Drucksache 17 / 18 046 Schriftliche Anfrage 17. Wahlperiode Schriftliche Anfrage des Abgeordneten Tom Schreiber (SPD) vom 10. Februar 2016 (Eingang beim Abgeordnetenhaus am 16. Februar 2016) und Antwort Rechtsextremismus – Irre Reichsbürger in Berlin Die Drucksachen des Abgeordnetenhauses sind bei der Kulturbuch-Verlag GmbH zu beziehen. Hausanschrift: Sprosserweg 3, 12351 Berlin-Buckow · Postanschrift: Postfach 47 04 49, 12313 Berlin, Telefon: 6 61 84 84; Telefax: 6 61 78 28. Im Namen des Senats von Berlin beantworte ich Ihre Schriftliche Anfrage wie folgt: 1. Seit wann sind die sogenannten Reichsbürger in Berlin aktiv? Zu 1.: Bereits Mitte der 1980er Jahre trat in Berlin eine so genannte „Kommissarische Reichsregierung“ in Erscheinung. Diese war in Ideologie und Agitation (Aufstellung einer so genannten „Reichsregierung“ mit „Ministern “ und Öffentlichkeitsarbeit) einer der Vorläufer der heutigen Reichsbürgerbewegung. 2. Wo liegen die inhaltlichen bzw. ideologischen Schwerpunkte ihrer Aktivitäten? Zu 2.: Üblicherweise fallen „Reichsbürgerinnen“ und „Reichsbürger“ mit querulatorischen Schreiben zumeist an Behörden und Gerichte auf. Sie leugnen darin die legale Existenz der Bundesrepublik Deutschland und begründen dies unter anderem mit nationaler und internationaler Rechtsprechung und angeblich fehlender internationaler Verträge, mit denen die Existenz des Deutschen Reichs erst hätte beendet werden müssen. In der Argumentation der Reichsbürgerbewegung sind auch staatliche Institutionen und ihre Vertreterinnen und Vertreter (zum Beispiel Gerichtsvollzieherinnen und Gerichtsvollzieher, Richterinnen und Richter, Finanzbeamtinnen und Finanzbeamte) für einen nicht-existenten Staat und somit illegal tätig. Diese ideologische Kernkomponente wird teilweise durch revisionistische, antisemitische und den Nationalsozialismus verherrlichende Elemente angereichert. „Reichsbürgerinnen“ und „Reichsbürger“ sind zum Teil mit rechtsextremistischen Thesen bekannt geworden. Im Internet werden in Einzelfällen in Foren oder auf Homepages anonym antisemitische und rechtsextremistische Thesen von Personen verbreitet, deren Nähe zu der Reichsbürgerbewegung naheliegt. 3. Wie entwickelte sich das Anhängerpotential der Bewegung in den letzten fünf Jahren in Berlin? Zu 3.: Im Laufe der Jahre hat in Berlin die Zahl der Personen deutlich zugenommen, die sich mit umfangreichen Schreiben an Behörden wenden, um entweder ihren Austritt aus dem bisweilen als „BRDDR GmbH“ verunglimpften Staat zu erklären oder mit den für die Szene typischen pseudojuristischen Ausführungen die Zahlungen von Steuern oder Bußgeldern zu verweigern. Absurde „Beweise“ sollen belegen, dass die angeschriebenen Behörden nicht hoheitlich handeln könnten, da sie aufgrund fehlender legaler Grundlagen gar nicht existierten. 4. Gab es Infostände der Reichsbürgerbewegung in Berlin? Wenn ja, wo? Zu 4.: Es wurden keine Info-Stände von „Reichsbürgerinnen “ und „Reichsbürgern“ angemeldet oder bekannt. 5. Welche öffentlichen Veranstaltungen wurden seitens der Reichsbürger in den letzten fünf Jahren in Berlin durchgeführt? (Aufstellstellung mit Orten erbeten.) Zu 5.: Versammlungen und Aufzüge unter freiem Himmel werden in der stadtweiten Veranstaltungsdatenbank (VDB) der Polizei Berlin erfasst. Dort werden die allgemeinen Veranstaltungsdaten sowie personenbezogene Daten von Anmelderinnen und Anmeldern und gegebenenfalls verantwortlichen Personen gespeichert. Eine phänomenbezogene Erfassung erfolgt nicht, so dass eine entsprechende Recherche nicht möglich ist. Bekannt ist eine Daueraktion eines „Reichsbürgers“ vor dem Reichstagsgebäude. Im Weiteren nehmen „Reichsbürgerinnen“ und „Reichsbürger“ an Demonstrationen teil, auf denen zum Sturz der Regierung oder zum „Frieden mit Russland“ aufgerufen wird. Sie treten dabei nicht als Anmelderinnen und Anmelder auf oder dominieren die Veranstaltungen. Abgeordnetenhaus Berlin – 17. Wahlperiode Drucksache 17 / 18 046 2 6. Wie schätzt der Berliner Senat die Gewaltbereitschaft dieser Gruppierung ein? Zu 6.: Die Szene der Reichsbürger ist nicht gewaltorientiert . Im Übrigen siehe Antwort zu Frage 9. 7. Wie viele Strafanzeigen wurden in den letzten fünf Jahren konkret gegen „Reichsbürger“ in Berlin gestellt? Zu 7.: Grundlage für die Beantwortung der Anfrage bildet der „Kriminalpolizeiliche Meldedienst in Fällen Politisch motivierter Kriminalität“ (KPMD-PMK). Dabei handelt es sich entgegen der „Polizeilichen Kriminalstatistik “ (PKS) um eine Eingangsstatistik. Die Fallzählung erfolgt tatzeitbezogen, unabhängig davon, wann das Ermittlungsverfahren an die Staatsanwaltschaft abgegeben wurde. Die folgenden statistischen Angaben stellen keine Einzelstraftaten der Politisch motivierten Kriminalität (PMK) dar, sondern es handelt sich bei der Darstellung um Fallzahlen. Ein Fall bezeichnet jeweils einen Lebenssachverhalt in einem engen räumlichen und zeitlichen Zusammenhang mit identischer oder ähnlicher Motivlage, unabhängig von der Zahl der Tatverdächtigen, Tathandlungen , Anzahl der verletzten Rechtsnormen oder der eingeleiteten Ermittlungsverfahren. Die Fallzahlen der PMK unterliegen bis zum Abschluss der Ermittlungen – gegebenenfalls bis zum endgültigen Gerichtsurteil – einer Bewertung gemäß der angenommenen Tatmotivation. Darüber hinaus können Fälle der PMK erst nach dem Statistikschluss bekannt und entsprechend gezählt werden. Deshalb kommt es sowohl unter- als auch überjährig immer wieder zu Fallzahlenänderungen . Um die Fallzahlen übersichtlich und in Teilbereichen vergleichbar darzustellen, erfolgt die Unterteilung in die Deliktarten Terrorismus, Gewaltdelikte, Propagandadelikte und sonstige Delikte. Gewaltdelikte sind Tötungsdelikte , Körperverletzungen, Brand- und Sprengstoffdelikte, Landfriedensbrüche, Gefährliche Eingriffe in den Schiffs- , Luft-, Bahn- und Straßenverkehr, Freiheitsberaubung, Raub, Erpressung und Widerstands- sowie Sexualdelikte einschließlich der Versuche. Propagandadelikte sind Verstöße gegen den § 86 Strafgesetzbuch (StGB/ Verbreiten von Propagandamitteln verfassungswidriger Organisationen ) und gegen den § 86a StGB (Verwenden von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen). Die sonstigen Delikte beinhalten alle weiteren Strafrechtsnormen des Strafgesetzbuches sowie der Strafrechtsnebengesetze. Laufende Nummer Zähldelikt Tatzeit Straße Ortsteil Tatgruppierung 2012 1 § 130 StGB 11.02.2012 Brunowstraße Tegel Reichsbürgerbewegung 2 § 130 StGB 24.02.2012 Oranienburger Straße Mitte Reichsbürgerbewegung 3 § 130 StGB 07.03.2012 Tucholskystraße Mitte Reichsbürgerbewegung 4 § 130 StGB 11.03.2012 Behrenstraße Mitte Reichsbürgerbewegung 5 § 130 StGB 27.03.2012 Swinemünder Straße Gesundbrunnen Reichsbürgerbewegung 6 § 130 StGB 30.03.2012 Bessemerstraße Schöneberg Reichsbürgerbewegung 7 § 130 StGB 06.04.2012 Boppstraße Kreuzberg Reichsbürgerbewegung 8 § 130 StGB 17.04.2012 Wiclefstraße Moabit Reichsbürgerbewegung 9 § 130 StGB 19.04.2012 Pankower Allee Reinickendorf Reichsbürgerbewegung 10 § 130 StGB 20.04.2012 Dannenwalder Weg Märkisches Viertel Reichsbürgerbewegung 11 § 130 StGB 21.04.2012 Brunnenstraße Gesundbrunnen Reichsbürgerbewegung 12 § 130 StGB 24.04.2012 Lynarstraße Wedding Reichsbürgerbewegung 13 § 130 StGB 08.05.2012 Jagowstraße Spandau Reichsbürgerbewegung 14 § 130 StGB 08.05.2012 Buttmannstraße Gesundbrunnen Reichsbürgerbewegung 15 § 130 StGB 09.05.2012 Neuendorfer Straße/ Jagowstraße Spandau Reichsbürgerbewegung 16 § 130 StGB 11.05.2012 Jansastraße/ Sonnenallee Neukölln Reichsbürgerbewegung Abgeordnetenhaus Berlin – 17. Wahlperiode Drucksache 17 / 18 046 3 Laufende Nummer Zähldelikt Tatzeit Straße Ortsteil Tatgruppierung 17 § 130 StGB 15.05.2012 Hussitenstraße Gesundbrunnen Reichsbürgerbewegung 18 § 130 StGB 02.06.2012 Platz der Luftbrücke Tempelhof Reichsbürgerbewegung 19 § 130 StGB 05.06.2012 Usedomer Straße Gesundbrunnen Reichsbürgerbewegung 20 § 130 StGB 11.06.2012 Müllerstraße/ Reinickendorfer Straße Wedding Reichsbürgerbewegung 21 § 130 StGB 11.06.2012 Brunnenstraße Gesundbrunnen Reichsbürgerbewegung 22 § 130 StGB 11.06.2012 Krumme Straße Charlottenburg Reichsbürgerbewegung 23 § 130 StGB 15.06.2012 Schillerstraße Charlottenburg Reichsbürgerbewegung 24 § 130 StGB 26.06.2012 Esplanade Pankow Reichsbürgerbewegung 25 § 130 StGB 26.06.2012 Ruheplatzstraße Wedding Reichsbürgerbewegung 26 § 130 StGB 04.07.2012 Lortzingstraße Gesundbrunnen Reichsbürgerbewegung 27 § 130 StGB 06.07.2012 Admiralstraße/ Prinzenstraße/ Lobeckstraße/ Ruhlsdorfer Straße Kreuzberg Reichsbürgerbewegung 28 § 130 StGB 06.07.2012 Flottwellstraße Tiergarten Reichsbürgerbewegung 29 § 130 StGB 07.07.2012 Columbiadamm Neukölln Reichsbürgerbewegung 2013 30 § 26 VersG 13.09.2013 Platz der Republik Tiergarten Reichsbürgerbewegung 31 § 113 StGB 13.09.2013 Platz der Republik Tiergarten Reichsbürgerbewegung 32 § 113 StGB 13.09.2013 Platz der Republik Tiergarten Reichsbürgerbewegung 2014 33 § 86a StGB 23.04.2014 Willy-Brandt-Straße Tiergarten Reichsbürgerbewegung 34 § 187 StGB 04.08.2014 Klemkestraße Reinickendorf Reichsbürgerbewegung 2015 35 § 86a StGB 28.06.2015 Rotkamp Neu-Hohenschönhau - sen Reichsbürgerbewegung 36 § 113 StGB 28.06.2015 Ostseestraße Prenzlauer Berg Reichsbürgerbewegung StGB - Strafgesetzbuch VersG - Versammlungsgesetz 8. Wie viele polizeibekannte Straftäter sind Mitglied der Reichsbürgerbewegung Zu 8.: Da „Reichsbürgerinnen“ beziehungsweise „Reichsbürger“ sowie „Reichsbewegungen“ bei der Polizei Berlin keiner gesonderten statistischen Erfassung unterliegen, können dazu keine validen Angaben gemacht werden. 9. Gab es in der Vergangenheit Widerstandshandlungen von Mitgliedern der Reichsbürgerbewegung gegenüber der Berliner Polizei? Abgeordnetenhaus Berlin – 17. Wahlperiode Drucksache 17 / 18 046 4 Zu 9.: Wiederholt kam es durch Mitglieder der Reichsbürgerbewegung zu verbalen und körperlichen Widerstandshandlungen gegenüber Behördenvertreterinnen und Behördenvertretern sowie Polizeibeamtinnen und Polizeibeamten. Diese Widerstandshandlungen ereigneten sich dabei im Rahmen polizeilicher Einsatzlagen, aber auch bei Unterstützungsersuchen anderer Behörden, beispielsweise bei Vollstreckungsmaßnahmen durch Gerichtsvollzieherinnen oder Gerichtsvollzieher sowie Mitarbeiterinnen oder Mitarbeiter der Finanzbehörden. 10. Wurden bisher Mitglieder der Reichsbürgerbewegung zu Haftstrafen verurteilt? Wenn ja, wie viele und in welcher Höhe? Zu 10.: Eine diesbezügliche statistische Erfassung erfolgt weder durch die Gerichte noch durch die Staatsanwaltschaften . 11. Sind die Voraussetzungen für ein Verbot der Reichsbürgerbewegung gegeben? Zu 11.: Gesetzliche Voraussetzung für ein Vereinsverbot ist, dass die Zwecke des Vereins oder seine Tätigkeit den Strafgesetzen zuwiderlaufen oder er sich gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder den Gedanken der Völkerverständigung richtet. Bei der Beurteilung vereinsrechtlicher Maßnahmen spielt auch die Frage der Zurechnung eine Rolle; das heißt, ob mögliche vereinsverbotsrechtliche Sachverhalte einem Verein und nicht nur auftretenden Einzelpersonen zugerechnet werden können. Ob Strukturen innerhalb der üblicherweise unstrukturierten Reichsbürgerbewegung verbotsfähig sein könnten, wird regelmäßig geprüft. Der Senat bittet um Verständnis, dass weder hinsichtlich möglicher vereinsrechtlicher Ermittlungen noch zu Einzelheiten verbotsrechtlicher Verfahren, auch im Rahmen parlamentarischer Anfragen, Auskünfte erteilt werden können. Berlin, den 04. März 2016 In Vertretung Bernd Krömer Senatsverwaltung für Inneres und Sport (Eingang beim Abgeordnetenhaus am 11. Mrz. 2016)