis oder Einzelfall? Die Drucksachen des Abgeordnetenhauses sind bei der Kulturbuch-Verlag GmbH zu beziehen. Hausanschrift: Sprosserweg 3, 12351 Berlin-Buckow · Postanschrift: Postfach 47 04 49, 12313 Berlin, Telefon: 6 61 84 84; Telefax: 6 61 78 28. Im Namen des Senats von Berlin beantworte ich Ihre Schriftliche Anfrage wie folgt: 1. Welche Erkenntnisse liegen dem Senat bzgl. der Praxis der Herausnahme von Schülerinnen und Schülern aus dem Unterricht zum Zwecke der Abschiebung vor? Zu 1.: Seit 2012 wird bei Abschiebungen so weit wie möglich auf Freiheitsentziehungen verzichtet. Stattdessen wird der Abschiebungsvollzug so organisiert, dass es nur zu Freiheitsbeschränkungen kommt, die weniger in die Grundrechte der Betroffenen eingreifen und somit das mildere und verhältnismäßigere Mittel zur Durchsetzung der Ausreisepflicht als eine Inhaftnahme darstellen. Bei diesen Abschiebungen werden vollziehbar ausreisepflichtige Personen, die ihrer Pflicht zur freiwilligen Ausreise nicht nachgekommen sind, an ihrer Aufenthaltsadresse auf Ersuchen der Ausländerbehörde von Mitarbeiterinnen bzw. Mitarbeitern der Polizei aufgesucht . Sie werden über das Prozedere der Rückführung informiert und nachdem sie ihre Sachen gepackt haben zum Flughafen gefahren, um von dort mittels eines bereits im Vorfeld für den gleichen Tag gebuchten Fluges in ihr Heimatland zurückgeführt zu werden. Die Betroffenen wissen um ihre vollziehbare Ausreisepflicht und haben ausreichend Zeit und Gelegenheit, vor einer Rückführung freiwillig auszureisen und somit den Zeitpunkt und die Umstände ihrer Ausreise selbst zu bestimmen. Keine Abschiebung trifft die Betroffenen völlig unvorbereitet. Sind in diesem Zusammenhang Familien mit schulpflichtigen Kindern betroffen, die ggf. schon auf dem Weg zur bzw. bereits in der Schule sind, werden diese nach Möglichkeit nach vorheriger Abstimmung mit den Eltern und mit der Schule von dort abgeholt, um die Familie zusammen ausreisen lassen zu können. Dass Kinder in Ausnahmefällen aus Schulen abgeholt werden, um eine Rückführung im Familienverbund zu gewährleisten, ist schon seit vielen Jahren gängige Praxis im Land Berlin (siehe Drucksache Nr. 15/1824). Allerdings erfolgen Abholungen aus der Schule aus Gründen der Verhältnismäßigkeit nur in besonders begründeten Einzelfällen und insbesondere dann, wenn die Eltern dies ausdrücklich wünschen, um Familientrennungen zu vermeiden . Ist eine solche Maßnahme erforderlich und geboten, treten Polizeibeamtinnen bzw. Polizeibeamte in ziviler Kleidung - meist werden hierfür speziell geschulte Polizeibeamtinnen bzw. Polizeibeamte der Arbeitsgebiete Integration und Migration (AGIM) eingesetzt - an die jeweilige Schulleitung heran und stimmen mit ihr das weitere Vorgehen ab. Um die Belastung für das betreffende Kind so gering wie möglich zu halten, holen die Beamtinnen bzw. Beamten das Kind nicht selbst aus dem Klassenzimmer ab, sondern überlassen dies in Absprache mit der Schulleitung nach Möglichkeit dem Schulpersonal , ggf. unter Beteiligung eines Elternteils. 2. In wie vielen Fällen in den Jahren von 1999 bis heute wurden Schülerinnen und Schüler direkt aus dem Unterricht herausgenommen, um gemeinsam mit ihren Eltern der Abschiebung zugeführt zu werden? (Aufstellung nach Jahren, Monaten und Bezirken erbeten.) 3. In wie vielen Fällen waren die Schülerinnen und Schüler in diesem Zeitraum in Willkommensklassen und in wie vielen Fällen in regulären Schulklassen untergebracht ? (Aufstellung erbeten) 4. In welche Staaten wurden Kinder und Jugendliche mit ihren Familien in den unter 2. genannten Fällen und Zeiträumen abgeschoben? Abgeordnetenhaus Berlin – 17. Wahlperiode Drucksache 17 / 17 069 2 Zu 2. bis 4.: Die Anzahl der Fälle, in denen Kinder mit Hilfe der Schulleitung aus der Schule abgeholt werden mussten, um eine Rückführung im Familienverband gewährleisten zu können, wird statistisch nicht erhoben. Es handelt sich jedoch um Ausnahme- bzw. Einzelfälle. Eine Aussage darüber, ob die Kinder in Willkommensklassen oder in regulären Schulklassen untergebracht waren, ist vor diesem Hintergrund ebenso wenig möglich wie eine Angabe der Staaten, in welche die Kinder bzw. Jugendlichen mit ihren Familien zurückgeführt worden sind. 5. In wie vielen der unter 2. genannten Fälle und Zeiträume wurde die Abschiebung durch die Bundespolizei durchgesetzt? (Aufstellung erbeten) 6. In wie vielen der unter 2. genannten Fälle und Zeiträume wurde die Abschiebung durch die Berliner Polizei durchgesetzt? (Aufstellung erbeten) Zu 5. und 6.: Auf die Beantwortung der Fragen 2. bis 4. wird verwiesen. Die erfragten Angaben werden statistisch nicht erfasst. Grundsätzlich werden die im Vorfeld der eigentlichen Rückführung erforderlichen Maßnahmen innerhalb des Landes Berlin, wie beispielsweise das Aufsuchen der betreffenden Personen an ihrer Aufenthaltsanschrift , die Information über die bevorstehenden Maßnahmen , ggf. Veranlassung der Abholung von Kindern aus der Schule sowie Transfer zum Flughafen, von Mitarbeiterinnen bzw. Mitarbeitern der Polizei Berlin getroffen. Erst am Flughafen erfolgt die Übergabe an Mitarbeiterinnen bzw. Mitarbeiter der Bundespolizei, welche erforderlichenfalls die Begleitung der Betreffenden auf dem Luftweg übernehmen. 7. Inwieweit wird bei der Beschulung von Kindern und Jugendlichen aus sogenannten sicheren Herkunftsländern eine Unterscheidung (z.B. bei der Unterbringung in Willkommensklassen) vorgenommen? Zu 7.: Eine solche Unterscheidung wird nicht vorgenommen . 8. Seit wann gilt die, durch die Senatorin für Bildung, Jugend und Wissenschaft beschriebene Praxis, dass Kinder und Jugendliche nicht aus dem Schulunterricht heraus der Abschiebung zugeführt werden sollen? Zu 8.: Auf die Beantwortung der Frage 1 wird verwiesen . Es ist in Berlin schon seit vielen Jahren Praxis, Kinder in besonders begründeten Einzelfällen in Absprache mit und unter Beteiligung der Schulleitung auch aus Schulen abzuholen, um eine Rückführung im Familienverbund zu gewährleisten. 9. Welche Maßnahmen hat die Senatsverwaltung für Inneres und Sport aufgrund des schriftlichen Protests der Senatorin für Bildung, Jugend und Wissenschaft bzgl. des unter 2. Beschriebenen Verfahrens umgesetzt? Zu 9.: Die Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Wissenschaft hat die Senatsverwaltung für Inneres und Sport zu einem Abstimmungsgespräch eingeladen, in dem darüber beraten werden soll, ob bzw. wie die derzeitige Verfahrensweise gegebenenfalls schonender gestaltet werden kann. 10. Wann wird der Polizeipräsident von Berlin seinen Bericht bzgl. der Vorgehensweise der eingesetzten Polizeibeamtinnen und Beamten in den Fällen aus dem laufenden Jahr vorlegen? Zu 10.: Eine Berichtspflicht im Sinne der Fragestellung ist dem Senat nicht bekannt. Eine solche wird auch für nicht erforderlich erachtet, da es sich um Einzelfälle handelt, die im Rahmen einer intensiven Verhältnismäßigkeitsprüfung sorgfältig abgewogen werden. 11. Kann auf Grundlage dieses Berichts des Polizeipräsidenten davon ausgegangen werden, dass die unter 2. beschriebene Praxis eingestellt wird? Zu 11.: Auf die Beantwortung der Fragen 1. und 10. wird verwiesen. Grundsätzliche Bestrebung ist es jedoch, Familien morgens – das heißt, bevor die Kinder zur Schule gehen – gemeinsam im Wohnheim bzw. ihrer Unterbringungseinrichtung zum Zwecke der Abschiebung aufzusuchen. Dies ist jedoch nicht immer leistbar, da die Polizei am Tag der Rückführungsmaßnahme aufgrund der derzeitigen Unterbringungssituation zum Teil mehr als 50 verschiedene Einrichtungen anfahren muss. Angesichts der geplanten Änderung des Asylbeschleunigungsgesetzes, nach der der Aufenthalt abgelehnter Asylantragstellerinnen und -antragsteller aus sicheren Herkunftsländern aus den Erstaufnahmeeinrichtungen heraus beendet werden soll, könnte sich diese Problematik in Zukunft möglicherweise entspannen . 12. Gab es zwischen der Senatsverwaltung für Inneres und Sport sowie der Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Wissenschaft zu irgendeinem Zeitpunkt zwischen 1999 und 2015 eine Vereinbarung darüber, keine Kinder und Jugendlichen aus dem Schulunterricht heraus der Abschiebung zuzuführen? Zu 12.: Nein, eine solche Vereinbarung gab es nicht. Es wird auf die Beantwortung der Frage 1 verwiesen. Abgeordnetenhaus Berlin – 17. Wahlperiode Drucksache 17 / 17 069 3 13. Inwieweit schätzt der Senat die Berliner Schulen als geschützten und schützenswerten Raum ein? Zu 13.: Schule verwirklicht im Rahmen einer festen Struktur das Recht auf Bildung und Erziehung. In Schulen wird Kindern Wissen und soziale Kompetenz vermittelt; sie sollen ihre Fähigkeiten erkennen und ausbauen. Der Schulbesuch wird als ebenso wichtig für soziale Interaktion eingeschätzt wie der familiäre Kontext. Insofern ist Schule als geschützter und schützenswerter Raum zu betrachten. Sind im Einzelfall Maßnahmen unvermeidbar, die diesen schützenswerten Bereich tangieren, ist mit äußerster Sorgfalt und Sensibilität vorzugehen, um die Belastungen, insbesondere für die Kinder, so gering wie möglich zu halten. 14. Welche Berücksichtigung erfährt der Protest der Schulleiterinnen und Schulleiter bei dem unter 2. genannten Verfahren? Zu 14.: Auf die Beantwortung der Fragen 9. und 11. wird verwiesen. 15. Wie sind die vom Senator für Inneres und Sport genannten „Einzelfälle“ in denen Kinder und Jugendliche aus dem Unterricht heraus der Abschiebung zugeführt werden definiert und welche Maßstäbe werden hierbei angesetzt? Zu 15.: Bei den beschriebenen Maßnahmen handelt es um Einzelfälle im Zusammenhang mit Rückführungsmaßnahmen , in denen Kinder - zumeist auf Wunsch bzw. unter Beteiligung der Eltern - durch Schulpersonal aus der Schulklasse abgeholt werden, um eine Rückführung im Familienverbund gewährleisten zu können. Zielrichtung der Maßnahme ist es, Kinder nicht längerfristig von einem Elternteil und ggf. Geschwistern zu trennen, sondern die Familie gemeinsam ausreisen zu lassen, insbesondere dann, wenn die Eltern dies ausdrücklich wünschen, um Familientrennungen zu vermeiden. Abholungen aus der Schule erfolgen aus Gründen der Verhältnismäßigkeit nur im Ausnahmefall nach sorgfältiger, individueller Prüfung und sind Ergebnis einer Einzelfallentscheidung. 16. Inwieweit schätzt die Senatsverwaltung für Inneres und Sport die Herausnahme von Kindern und Jugendlichen aus dem Unterricht zum Zwecke der Zuführung zur Abschiebung durch Lehrkräfte als rücksichtsvoller ein, als durch Polizeibeamtinnen und -beamte in Zivil? Zu 16.: Mit der Hinzuziehung schulischen Personals für die in Ausnahmefällen erforderliche Abholung von Kindern und Jugendlichen aus der Schule zur Vermeidung einer Familientrennung wird diese Maßnahme nach Auffassung des Senats möglichst schonend durchgeführt. Eine erkennbare Präsenz von Polizeibeamtinnen bzw. – beamten in den Klassenräumen, die ggf. eine stärkere Verunsicherung bei Schülerinnen und Schülern hervorrufen würde, wird somit grundsätzlich vermieden, und zusätzliche Belastungen sowohl für die betreffenden Kinder als auch für deren Mitschülerinnen und Mitschüler werden so gering wie möglich gehalten. 17. In wie vielen Fällen wurden Kinder und Jugendliche durch die Berliner Polizei in unter 2. genanntem Zeitraum unmittelbar vor der Schule aufgegriffen und gemeinsam mit den Eltern der Abschiebung zugeführt. (Aufstellung nach Jahren und Bezirken erbeten) 18. In wie vielen der unter 17. beschriebenen Fälle waren die Beamtinnen uniformiert bzw. in Zivil (Aufstellung nach Jahren sowie der Kenntlichkeit der Polizeieigenschaft erbeten) Zu 17. und 18.: Hierzu liegt keine statistische Erfassung vor. 19. Wie schätzt der Senat die Dissonanz zwischen der Begrifflichkeit der „Willkommensklassen“ und der Herausnahme von Kindern und Jugendlichen aus diesen zum Zwecke der Abschiebung ein? Zu 19.: Eine vermeintliche Dissonanz zwischen dem Begriff „Willkommensklasse“ und der Tatsache, dass Kinder in geprüften Einzelfällen ggf. auch aus der Schule abgeholt werden, um Familienmitglieder im Rahmen des Vollzugs der Ausreisepflicht, der die Familie im Vorfeld nicht freiwillig nachgekommen ist, nicht voneinander trennen zu müssen, liegt aus Sicht des Senats hier nicht vor. Willkommensklassen sind Bestandteil sowohl von Integrations- als auch von Übergangsmaßnahmen. Diese sind allesamt danach ausgerichtet, Kindern so lange es möglich ist, eine Alltagsnormalität zu ermöglichen und ihrem Anspruch auf Bildung in dieser Zeit gerecht zu werden. Diese Maßnahmen können aber nicht dazu führen , dass auf die Durchsetzung der vollziehbaren Ausreisepflicht verzichtet wird. 20. Wie schätzt der Senat das Risiko einer Traumatisierung von Kindern und Jugendlichen ein, die zum Zwecke der Abschiebung aus dem Schulunterricht geführt werden. 21. Wie schätzt der Senat das Risiko einer Traumatisierung von Kindern und Jugendlichen ein, die als verbleibende Schülerinnen und Schüler in einer Willkommensklasse die Entfernung ihrer Klassenkameradinnen und -kameraden zum Zwecke der Abschiebung erleben müssen? Zu 20. und 21.: Eine Abschiebung ist für die Betroffenen – und insbesondere für Kinder – immer belastend. Daher geht die Polizei stets sehr sensibel vor, wenn Kinder von einer Abschiebung betroffen sind. Dies gilt insbesondere dann, wenn eine Abholung von Kindern aus der Schule erforderlich ist, um eine Rückführung im Familienverbund zu ermöglichen. Die Abholung der Kinder erfolgt meist auf ausdrücklichen Wunsch der Eltern, damit die gesamte Familie gemeinsam ausreisen kann. Mit dieser Praxis wird eine – unter Umständen längerfristige – Abgeordnetenhaus Berlin – 17. Wahlperiode Drucksache 17 / 17 069 4 Familientrennung, die aus Sicht des Senats psychisch wesentlich belastender sein kann als eine gemeinsame Abschiebung, vermieden. Davon abgesehen haben die Eltern stets die Möglichkeit , der vollziehbaren Ausreisepflicht durch eine freiwillige , ggf. auch geförderte Ausreise zu entsprechen und ihren Kindern so die psychischen Belastungen einer Abschiebung zu ersparen. Letztlich ist es auch erforderlich, das Thema „Abschiebung “ in geeigneter Form auch in den Schulen zu erörtern und – sowohl für Regel- als auch Willkommensklassen – zum Gegenstand des Unterrichts zu machen. Es muss ein grundlegendes Verständnis dafür geweckt werden , dass sich der Aufenthalt in der Bundesrepublik an rechtlichen Kriterien orientiert und die staatlichen Stellen verpflichtet sind, vollziehbare Ausreisepflichten durchzusetzen , wenn die Betroffenen nicht bereit sind, ihrer Pflicht zur Ausreise freiwillig nachzukommen. Nur so kann dafür Sorge getragen werden, dass Kinder und Jugendliche derartige Erlebnisse besprechen, deren Zusammenhänge und Hintergründe verstehen und auch verarbeiten können, so dass möglichen negativen psychischen Auswirkungen schon im Vorfeld aktiv entgegengewirkt werden kann. 22. Welche Nachsorge bietet das Land Berlin für verbliebene Schülerinnen und Schüler in den regulären Schul- sowie den Willkommensklassen, deren Aufenthalt bislang nicht entschieden wurde? Zu 22.: Die Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Wissenschaft wird die Schulleitungen und Lehrkräfte für diese Thematik sensibilisieren. Ziel ist es, dass Lehrkräfte die Ängste der betroffenen Klassengemeinschaft aufgreifen , damit die Kinder mit dieser schwierigen Situation besser umgehen können. Die im Rahmen des Sofortmaßnahme -Paketes eingestellten Schulpsychologinnen und Schulpsychologen werden hier im Bedarfsfall unterstützend tätig werden. Berlin, den 08. Oktober 2015 In Vertretung Bernd Krömer Senatsverwaltung für Inneres und Sport (Eingang beim Abgeordnetenhaus am 14. Okt. 2015)