Drucksache 17 / 17 072 Schriftliche Anfrage 17. Wahlperiode Schriftliche Anfrage der Abgeordneten Regina Kittler und Hakan Taş (LINKE) vom 22. September 2015 (Eingang beim Abgeordnetenhaus am 22. September 2015) und Antwort Abschiebungen leicht gemacht (VI): Aus dem Klassenzimmer in den Abschiebeflieger Die Drucksachen des Abgeordnetenhauses sind bei der Kulturbuch-Verlag GmbH zu beziehen. Hausanschrift: Sprosserweg 3, 12351 Berlin-Buckow · Postanschrift: Postfach 47 04 49, 12313 Berlin, Telefon: 6 61 84 84; Telefax: 6 61 78 28. Im Namen des Senats von Berlin beantworte ich Ihre Schriftliche Anfrage wie folgt: 1. Wie viele ausreisepflichtige Minderjährige sind in den Jahren seit 2006 abgeschoben worden? Wie viele Abschiebungen davon fanden als Direktabschiebungen und wie viele als „Einladungsabschiebungen“ (Selbstgestellungen ) statt? 2. Wie viele ausreisepflichtige Kinder und Jugendliche sind in den Jahren seit 2006 direkt aus Schulen heraus von der Polizei abgeholt und abgeschoben worden (bitte – sofern möglich – nach Staatsangehörigkeit, Alter, Bildungsgang , Schule, Dauer der Beschulung und Regel-/ Willkommensklasse aufschlüsseln)? Zu 1. und 2.: Die gewünschten Daten werden statistisch nicht erfasst. 3. Trifft es zu, dass es in Berlin eine seit vielen Jahren bewährte Verfahrenspraxis war, ausreisepflichtige Kinder und Jugendliche nicht direkt aus Schulen abzuholen und abzuschieben? Wenn ja, warum wurde diese Praxis geändert? Zu 3.: Nein, dies trifft nicht zu. Allerdings darf aus Gründen der Verhältnismäßigkeit nur in besonders begründeten Einzelfällen von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht werden. Zudem werden hierfür meist speziell geschulte Polizeibeamtinnen bzw. Polizeibeamte der Arbeitsgebiete Integration und Migration (AGIM) in ziviler Kleidung eingesetzt. Diese holen das Kind nicht selbst aus dem Klassenzimmer ab, sondern überlassen dies – in Absprache mit der Schulleitung – nach Möglichkeit einem Elternteil oder dem Schulpersonal. 4. Welche Auswirkungen kann eine Abschiebung nach Kenntnis des Senats auf die psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen haben? Zu 4.: Eine Abschiebung ist für die Betroffenen – und insbesondere für Kinder – immer belastend. Daher geht die Polizei stets sehr sensibel vor, wenn Kinder von einer Abschiebung betroffen sind. Dies gilt, wie in der Antwort zu Frage 3 dargelegt, insbesondere dann, wenn eine Abholung von Kindern aus der Schule im begründeten Ausnahmefall unvermeidbar ist, um eine Rückführung im Familienverbund zu ermöglichen. Die Abholung der Kinder erfolgt meist auf ausdrücklichen Wunsch der Eltern, damit die gesamte Familie gemeinsam ausreisen kann. Mit dieser Praxis wird eine – unter Umständen längerfristige – Familientrennung, die aus Sicht des Senats psychisch wesentlich belastender sein kann als eine gemeinsame Abschiebung, vermieden. Davon abgesehen haben die Eltern stets die Möglichkeit , der vollziehbaren Ausreisepflicht durch eine freiwillige , ggf. auch geförderte Ausreise zu entsprechen und ihren Kindern so die psychischen Belastungen einer Abschiebung zu ersparen. 5. Welche Auswirkungen können die überfallartigen Direktabschiebungen, die Innensenator Henkel seit 2013 fast ausschließlich in Berlin durchführen lässt, nach Kenntnis des Senats auf die psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen haben, die selbst abgeschoben werden? Zu 5.: Die Betroffenen wissen um ihre vollziehbare Ausreisepflicht und haben in der Regel ausreichend Zeit und Gelegenheit, vor einer Rückführung freiwillig auszureisen und somit den Zeitpunkt und die Umstände ihrer Ausreise selbst zu bestimmen. Keine Abschiebung trifft die Betroffenen völlig unvorbereitet. Seit 2012 wird bei Abschiebungen so weit wie möglich auf Freiheitsentziehungen verzichtet. Stattdessen wird der Abschiebungsvollzug so organisiert, dass es nur zu Freiheitsbeschränkungen kommt, die weniger in die Grundrechte der Betroffenen eingreifen und somit das mildere und verhältnismäßigere Mittel zur Durchsetzung der Ausreisepflicht als eine Inhaftnahme darstellen. Hierbei wird mit größt- Abgeordnetenhaus Berlin – 17. Wahlperiode Drucksache 17 / 17 072 2 möglicher Sensibilität vorgegangen, um die Belastungen insbesondere für Kinder so gering wie möglich zu halten. 6. Welche Auswirkungen können die überfallartigen Direktabschiebungen nach Kenntnis des Senats auf die psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Regelklassen haben, die erleben müssen, dass ihre Mitschüler *innen aus dem Unterricht abgeholt und direkt abgeschoben werden, ohne sich von ihnen verabschieden zu können und ohne zu wissen, welche Zukunft diese erwartet etc.? 7. Welche Auswirkungen können die überfallartigen Direktabschiebungen nach Kenntnis des Senats auf die psychische Gesundheit von Mitschüler*innen in sog. Willkommensklassen haben, denen eventuell das gleiche Schicksal droht? Zu 6. und 7.: Es wird auf die Antwort zu Frage 4. verwiesen. 8. Wie bewertet der Senat die möglichen Auswirkungen einer Abschiebung auf die psychische Gesundheit von abgeschobenen Kindern und Jugendlichen? Zu 8.: Auf die Antwort zu Frage 4 wird verwiesen. 9. Wie viele Beschwerden von Lehrkräften und Schulleitungen gab es in den Jahren seit 2006, weil ausreisepflichtige Minderjährige direkt aus Schulen heraus von der Polizei abgeholt und abgeschoben wurden? Zu 9.: Beschwerden von Lehrkräften und Schulleitungen im Zusammenhang mit der Abholung ausreisepflichtiger Minderjähriger aus Schulen werden statistisch nicht gesondert erfasst. Aktuell sind drei Fälle aus den Bezirken Reinickendorf und Spandau bekannt. 10. Wie bewertet der Senat den Umstand, dass er bei Direktabschiebungen aus der Schule heraus, dem schulischen Personal abverlangt zu Mithelfer*innen von Abschiebungen zu werden? Zu 10.: Nach Auffassung des Senats ist das schulische Personal verpflichtet, die Erfüllung des gesetzlichen Auftrages , die Ausreisepflicht der Betroffenen durchzusetzen, nicht zu behindern. Letztlich dient die Hinzuziehung des schulischen Personals dazu, die in Ausnahmefällen erforderliche Abholung von Kindern und Jugendlichen aus der Schule zur Vermeidung einer Familientrennung möglichst schonend durchzuführen und damit eine erkennbare Präsenz von Polizeibeamtinnen bzw. Polizeibeamten in den Klassenräumen zu vermeiden. Berlin, den 6. Oktober 2015 In Vertretung Bernd Krömer Senatsverwaltung für Inneres und Sport (Eingang beim Abgeordnetenhaus am 15. Okt. 2015)