Drucksache 17 / 17 107 Schriftliche Anfrage 17. Wahlperiode Schriftliche Anfrage der Abgeordneten Dr. Klaus Lederer und Hakan Taş (LINKE) vom 29. September 2015 (Eingang beim Abgeordnetenhaus am 30. September 2015) und Antwort Ansprache von Personen durch das Landesamt für Verfassungsschutz Die Drucksachen des Abgeordnetenhauses sind bei der Kulturbuch-Verlag GmbH zu beziehen. Hausanschrift: Sprosserweg 3, 12351 Berlin-Buckow · Postanschrift: Postfach 47 04 49, 12313 Berlin, Telefon: 6 61 84 84; Telefax: 6 61 78 28. Im Namen des Senats von Berlin beantworte ich Ihre Schriftliche Anfrage wie folgt: 1. Unter welchen Voraussetzungen, auf Grundlage welcher rechtlichen Regelungen und zu welchen Zwecken erfolgen im Rahmen der Erfüllung des gesetzlichen Auftrags Ansprachen von Berlinerinnen und Berlinern durch den Berliner Verfassungsschutz? Zu 1.: Ansprachen durch den Berliner Verfassungsschutz erfolgen entweder im Rahmen offener Ermittlungen auf der Grundlage der §§ 8 Absatz 1, 7 Absatz 3 des Verfassungsschutzgesetzes Berlin (VSG Berlin) zu dem Zweck der Erhebung der für die Aufgabenerfüllung erforderlichen Daten oder auf der Grundlage des § 8 Absatz 2 Satz 1 Nr. 1, Absatz 4 VSG Berlin zum Zwecke der Anwerbung von Vertrauenspersonen, Informanten, überworbenen Agenten und Gewährspersonen. 2. Unternimmt der Berliner Verfassungsschutz wie die Polizei sogenannte Gefährderansprachen oder vergleichbare Ansprachen bei Bürgerinnen und Bürgern und wenn ja, welche Voraussetzungen müssen erfüllt sein, damit eine Person durch den Verfassungsschutz als Gefährder *in eingestuft wird? Zu 2.: Bei „Gefährderansprachen“ und „Gefährderanschreiben “ handelt es sich um polizeiliche Maßnahmen, die einen mündlichen oder schriftlichen Appell an die Betroffenen enthalten, sich gesetzeskonform zu verhalten, und ihre Rechtsgrundlage in § 17 des Allgemeinen Gesetzes zum Schutz der Sicherheit und Ordnung in Berlin (ASOG Berlin) finden. Dementsprechend erfolgt weder eine Einstufung noch eine Ansprache einer Person als „Gefährder“ durch den Berliner Verfassungsschutz. Im Übrigen siehe die Antwort zu Frage 1. 3. Inwiefern erhält der Berliner Verfassungsschutz Daten aus polizeilichen Ermittlungsmaßnahmen oder Akten/Datenbanken der Justiz über sog. Gefährder und anhand welcher Kriterien und auf welcher Rechtsgrundlage werden diese Daten übermittelt? Zu 3.: Nach der gesetzlichen Regelung des § 27 Absatz 1 Satz 2 und 1 VSG Berlin übermitteln die Staatsanwaltschaften und die Polizei von sich aus dem Berliner Verfassungsschutz die ihnen im Rahmen ihrer Aufgabenerfüllung bekannt gewordenen Informationen über Bestrebungen und Tätigkeiten nach § 5 Absatz 2 VSG Berlin . Bei „Gefährdern“ ist dies immer dann der Fall, wenn Anhaltspunkte bestehen, dass sie politisch motivierte Straftaten begehen werden und dies Ausdruck einer Bestrebung gegen die in § 5 Absatz 2 VSG Berlin genannten Schutzgüter ist. 4. Welche Voraussetzungen führen zur Erfassung einer Person als Gefährder*in im Polizeilichen Landesinformations - und Kommunikationssystem (POLIKS) oder in anderen – und ggf. welchen – Datenbanken der Polizei? Trifft es zu, dass es hierfür keiner rechtskräftigen strafrechtlichen Verurteilung bedarf? Zu 4.: Der Begriff Gefährder wird im polizeilichen Kontext in verschiedener Weise genutzt: a) Sogenannte Individualgefährder Die Erfassung als Gefährder im Polizeilichen Landessystem zur Information, Kommunikation und Sachbearbeitung (POLIKS) erfolgt nach Erstellung eines Gefährdungslagebildes im Zusammenhang mit einer sogenannten Individualgefährdung. Die erfasste Person tritt hier als Gefährder der Gesundheit oder im Sinne einer potenziellen Bedrohung von Leib oder Leben einer anderen Person in einem bestimmten Lebenssachverhalt in Erscheinung. Abgeordnetenhaus Berlin – 17. Wahlperiode Drucksache 17 / 17 107 2 Voraussetzung ist, dass bereits Informationen über das von der Person ausgehende Gefahrenpotenzial vorliegen. Dies können frühere Erkenntnisse sein, zum Beispiel zu: - Gewalttaten mit anhaltender Bedrohungslage (in der Regel häusliche Gewalt), - anhaltendes Stalking mit ansteigender Eskalationslinie , - mehrfache Bedrohung, - Fälle von „Gewalt im Namen der Ehre“ zum Beispiel § 237 Strafgesetzbuch „Zwangsheirat“, Bedrohung , Nötigung, Freiheitsberaubung, sogenannter Ehrenmord, - Gefährdungserkenntnisse aus einem laufenden Ermittlungsverfahren, - Bedrohungen/Nachstellungen durch psychisch kranke bzw. auffällige Personen, - Übersendung eines gerichtlichen Beschlusses nach dem Gewaltschutzgesetz an die Polizei. Zum Zeitpunkt der Erstellung des Lagebildes muss zudem ein aktueller Anlass wie zum Beispiel - erneute schwere Drohungen - Entführung - erneutes Stalking - Haftentlassung des Gefährders vorliegen, der die Prognose zulässt, dass es bei ungehindertem Fortgang der Entwicklung zu einem Schadenseintritt zum Nachteil der gefährdeten Person kommen wird. b) Gefährder der Politisch motivierten Kriminalität (Gefährder der PMK) Gefährder der PMK werden als solche ausschließlich in der INPOL (Informationssystem der Polizei) - Fall - Verbunddatei Innere Sicherheit (IFIS) erfasst. Voraussetzung ist, dass eine auf Tatsachen basierende Prognose erstellt werden kann, die inhaltlich die Beschreibung eines Gefährders nach bundeseinheitlichem Definitionssystem für den Bereich PMK und die materiellen Speichervoraussetzungen gemäß § 8 Absatz 5 des Gesetzes über die Aufgaben und Befugnisse des Bundeskriminalamtes begründet . Gefährder ist danach eine Person, zu der bestimmte Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass sie politisch motivierte Straftaten von erheblicher Bedeutung, insbesondere solche im Sinne des § 100 a Strafprozessordnung , begehen wird. Die Erfassung dieser beiden Arten von Gefährdern beruht auf tatsachengestützten Prognosen und erfolgt aufgrund einer einzelfallbezogenen, fachlichen Bewertung. Eine rechtskräftige strafrechtliche Verurteilung ist für die Erstellung solcher Prognosen nicht erforderlich. c) Personen aus Gefährderansprachen Darüber hinaus gibt es Personen (zum Beispiel sogenannte polizeiliche Störer bei Versammlungen, Sportveranstaltungen oder sonstigen Anlässen) zu denen nach Vorliegen der Voraussetzungen der §§ 13, 17 Allgemeines Sicherheits- und Ordnungsgesetz (ASOG Berlin) über die Durchführung einer Gefährderansprache ein Tätigkeitsbericht erstellt und in POLIKS eingestellt wird. Diese Personen werden jedoch nicht als Gefährder in POLIKS oder in IFIS erfasst. 5. Auf Grundlage welcher übermittelter, selbständig offen erhobener, oder selbständig verdeckt erhobener Daten erhebt der Berliner Verfassungsschutz Gefährderinformationen bzw. vergleichbare Informationen? Zu 5.: Der Berliner Verfassungsschutz erhebt Informationen immer dann, wenn sie zur Erfüllung seiner gesetzlichen Aufgaben nach § 5 Absatz 2 VSG Berlin erforderlich sind. Im Übrigen siehe die Antworten auf die Fragen 1 bis 3. Die Grundlage einer Datenerhebung ist von Einzelfall zu Einzelfall verschieden, grundsätzlich kommen sämtliche bereits bekannten Informationen in Betracht. 6. Zu welchen fixen oder flexiblen Zeitpunkten führt der Berliner Verfassungsschutz Gefährderansprachen bzw. vergleichbare Ansprachen durch? Werden neben bevorstehenden Veranstaltungen und Ereignissen auch Wohnsitzänderungen der betroffenen Personen zum Anlass für derartige Ansprachen genutzt? 7. Wie viele Mitarbeiter*innen setzt der Berliner Verfassungsschutz für a) telefonische b) persönliche Gefährderansprachen bzw. vergleichbare Ansprachen ein? Zu 6. und 7.: Siehe Antwort auf Frage 2. 8. Anhand welcher Kriterien entscheidet sich, wann die Polizei und wann der Verfassungsschutz eine Gefährderansprache vornimmt? Zu 8.: Die Durchführung einer Gefährderansprache durch die Polizei Berlin kann gemäß § 17 Absatz 1 ASOG Berlin erfolgen, wenn in Bezug auf einen bestimmten Einzelfall (Versammlungslage, Sportveranstaltung oder individuelle Lebenssituationen) eine Person, die gemäß § 13 ASOG Berlin als Gefahrenverursacher betrachtet werden kann, durch einen an sie gerichteten Appell von rechtswidrigem Verhalten, namentlich der zukünftigen Begehung von Straftaten, abgehalten werden soll. In Fällen störanfälliger Versammlungslagen werden durch die Polizei im Vorfeld Gefährderansprachen mit den Personen geführt, die in jüngerer Vergangenheit (in der Regel wurden die zurückliegenden 12 Monate betrachtet ) im Rahmen vergleichbarer Einsatzlagen durch die Begehung von Gewaltstraftaten in Erscheinung getreten sind. Sie erfolgen, soweit die Einzelfallprüfung unter Einbeziehung aller vorliegenden Erkenntnisse zu der Einschätzung führt, dass die Maßnahme geboten und geeignet erscheint, um ein normenkonformes Verhalten bei den Betroffenen zu initiieren. Abgeordnetenhaus Berlin – 17. Wahlperiode Drucksache 17 / 17 107 3 Soweit die genannten Voraussetzungen vorliegen, kann sich die Gefährderansprache auch an Gefährder der Individualgefährdung oder Gefährder der PMK richten. Im Übrigen siehe Antwort auf Frage 2. 9. Welche faktischen oder rechtlichen Nachteile verbinden sich ggf. mit einer Aufnahme einer Person als Gefährder*in in Dateien des Verfassungsschutzes oder in Dateien der Berliner Polizei? Zu 9.: Die Speicherung als Gefährder bei der Polizei Berlin ist Ergebnis einer gemäß § 42 ASOG Berlin erfolgten Nutzung rechtmäßig erhobener Daten zum Betroffenen . Auf Grundlage der Speicherung selbst werden keine weiteren Datenerhebungen oder andere polizeiliche Eingriffsmaßnahmen begründet. Eine Datenbank zur Erfassung von „Gefährdern“ wird beim Berliner Verfassungsschutz nicht geführt (siehe die Antwort des Senats auf Frage 2 der Schriftlichen Anfrage des Abgeordneten Taş vom 6. Mai 2015, Drs. 17/16172). 10. Welche Rechtsschutzmöglichkeiten haben Betroffene , gegen ihre Aufnahme als Gefährder*innen in Dateien des Verfassungsschutzes oder in Dateien der Berliner Polizei? Zu 10.: Eine Datenbank zur Erfassung von „Gefährdern “ wird beim Berliner Verfassungsschutz nicht geführt . Die Rechte eines von der Verarbeitung personenbezogener Daten durch Behörden und sonstige Stellen Betroffenen , insbesondere zur Anrufung des Berliner Datenschutzbeauftragten , sind in § 7 Berliner Datenschutzgesetz festgelegt. Für die von der Polizei Berlin gespeicherten Daten sind in §§ 48, 50 ASOG Berlin die Berichtigung, Löschung und Sperrung der Daten sowie das Auskunftsrecht des Betroffenen abschließend geregelt. 11. Wie viele Gefährderansprachen der Berliner Polizei richteten sich in den vergangenen drei Jahren und im Jahr 2015 bislang an mutmaßliche Angehörige des linken, des rechten und des religiös-fundamentalistischen Spektrums und ggf. weiterer Spektren (bitte nach Jahren aufgliedern )? Zu 11.: Die Polizei Berlin erfasst die Durchführung von Gefährderansprachen in keiner gesonderten Datenbank . Eine Aussage zu den angeforderten Zahlen ist daher im automatisierten Rechercheverfahren nicht möglich. 12. Wie viele Gefährderansprachen bzw. vergleichbare Ansprachen des Berliner Verfassungsschutzes richteten sich in den vergangenen drei Jahren und im Jahr 2015 bislang an mutmaßliche Angehörige des linken, des rechten und des religiös-fundamentalistischen Spektrums und ggf. weiterer Spektren (bitte nach Jahren aufgliedern)? Zu 12.: Siehe Antwort auf Frage 2. Berlin, den 11. Oktober 2015 In Vertretung Bernd Krömer Senatsverwaltung für Inneres und Sport (Eingang beim Abgeordnetenhaus am 21. Okt. 2015)