Drucksache 17 / 17 714 Schriftliche Anfrage 17. Wahlperiode Schriftliche Anfrage der Abgeordneten Fabio Reinhardt und Susanne Graf (PIRATEN) vom 12. Januar 2016 (Eingang beim Abgeordnetenhaus am 13. Januar 2016) und Antwort Situation unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge in Berlin (VII) - Methoden zur Altersfeststellung Die Drucksachen des Abgeordnetenhauses sind bei der Kulturbuch-Verlag GmbH zu beziehen. Hausanschrift: Sprosserweg 3, 12351 Berlin-Buckow · Postanschrift: Postfach 47 04 49, 12313 Berlin, Telefon: 6 61 84 84; Telefax: 6 61 78 28. Im Namen des Senats von Berlin beantworte ich Ihre Schriftliche Anfrage wie folgt: 1. Bei wie vielen unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen wurden in den Jahren 2010 bis 2014 und wenn vorliegend 2015 medizinische Gutachten zur Altersfeststellung angeordnet? a) Bei wie vielen wurde dadurch die Volljährigkeit festgestellt? Zu 1.: Von der für Jugend zuständigen Senatsverwaltung / Landesjugendamt in den Jahren 2010 - 2015 in Auftrag gegebene Altersgutachten: 2010 2011 2012 2013 2014 2015 Aufträge insgesamt 33 59 47 31 31 39 Ergebnis volljährig 21 41 34 25 27 33 2. Kann der Senat, wie in der Stellungnahme der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie (DGKJP) vom 02.11.2015 berichtet, bestätigen, dass in Berlin medizinische Verfahren wie Röntgen, Computertomographie und Genitaluntersuchungen zur Altersfeststellung bei unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen angewendet wurden oder werden? a) Wenn ja, durch wen? b) Wenn ja, auf welcher rechtlichen Grundlage wurden oder werden diese Untersuchungen angeordnet? 5. Wer führt die Untersuchungen durch? a) Welche Qualifikation/en besitzt/besitzen die betreffende /n Person/en? 8. Kann der Senat die Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage der Bundestagsabgeordneten Luise Amtsberg zur Situation unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge bestätigen, dass in Berlin auch radiologische Untersuchungen des Gebisses angefertigt werden (vgl. Frage 109, Anfrage vom 15.07.2015)? a) Wenn ja, wo und durch wen werden die genannten Untersuchungen durchgeführt? b) Welche Qualifikation/en besitzt/besitzen die betreffende /n Person/en? Zu 2., 5. und 8.: In Berlin werden im Rahmen der Altersdiagnostik die von der Arbeitsgemeinschaft für forensische Altersdiagnostik (AGFAD) als Qualitätsstandards empfohlenen Untersuchungen eingesetzt, sie entsprechen bundesweitem und wissenschaftlich neuestem Standard. Vor Beginn der Untersuchung werden die zu Untersuchenden im Beisein einer Dolmetscherin oder eines Dolmetschers über den Ablauf der Untersuchung informiert und ihre Einwilligung abgefragt. Es handelt sich zunächst um eine Ganzkörperuntersuchung zum Ausschluss von hormonellen Erkrankungen und/oder Entwicklungsverzögerungen , da ein Vorliegen einer solchen Erkrankung eine Interpretation der Röntgenaufnahmen sehr erschwert und damit eine Altersdiagnostik unmöglich machen würde. Liegen keine Hinweise auf hormonelle Erkrankungen und/oder Entwicklungsverzögerungen vor, erfolgt ein OPG (Orthopantomogramm/Panoramaschichtaufnahme der Zähne) zur Beurteilung des Zahnstatus und der Weisheitszahnentwicklung . Je nach Ergebnis des OPG erfolgt dann in einzelnen Fällen ein Röntgen der Handwurzelknochen . Die Computertomographie wird in Berlin in diesen Fällen nicht angewendet. Die Untersuchungsschritte bauen aufeinander auf, so dass die jeweils weiteren Untersuchungen nach Erhebung des Zahnstatus nur dann durchgeführt werden, wenn noch keine eindeutige medizinische Feststellung möglich ist. Abgeordnetenhaus Berlin – 17. Wahlperiode Drucksache 17 / 17 714 2 Die Ganzkörperuntersuchung wird gleichgeschlechtlich durch einen Facharzt oder eine Fachärztin für Rechtsmedizin durchgeführt, die Röntgenuntersuchung von Radiologen oder Radiologinnen. Die Begutachtung der Bilder erfolgt durch die Sachverständigen des gemeinsamen Centrums für forensische Altersdiagnostik der Charité und des Universitätsklinikums Hamburg- Eppendorf (UKE). Die Personen sind Fachärzte und Fachärztinnen mit langjähriger praktischer Erfahrung auf dem Gebiet der Altersschätzung. Medizinische Altersgutachten werden von der für Jugend zuständigen Senatsverwaltung und den Berliner Familiengerichten in Auftrag gegeben. Das Landesjugendamt beauftragt im Rahmen der Verfahren vor dem Verwaltungsgericht, wenn die qualifizierte Altersschätzung im Rahmen des Aufnahmegespräches zu dem Ergebnis kommt, dass Volljährigkeit vorliegt und die betreffende Person Klage gegen ihre Entlassung aus der Inobhutnahme erhebt oder wenn eine Person in einem anderen europäischen Land mit volljährigem Geburtsdatum erkennungsdienstlich erfasst wurde, das Landesjungenamt bei der Aufnahme aber von Minderjährigkeit ausgegangen ist. Rechtsgrundlage ist §§ 60 ff SGB I. Gemäß § 62 SGB I hat sich eine Person, die eine Sozialleistung (hier: Jugendhilfe ) beantragt oder erhält, auf Verlangen des zuständigen Leistungsträgers (hier: die für Jugend zuständige Senatsverwaltung) ärztlichen und psychologischen Untersuchungsmaßnahmen zu unterziehen, soweit diese für die Entscheidung über die Leistung erforderlich sind. 3. Erfolgt vor den Röntgenverfahren und vor der Anwendung der Computertomographie eine schriftlich dokumentierte Aufklärung bezüglich der Risiken der Methoden ? 4. Ist während der Aufklärung über die Risiken der Untersuchung und während der Untersuchung ein staatlich anerkannte/-r Dolmetscher/-in anwesend? Zu 3. und 4.: Vor Durchführung der Zahn- und Handröntgenuntersuchungen erfolgen regelmäßige Aufklärungen durch die Radiologen, die von den staatlich anerkannten Dolmetschern und Dolmetscherinnen übersetzt werden. Die Computertomographie wird in Berlin in diesen Fällen nicht angewandt. Der Dolmetscher oder die Dolmetscherin ist während des ganzen Verfahrens anwesend . 6. Welche konkreten Nachteile ergeben sich für den Betroffenen, wenn ein unbegleiteter minderjähriger Flüchtling seine Zustimmung zu bestimmten Methoden der Altersfeststellung, insb. zur Begutachtung einzelner Körperregionen verweigert? Zu 6.: Da die medizinische Untersuchung zur Feststellung der Voraussetzungen für die vom Kläger oder der Klägerin begehrte Inobhutnahme notwendig ist, ist er oder sie gemäß § 62 SGB I grundsätzlich verpflichtet, sich dieser Untersuchung zu unterziehen. Sollte die Untersuchung durch sein oder ihr schuldhaftes Verhalten nicht durchgeführt werden können bzw. sollte diese verweigert werden, ohne dass hierfür ein wichtiger Grund im Sinne des § 65 SGB I vorliegt, handelt es sich um einen Verstoß gegen die Mitwirkungspflicht. Über die Folgen fehlender Mitwirkung gem. § 66 SGB I werden die Kläger und Klägerinnen ausführlich belehrt und darauf hingewiesen, dass die Inobhutnahme ohne Mitwirkung beendet werden kann. 7. Inwiefern wird dem Umstand Rechnung getragen, dass Methoden zur Altersfeststellung bei Traumatisierten einen potentiellen Risikofaktor für eine Retraumatisierung darstellen (vgl. Bericht des Tagesspiegels vom 01.02.2013, des Deutschen Ärzteblattes vom 02.05.2014 und der TAZ vom 24.09.2015)? 9. Ist dem Senat bekannt, ob geplant ist, die derzeit angewandten Methoden durch weniger invasive Methoden zu ersetzen (vgl. hierzu Beschluss des 117. Deutschen Ärztetages 2014)? Zu 7. und 9.: Um das Risiko von Angstanfällen durch die Enge beim Einsatz von Magnetresonanztomografie (MRT)-Untersuchungen auszuschließen, wird dieses Verfahren seit Durchführung der Begutachtungen durch das gemeinsame Centrum für forensische Altersdiagnostik der Charité und des UKE 2014 nicht mehr angewandt, um Retraumatisierungen zu verhindern. Die Untersuchung wird durch erfahrene Fachärztinnen bzw. Fachärzte durchgeführt, sodass Anzeichen von Retraumatisierungsprozessen auch während des Untersuchungsverlaufs erkannt werden können. Bei den Methoden handelt es sich um die vor der Arbeitsgemeinschaft für forensische Altersdiagnostik (AG- FAD) als Qualitätsstandards empfohlene Untersuchung. Andere Methoden sind wissenschaftlich und vor dem Berliner Verwaltungsgericht nicht anerkannt. Berlin, den 02. Februar 2016 In Vertretung Sigrid Klebba Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Wissenschaft (Eingang beim Abgeordnetenhaus am 02. Feb. 2016)