Drucksache 17 / 17 300 Schriftliche Anfrage 17. Wahlperiode Schriftliche Anfrage des Abgeordneten Hakan Taş (LINKE) vom 03. November 2015 (Eingang beim Abgeordnetenhaus am 04. November 2015) und Antwort Liefert die Polizei dem Verfassungsschutz Daten über Versammlungen? Die Drucksachen des Abgeordnetenhauses sind bei der Kulturbuch-Verlag GmbH zu beziehen. Hausanschrift: Sprosserweg 3, 12351 Berlin-Buckow · Postanschrift: Postfach 47 04 49, 12313 Berlin, Telefon: 6 61 84 84; Telefax: 6 61 78 28. Im Namen des Senats von Berlin beantworte ich Ihre Schriftliche Anfrage wie folgt: 1. Treffen Berichte zu, dass die Berliner Polizei in mehreren Fällen im Rahmen von so genannten Verlaufsberichten und Gefährdungsbewertungen Daten über Versammlungen , deren Teilnehmer oder Anmelder an den Verfassungsschutz übermittelt hat? Zu 1.: Gefährdungsbewertungen werden durch die Polizei Berlin nur dann übermittelt, wenn nach Betrachtung des Einzelfalls Zuständigkeiten und Belange der für den Verfassungsschutz zuständigen Senatsverwaltung für Inneres und Sport (Abteilung II) betroffen sind bzw. sein könnten. Gefährdungsbewertungen, die wegen potenzieller Gefährdungen mit Bezug zu extremistischen Bestrebungen oder geheimdienstlichen Tätigkeiten erstellt werden , sind grundsätzlich dem Verfassungsschutz Berlin zu übermitteln. Eine Übermittlung von personenbezogenen Daten über mögliche Teilnehmerinnen und Teilnehmer einer Versammlung, über die Anmelderin / den Anmelder hinaus , findet in Gefährdungsbewertungen grundsätzlich nicht statt. Sofern es für die Bewertung der Gefährdungslage oder die polizeiliche Bewältigung des Einsatzanlasses erforderlich erscheint, enthalten Gefährdungsbewertungen in Einzelfällen personenbezogene Daten weiterer Personen, wie bspw. ein von der Anmelderin / vom Anmelder abweichende Versammlungsleiterin / abweichender Versammlungsleiter oder Rednerin / Redner. Abschlussmeldungen von Versammlungslagen erfolgen in Form einer „Formellen Nachricht“ (FN) im Nachrichtenmeldesystem Elektronische Post „EPOST810“ mit dem „Verteiler 013“ (Schlussmeldungen nach bedeutenden Einsätzen). Das Verfassen von Schlussmeldungen nach Einsätzen ist in der Geschäftsanweisung des Stabes des Polizeipräsidenten (GA PPr Stab) Nr. 14/2013 über das „Melden innerhalb der Polizeibehörde sowie an andere Behörden und Institutionen“ geregelt. Zu dieser GA gehören auch die „Arbeitshinweise zu EPOST810“. In der Anlage 1 der Arbeitshinweise ist geregelt, dass bei der Verwendung des EPOST-Verteilers 013 zusätzlich die Senatsverwaltung für Inneres und Sport Abteilung II anzuschreiben ist. Eine Übermittlung personenbezogener Daten im Rahmen von Schlussmeldungen per „Formeller Nachricht “ bei Versammlungen bzw. Veranstaltungen ist grundsätzlich nicht erforderlich. In Ausnahmefällen wird zur Unterscheidung mehrerer gleichzeitig stattfindender Aufzüge der Nachname der Anmelderin / des Anmelders als Unterscheidungsmerkmal in die Abschlussmeldung aufgenommen. Abschlussmeldungen über Versammlungen und Gefährdungsbewertungen werden von der Polizei Berlin an die für den Verfassungsschutz zuständige Senatsverwaltung für Inneres und Sport (Abteilung II) auf Grundlage des § 27 Absatz 1 Satz 2 Verfassungsschutzgesetz Berlin (VSG Berlin) – Übermittlung von Informationen an die Verfassungsschutzbehörde – übersandt. 2. Kann der Senat die Echtheit der am 21.10.2015 auf netzpolitik.org veröffentlichten Gefährdungsbewertungen und Verlaufsberichte der Berliner Polizei etwa über eine Demonstration zur Unterstützung der Seniorenfreizeitstätte „Stille Straße“ oder über eine Demonstration gegen das Bestandsdatengesetz bestätigen? Zu 2.: Ja. Diese Veröffentlichungen gehen unter anderem auf das Datenauskunftsverfahren eines Petenten zurück, dem nach einer Einsichtnahme in ihn betreffende Unterlagen insgesamt fünf Gefährdungsbewertungen im Februar 2015 in Kopie ausgehändigt worden waren. Zwei dieser Gefährdungsbewertungen wurden nunmehr auf der benannten Internetpräsenz veröffentlicht. Abgeordnetenhaus Berlin – 17. Wahlperiode Drucksache 17 / 17 300 2 3. Zu welchem Zweck findet die Datenübermittlung statt und warum ist der Verfassungsschutz an diesen Informationen interessiert? Zu 3.: Aufgabe des Berliner Verfassungsschutzes ist die Sammlung und Auswertung von Informationen über die in § 5 Absatz 2 des Berliner Verfassungsschutzgesetzes (VSG Berlin) genannten extremistischen Bestrebungen und geheimdienstlichen Tätigkeiten. Die Übermittlung von Gefährdungsbewertungen, die wegen potenzieller Gefährdungen mit Bezug zu extremistischen Bestrebungen oder geheimdienstlichen Tätigkeiten erstellt werden , sowie der entsprechenden Verlaufsberichte dient der Erfüllung der gesetzlichen Aufgaben des Verfassungsschutzes . Gefährdungen im Zusammenhang mit Versammlungen müssen dabei nicht notwendigerweise von der Versammlung selbst ausgehen, sondern können auch von außerhalb entstehen, etwa wenn andere Gruppen zu Störaktionen mobilisieren. Auch kommt es vor, dass Themen, die selbst keinerlei extremistische Bezüge aufweisen und zu denen eine breite kritische Öffentlichkeit besteht, von extremistischen Gruppen genutzt werden, um diese zu radikalisieren und in ihrem Sinne umzufunktionieren . 4. Wie werden diese Daten beim Verfassungsschutz weiterverarbeitet? Zu 4.: Gemäß § 27 Absatz 6 VSG Berlin werden die Informationen nach ihrem Eingang unverzüglich daraufhin überprüft, ob sie tatsächlich zur Erfüllung der in § 5 Absatz 2 VSG Berlin genannten Aufgaben erforderlich sind. Polizeiliche Gefährdungsbewertungen und Verlaufsberichte werden in der Regel zu Zwecken der Lagebeurteilung ausgewertet und mit der eigenen Lageeinschätzung abgeglichen. Soweit sich aus den übermittelten Informationen tatsächliche Anhaltspunkte für extremistische Bestrebungen oder geheimdienstliche Tätigkeiten ergeben oder diese zur Erforschung oder Bewertung von gewalttätigen Bestrebungen oder geheimdienstlichen Tätigkeiten erforderlich sind, kann im Einzelfall auch eine Speicherung personenbezogener Daten erfolgen (§ 11 Absatz 1 VSG Berlin). Ergibt die Prüfung, dass die übermittelten Informationen nicht erforderlich sind, werden sie unverzüglich vernichtet, es sei denn, die Trennung von anderen Informationen, die zur Erfüllung der Aufgaben erforderlich sind, kann nicht oder nur mit unvertretbarem Aufwand erfolgen; in diesem Fall sind die Informationen gesperrt und entsprechend zu kennzeichnen. 5. Teilt der Senat die Einschätzung, dass es für die Übermittlung solcher – insbesondere personenbezogener – Daten keine Rechtsgrundlage gibt und wenn ja, wie bewertet der Senat die am 21.10.2015 auf netzpolitik.org veröffentlichten Vorgänge? Wenn nein, was ist nach Auffassung des Senats die Rechtsgrundlage? Zu 5.: Der Senat teilt diese Einschätzung nicht. Datenübermittlungen erfolgen auf der Grundlage der einschlägigen gesetzlichen Übermittlungsvorschriften (siehe die Antwort des Senats auf Frage 4 der Schriftlichen Anfrage Nr. 17/17262 vom 22. Oktober 2015). 6. Von wem und auf welcher Grundlage wird entschieden , ob und in welchem Umfang Informationen über eine Versammlung von der Berliner Polizei an den Verfassungsschutz übermittelt werden? Zu 6.: Sofern erforderlich, werden Gefährdungsbewertungen vom Polizeilichen Staatsschutz des Landeskriminalamts Berlin übermittelt. Dienst- und Führungskräfte wurden hier besonders sensibilisiert, die Übermittlung an den Verfassungsschutz im Einzelfall und den Umfang zu prüfen. Die Übermittlung von Abschlussmeldungen erfolgt auf der Grundlage der in der Beantwortung zu Frage 1 dargestellten Regelungen durch die einsatzführenden Polizeidienststellen in eigener Zuständigkeit. 7. In wie vielen Fällen wurden Informationen über Versammlungen im Rahmen von Gefährdungsbewertungen von der Berliner Polizei an den Verfassungsschutz übermittelt und in wie vielen Fällen davon umfasste die Übermittlung auch personenbezogene Daten des Anmelders oder anderer beteiligter Personen? Zu 7.: Eine Auflistung der betreffenden Versammlungen ist nicht möglich, da die Übermittlung an den Verfassungsschutz nicht in einer gesonderten Statistik erfasst wird. Eine Ablage von Gefährdungsbewertungen erfolgt bei der Polizei Berlin ausschließlich anlass- und nicht personenbezogen . Gefährdungsbewertungen werden für einen Zeitraum von drei Jahren, ab dem Anlass einer Bewertung, abgelegt . Eine gezielte Recherche personenbezogener Daten bzw. eine gesicherte und abschließende Auskunft zum Datenbestand ist immer nur im Wege einer Prüfung des gesamten Datenbestandes und des individuellen Einzelfalles möglich. 8. In wie vielen Fällen wurden Informationen über Versammlungen im Rahmen von Verlaufsberichten von der Berliner Polizei an den Verfassungsschutz übermittelt und in wie vielen Fällen davon umfasste die Übermittlung auch personenbezogene Daten des Anmelders oder anderer beteiligter Personen? Zu 8.: Eine Aussage zu der angeforderten Anzahl ist nicht möglich, da die Übermittlung statistisch nicht erfasst wird. Abgeordnetenhaus Berlin – 17. Wahlperiode Drucksache 17 / 17 300 3 9. Wie bewertet der Senat die Auswirkungen einer solchen Übermittlungspraxis auf das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit , insbesondere unter dem Aspekt eines möglichen Abschreckungseffekts auf potentielle Teilnehmerinnen und Teilnehmer an politischen Versammlungen ? Zu 9.: Es ist ein erklärtes Ziel und Aufgabe der Polizei Berlin, das Recht der Bürgerinnen und Bürger, sich friedlich und ohne Waffen zu versammeln, zu gewährleisten. Eine rechtmäßige Datenübermittlung in Einzelfällen an den Verfassungsschutz Berlin, gemäß der in Frage 1 benannten rechtlichen Grundlagen, steht mit dem Recht auf Versammlungsfreiheit im Einklang und lässt keine negativen Auswirkungen auf potentielle Teilnehmerinnen und Teilnehmer erwarten. Berlin, den 20. November 2015 In Vertretung Bernd Krömer Senatsverwaltung für Inneres und Sport (Eingang beim Abgeordnetenhaus am 24. Nov. 2015)